Wälzer-Alarm
Vor uns steht eine Saison der Riesenromane. Und sie beginnt schon nächste Woche. Über Faszination und Schrecken von dicken Büchern.
Von Daniel Graf (Text) und Benedikt Rugar (Illustration), 07.01.2022
Nun also rollt die Welle los. Kommenden Dienstag erscheint der neue 900-Seiter von Hanya Yanagihara zeitgleich mit der amerikanischen Originalausgabe auf Deutsch. Gleichentags, ultrakurzfristig und mit viel Geheimniskrämerei angekündigt, der neue Roman von Michel Houellebecq – mit seinen gut 600 Seiten neben Yanagihara schon beinah ein Kümmerling.
Es folgen ab Anfang Februar: Joshua Cohens Monumentalroman «Witz» (900 Seiten), der neue Knausgård (800), Mariana Enríquez (830), Goliarda Sapienza (900), Albrecht Selge (800). Scheuen die etwa alle die 1000er-Marke?
Bei Wolfram Lotz hingegen scheint das bloss Tarnung. Die 800 Seiten von «Heilige Schrift I», Erscheinungstermin April, tragen eine vielsagende Zahl im Titel. Und der Klappentext verrät: «Ein Jahr, 2700 Seiten». Wer dereinst also noch auf Nachschub wartet, kann sich die Zeit mit dem neuen Roman von Sibylle Berg verkürzen. «RCE» kommt zwar erneut auf den 600-Seiten-Umfang von «GRM», doch Bergs «Bauplan für die Weltrevolution», wie das neue Buch im Untertitel heissen soll, wirkt neben den Bauten der Frühjahrskollegen fast wie ein Flugblatt.
Doorstops, Türstopper also, nennt man die Riesenromane im anglofonen Raum. In deutscher Redensart lässt sich für die neue Saison schon einmal festhalten: Mit den Ziegelsteinen, die in den nächsten Wochen in die Buchläden kommen, liessen sich die Türen auch gleich zumauern. Es wälzert jedenfalls was auf uns zu.
In den nächsten Wochen wird also auch wieder die brachiale Poesie der Gattungsnamen erklingen: Schwarte, Schinken, Wälzer. Lauter Bezeichnungen, die längst ein reclaiming durchgemacht haben und von Literaturfans beinahe so liebevoll verwendet werden wie der «Wal», die sanftmütigste aller Benennungen für literarische Kolosse und auch die literaturgeschichtlich bedeutungsschwerste – schliesslich funktioniert sie auch als Running Gag von Herman Melvilles «Moby-Dick» (900 Seiten) bis zu Stefano D’Arrigos 1500-Seiten-Roman «Horcynus Orca».
Fast schwingt ein wenig Sündenstolz mit, wenn die Leute sich in Internetforen nach ihren Lieblings-doorstops fragen oder einander dicke Wälzer ans Herz legen. Die Faszinationskraft der Romankolosse jedenfalls scheint ungebrochen. Und das, obwohl das monumentale Buch auf den ersten Blick völlig unzeitgemäss erscheint.
Aber eben: nur auf den ersten. So manche scheinbar plausiblen Gedanken über das Wesen des Wälzers erweisen sich bei näherem Hinsehen als Mythen und Vorurteile: dünne Thesen über dicke Bücher.
Darum folgen hier sieben naheliegende Annahmen und die Frage, was wirklich dran ist – als Einladung zum Mit- und Weiterdenken.
1. Der Wälzer passt nicht mehr in unsere Zeit
Natürlich spricht im Grunde alles gegen das dicke Buch: das Gefühl von ständiger Zeitnot, Terminstress und Überforderung, unsere dissoziierte Aufmerksamkeit im Smartphone-Zeitalter, die viel beklagten abnehmenden Konzentrationsspannen.
Vermutlich lautet die Antwort: gerade deshalb.
Gerade weil das Lebensgefühl in den westlichen Wohlstandszonen in einer Art Dauergestresstsein besteht, ist der Wälzer ein sichtbarer Einspruch gegen die Kurzatmigkeit. Gerade weil die Lektüre in den grösstmöglichen Kontrast zum schnellen Abhaken einer Checklist tritt, wird sie als quality time gegen das alltägliche Effizienzdenken gesetzt. Und gerade weil unser Leben immer digitaler wird, bietet das dicke Buch, im wahrsten Sinne, ein Gegengewicht zum zweidimensionalen Screen.
Wie der Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase gezeigt hat, machen dicke Wälzer die Materialität des Buches besonders erfahrbar: als Bewegung durch einen dreidimensionalen Textraum. Stärker noch als sonst ist das Durchschreiten eines erzählerischen Kosmos hier nicht nur Kopfsache, sondern eben auch eine physische Erfahrung; vielleicht mit einer sportlichen Komponente versehen, vielleicht auch einfach das bewusste Zurücklegen eines Weges durch ein Textuniversum.
Die Generation der Digital Natives ist jedenfalls auch die Generation «Harry Potter» (oder die Generation «Tintenherz»). Keine Autorin dürfte mehr Menschen zum Lesen dicker Bücher gebracht haben als Joanne K. Rowling. Und jugendliche Leser der vergangenen Jahrzehnte sind mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit schon früher mit dem besonderen Charme ziegelsteindicker Romane in Berührung gekommen als ihre Mütter und Grossväter.
2. Der Wälzer ist die Liga «Haupt- und Lebenswerk»
Es ist die Klischeevorstellung schlechthin: das eine monumentale Buch als Summe eines ganzen Schriftstellerlebens. Wenn schon Wälzer, dann muss es auch ein ganzes Lebens- oder wenigstens das Hauptwerk sein: Prousts «Recherche», Tolstois «Krieg und Frieden».
30 Jahre lang hat William H. Gass an seinem Roman «Der Tunnel» gearbeitet, 18 Jahre lang Péter Nádas an dem 1700-Seiten-Roman «Parallelgeschichten». Aber bereits bei ihm geht die Vorstellung von dem einen Opus magnum nicht auf: Schon davor hatte Nádas ein 1300-Seiten-Werk vorgelegt. Und danach noch mal eines.
Die Gegenwartsliteratur denkt ohnehin nicht daran, sich beim Monumentalformat aufs krönende Alterswerk zu beschränken. Der österreichische Autor Philipp Weiss ist gleich bei seinem Debüt mit 1000 Seiten eingestiegen (und hat darin Nachahmer gefunden). Hanya Yanagihara lässt sieben Jahre nach ihrem ersten 900-Seiten-Roman jetzt den zweiten folgen. Und wenn Dietmar Dath einmal in einem Kalenderjahr deutlich weniger als 1000 Seiten raushaut, fängt man ernsthaft an, sich Sorgen zu machen (sofern man über seine Publikationen halbwegs den Überblick behält).
So sind auch die Riesenromane der kommenden Wochen auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen.
Knausgård erweist sich, wie Yanagihara, in Sachen Megalomanie als Wiederholungstäter. Houellebecq erweist sich als Houellebecq. Mariana Enríquez schreibt sich mit ihrem vierten Roman endgültig in die erste Reihe der lateinamerikanischen Literatur. Wolfram Lotz, der sich als einer der wichtigen jüngeren Dramatiker einen Namen gemacht hat, knüpft bei seinem atemlosen Ausflug in die Prosa offenbar an die Gegenwartsprotokolle von Rainald Goetz an. Und mit Joshua Cohens «Witz» erscheint – nach jahrelanger Übersetzungsarbeit von Ulrich Blumenbach – tatsächlich so etwas wie das Hauptwerk von einem der herausragenden Autoren des 21. Jahrhunderts endlich auf Deutsch. Auch wenn das Wort «Hauptwerk» bei einem Schriftsteller mit Jahrgang 1980 und ellenlanger Publikationsliste etwas seltsam klingt.
Ästhetisch wie bibliografisch: Der Wälzer passt in keine Schublade.
3. Das ist doch bloss ein Männerding!
Der Blick in die Literaturgeschichte lässt wenig Interpretationsspielraum: Es neigen offenbar vor allem Männer dazu, sich selbst ein Denkmal zu errichten. Schwerer Verdacht also: Ist das Monumentalwerk am Ende nur eine sublimierte Potenzgeste? Meine Frau, mein Haus, mein 1000-Seiter?
Mit Blick auf den Kanon der Weltliteratur kann man durchaus versucht sein, den Riesenroman als eine Form des literarischen manspreading zu begreifen. Zwei Fehler sollte man dabei allerdings nicht machen.
Erstens: Es wäre ein ziemliches Spiessbürger-Argument, ausgerechnet Künstlern vorzuwerfen, etwas Grosses und Bleibendes schaffen zu wollen. Das Problem liegt nicht im individuellen Schaffensdrang, sondern in gesellschaftlichen und literaturbetrieblichen Rollenbildern, die das Grosse und Bedeutende aufseiten der Männer verorten und deshalb vor allem ihnen den Platz fürs Opulente zugestehen.
Zweitens, kleine Paradoxie: Wer das Argument überstrapaziert und klagend «lauter Männer!» ruft, ist selbst dabei, die Frauen aus dem Bild zu schieben – und ihren Anteil am Monumentalwerkebau zu unterschlagen.
Dabei sind «Die Jakobsbücher» von Olga Tokarczuk oder Elena Ferrantes Neapel-Tetralogie nur die prominentesten Beispiele der vergangenen Jahre. Die deutsche Autorin Emine Sevgi Özdamar hat kürzlich einen Roman vorgelegt, den man tatsächlich einmal ohne Wenn und Aber als Opus magnum bezeichnen kann: 800 Seiten, 20 Jahre Schaffenszeit. Und mit Blick auf die Grosswerke des Frühjahrs ist der Frauenanteil schwer zu übersehen: Mariana Enríquez, Goliarda Sapienza, Hanya Yanagihara. Letztere übrigens, so viel kann man verraten, wird auch mit dem neuen Buch den heteronormativen Rahmen hinter sich lassen.
Dass man aber den künstlerischen Grössenwahn künftig primär bei den Frauen suchen wird, steht einstweilen nicht zu befürchten. Schliesslich gibt es noch Autoren wie Michael Lentz. Der hat 2018 einen 1000-Seiter namens «Schattenfroh» in die Welt entlassen – und weil diese die Komplexität des Buches nicht angemessen zu würdigen wusste, zwei Jahre später noch ein Erklärbuch nachgereicht. Fast könnte man sagen: eine Art Doktorarbeit zum eigenen Roman. Dissertationen macht Lentz jedoch nicht unter 1200 Seiten.
4. Dicke Bücher machen einsam
Lesen ist eine exklusive Tätigkeit, es fordert unsere Aufmerksamkeit ganz. Gerade darin liegt sein Versprechen.
Dass jeder Wälzer 100 Tage Einsamkeit bedeutet, wäre trotzdem ein Irrtum. Nicht nur, weil uns virtuos gezeichnete Figuren beim Lesen so real erscheinen, als wären sie Mitmenschen. Sondern weil die Wale unter den Büchern umso mehr das Soziale beim Lesen befördern.
Von der Fantasy-Lesegruppe bis zu den Foren der David-Foster-Wallace-Nerds zeigt sich erstaunlich konvergent: Extreme Lektüreerfahrungen schaffen Kultbücher – und sie eignen sich in besonderer Weise dazu, mit anderen geteilt zu werden.
Das geht, selbst im Highbrow-Segment, bis hin zur Ausprägung popkultureller Fanrituale: etwa wenn sich Joyce-Fans bis heute nicht nur regelmässig zu reading groups verabreden. Sondern auch alljährlich am 16. Juni den «Bloomsday» begehen, den Tag also, an dem Joyce seinen Romanhelden Leopold Bloom durch Dublin irren lässt. Dieses Jahr wird allerdings schon Anfang Februar gefeiert. Dann nämlich hat «Ulysses» 100-jähriges Jubiläum – noch ein Romankoloss mehr, der in den kommenden Wochen besondere Aufmerksamkeit bekommt.
Die «Suche nach Lesegemeinschaften», schreibt die Literaturwissenschaftlerin Julika Griem, bietet gerade auf der literarischen Marathonstrecke besondere Möglichkeiten der «performativen und kollektiven Inszenierbarkeit»: Man zelebriert den eigenen Lesevorgang auch durch das Wissen, dass sich andere ebenfalls zur selben Zeit ihren Weg durch diesen Kosmos bahnen und denselben Charakteren begegnen.
Auch das «Ferrante Fever» hiess nur so, weil es ein kollektives Fieber war.
5. Bei dicken Büchern droht das Scheitern
Für Schriftstellerinnen gilt das ganz bestimmt. Egal, ob ein Werk als Grossepos angelegt ist oder sich ungeplant in Wälzerdimensionen auswächst: Stets droht ein Ende als unbeabsichtigtes Fragment. (Allerdings: Was heisst es zu sagen, Robert Musil sei an seinem «Mann ohne Eigenschaften» «gescheitert» – wenn dieses Scheitern trotzdem den Einlass in den weltliterarischen Olymp bedeutete?)
Und die Leser?
Wer auf Konsumentenseite das Nicht-zu-Ende-Lesen als Scheitern versteht, muss von den Walen zwangsläufig eingeschüchtert sein. Aber wer hat eigentlich die Regel aufgestellt, dass nur der Lesehunger legitim ist, der die Beute ganz verschlingt? Jede Buchliebhaberin weiss doch: kein Leserleben, ohne dass im eigenen Regal auch Ungelesenes und Angelesenes steht. Und dass es durchaus auch bei hochgeschätzten und geliebten Büchern vorkommen kann, dass man, aus völlig ausserliterarischen Gründen, mittendrin stecken bleibt. So what?
Ich kann mir keinen Leser vorstellen, der nicht auch schon von 100 Seiten «Mann ohne Eigenschaften» profitiert. Oder die sieben Bände von Prousts «Suche nach der verlorenen Zeit»: Als Student habe ich mir mit einem kleinen Ritual beholfen und die Lektüre exakt auf ein Kalenderjahr verteilt. Meine Ausgabe hatte knapp 5000 Seiten, das machte die Rechnung einfach: 100 Seiten pro Woche (man sieht: da hat schon auch noch anderes Platz). Es war eine der grossartigsten Lektüreerfahrungen meines Lebens, ich kann das nur wärmstens empfehlen. Trotzdem bin ich fest überzeugt, dass auch wer nur Band 1 liest ein einmaliges Leseerlebnis haben und Prousts Ästhetik begreifen wird.
Bei Proust wie bei Musil reichen übrigens die ersten 100 Seiten, um den jeweils berühmtesten Stellen – Prousts Madeleine-Szene, Musils Unterscheidung von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn – schon begegnet zu sein. Vielleicht sind sie auch deshalb die berühmtesten?
Jedenfalls: Mit falscher Ehrfurcht vor grossen Werken bringt man sich nur selbst um das Beste. Wer auch mal vor dem Schlusssatz aussteigt, darf sich in guter Gesellschaft wissen. Und kann den Wal ja auch ein andermal zähmen.
6. Ein neuer Trend!
Von wegen. Die Tendenz zum Riesenroman wird in den Feuilletons alle paar Jahre ausgerufen. Wenn die Schwergewichte also einmal so geballt kommen wie in den nächsten Wochen, hat das eher den Charakter einer rituellen Wiederkehr als der grossen Neuerung. Für Autorinnen mag die Diskussion ohnehin etwas seltsam sein, denn geschrieben wird zu jeder Zeit in allen Umfängen und Stilen. Und wer Jahre oder Jahrzehnte an einem einzigen Werk sitzt, wird es eher nicht darauf anlegen, einem aktuellen Trend zu folgen.
Relativ neu aber ist: In den letzten Jahren hat die Literaturwissenschaft begonnen, systematisch über vermeintlich äussere Faktoren wie Umfang und Aufmachung, über literaturbetriebliche Vermarktung und über das Leseverhalten in Zeiten von Social Media nachzudenken. Und fest steht schon mal: Wenn das Bücherjahr mit Yanagihara und Houellebecq beginnt, ist für weiteres Anschauungsmaterial gesorgt.
7. Dicke Romane sind eine Zumutung
100 Prozent Zustimmung! Die Frage ist nur, wie man «Zumutung» bewertet. Einen Marathon oder eine Bergtour begeht man ja auch nicht, weil das so schön anstrengungsfrei abläuft.
Dicke Bücher kultivieren eine «Ästhetik der Überforderung», wie Carlos Spoerhase das einmal treffend genannt hat. Oder um noch einmal Julika Griem das Wort zu geben: Sie «treiben Konkurrenzen zwischen Lebens- und Lesezeit» provokant auf die Spitze.
Schon mit seiner blossen Existenz ruft uns der Wälzer zu: Ich bin wichtig, wuchtig, wertvoll! Es wird euch ein unendlicher Spass sein, mit mir eure Lebenszeit zu verschwenden.
Damit aber geht der Autor auch das volle Risiko ein. Wer derart viel von unserem Leben haben will, wird sich beweisen müssen. Und weil die Frage, wem das denn nun wie gut gelingt, notorisch subjektiv ist, gehört auch das Vergleichen und Streiten im Publikum zu den festen Ritualen beim Auftritt der Wale.
Und jetzt?
Rein in die neue Buchsaison – in welchem Format auch immer. Und wer es mit den Walen, die da kommen, aufnimmt, kann sich das Motto von einem der kürzesten Werke der Weltliteratur holen. Es heisst «Mattina», stammt von Giuseppe Ungaretti und wird hier in vollem Umfang zitiert:
M’illumino
d’immenso
(In der Übersetzung von Ingeborg Bachmann: «Ich erleuchte mich / durch Unermessliches».)