Buchstäblich verspielt

Der deutschsprachige Roman inszeniert sich immer öfter auch als visuelles Ereignis: geschwärzte Seiten, typografische Dada-Kapriolen, verblassende Zeilen. Und die Autorinnen schmuggeln vermehrt die eigene Handschrift ins gedruckte Buch. Nur: Warum?

Von Daniel Graf, 18.01.2019

Es gibt hochliterarische Romane, mit denen lässt sich Daumenkino spielen. Anspruchs­volle Texte, die man flüchtig durch­blättern kann – und bei denen man dabei womöglich schon eine wesentliche Eigenheit ihrer Ästhetik berührt.

Wenn nicht alles täuscht, ist es einer der augenfälligsten Trends im deutsch­sprachigen Gegenwarts­roman, dass die Autorinnen auch die Autorschaft über das äussere Erscheinungs­bild übernehmen. Dass sie ihren Texten ein optisches Innen­leben geben. Dass das also keine Frage von Illustration ist. Sondern der Roman hier auch als visuelle Kunst begriffen wird.

Nennen wir das Phänomen Augen-Literatur.

Zum Beispiel María Cecilia Barbettas «Nachtleuchten»

Der Roman spielt 1974, am Vorabend der argentinischen Militär­diktatur, in Ballester, einem Vorort von Buenos Aires. Eine katholische Mädchen­schule, eine Auto­werkstatt und ein obskures Institut für «spiritistische Lehre» sind, entsprechend seinen drei Teilen, die Zentren des Romans. Und zugleich eines noch scheinbar intakten Alltags­lebens, in dem die Menschen bereits kräftig an Alternativ­konzepten der Welt basteln: von der politischen Utopie bis zur Flucht in den altbewährten Aber­glauben. (Sie finden die detaillierten Angaben zu allen erwähnten Büchern am Ende des Textes.)

Schon die erste Seite aber verrät uns, dass hier nicht allein die Menschen in Ballester die Haupt­rollen spielen. Sondern auch die Buchstaben. Und das Schauen. «Äuglein», «Brille», «Vergrösserungs­glas»: Den ganzen Roman hindurch wird es ums Sehen gehen.

Die Autorin selbst hantiert mit dem Mikroskop, macht die Schrift mal winzig, als solle sie verschwinden, und mal riesig, als gelte es mit dem Gesichts­sinn Megafon zu spielen.

Über 3-mal 33 Kapitel plus Epilog hinweg ändern die Buch­staben die Gestalt, werden «ausgeixt» wie bei der (Selbst-)Zensur. Oder sie arrangieren sich zum Schrift-Bild: zu Schildern, von denen der Roman nicht nur erzählt, sondern die er abbildet – und so das Erzählte verdichtet.

Wie bei dieser Leucht­reklame eines Hotels, «ZIMMER FREI», bei der dann – aus beredtem Zufall oder durch sanfte Sabotage – das Lämpchen des ersten Buch­stabens ausfällt. Wodurch eine utopische Freiheits­botschaft mitten hinein in die aufziehende Repressions­stimmung leuchtet.

Oder wie in dem freudschen Verleser einer Nonne, die in den Verkehrs­tafeln mit der Aufschrift «AUSFAHRT FREIHALTEN» immer nur «FREIHEIT AUSHALTEN» erkennt. Gut möglich, dass dieses heimliche Motto des Romans künftig auch in den Köpfen der Leserinnen aufploppt (und sich gegen die neuen autokratischen Sehnsüchte von heute wendet). Die Stelle jedenfalls ist typisch für den Roman: ein kleiner subversiver Akt, den die in Buenos Aires geborene, seit Mitte der Neunziger­jahre in Berlin lebende Schrift­stellerin zwar in ihrer Geburts­stadt spielen lässt. Aber mit einem Sprach­effekt, der ganz aus dem Deutschen kommt, ihrer Mutter­sprache als Autorin, auf deren Regel­werk Barbetta mit nicht nach­lassendem Staunen blickt.

Das Lesen als ein Schauen inszenieren, damit ist Barbetta derzeit nicht allein in der deutschen Gegenwarts­literatur. Aber was genau wollen die Autorinnen sichtbar machen?

Worum geht es solcher Augen-Literatur?

Wer darauf Antworten sucht, beginnt am besten mit der Einsicht, dass das literarische Augen-Spiel verschiedene Varianten kennt. Und unter den Autoren so unterschiedliche Ästhetiken vertreten sind wie die von María Cecilia Barbetta, Maruan Paschen (siehe unten), Gianna Molinari (siehe unten) – oder Michael Lentz, dem obsessivsten aller derzeitigen Augen-Literaten.

«Schattenfroh»: Ein Sichtschutzwall aus Schrift

Kein Text der letzten Jahre hat die materielle Seite des Buches so ausgereizt wie Michael Lentz’ Riesen­roman «Schattenfroh», nirgendwo wird so augen­fällig mit der visuellen Dimension von Schrift gearbeitet. Und man muss hier wirklich von «Arbeit» sprechen.

Während María Cecilia Barbettas «Nachtleuchten» immer wieder utopische Perspektiven aufleuchten lässt – nicht zuletzt durch die teils über­mütige Hingabe ans Sprach­spiel –, ist «Schattenfroh» – der Name täuscht nicht – ein absolut licht­ferner Text. Man könnte geneigt sein zu sagen: Wie soll es anders sein, wenn einem Autor der Tod zum literarischen Lebens­thema wird.

Mit «Muttersterben» war Michael Lentz Anfang der Nuller­jahre berühmt geworden, einem auto­biografischen Prosatext, der tiefste Trauer und obszönen Kraft­sprech auf bis dahin unerhörte Weise ineinander verkeilte. «Schattenfroh» nun trägt den Untertitel «Ein Requiem», und dass das Buch nicht «Vatersterben» heisst, obwohl sich da ein Ich den verstorbenen Vater in Erinnerung ruft, mit ihm ins Gericht geht, ist nur konsequent. Denn nichts in diesem Buch erinnert in Ton und Architektur an den Vorgänger­text. «Schattenfroh» ist mit maximaler Akribie auf den grösst­möglichen literarischen Abstand zu «Muttersterben» hin komponiert.

«Man nennt es schreiben» heissen der erste und der letzte Satz des Buches. Dazwischen liegen 1000 Seiten angewandte Philosophie des Schreibens und der Schrift.

Wenn man bei diesem Buch – ein schon fast absurder Gedanke – von einer Handlung sprechen wollte, dann geht es um den Kampf eines Schreibers mit einem Allmachts­dämon namens «Schattenfroh»; um Trauer­arbeit, die sich nicht nur um den Tod des Vaters dreht, sondern den verzweifelten Versuch unternimmt, den Schrecken des Todes überhaupt gedanklich irgendwie zu bannen; um dystopische Szenarien von Über­wachung und totaler Kontrolle; um ein (Selbst-)Verhör mit den Mitteln der «Gehirnwasser­schrift», die jeden Gedanken direkt in Buch­staben verwandelt – die Paradies­hölle eines Autors. Weil das alles mit einer aberwitzigen Anzahl an geistes- und medien­geschichtlichen Referenzen verschraubt wird und der Text sich permanent auf mehreren Ebenen selbst bespiegelt, wird dem Leser bei all dem Meta-Meta einiger Atem abverlangt.

Materiell ist das Buch ein Ziegel­stein; ästhetisch ist der Roman eine Mauer.

Michael Lentz hat einen Schutz­wall an Intellektualität um den Emotions­kern seines Textes gebaut. Auf dass nur Zugang erhalte, wer sich als wirklich würdiger Leser erweist.

Diese Mauer aus Gelehrsamkeit ist ein Bauwerk aus Schrift: aus ein­montierten exoterischen und esoterischen Quellen; aus vertrauter und fremder Typografie; aus Rätsel­zeichen und den Geheimschrift-Techniken der Poesie, namentlich des Anagramms, dem Lentz seit je verfallen ist.

Wo bei Barbetta die vor Augen tretende Schrift im Wortsinn «einleuchtet», inszeniert sie bei Lentz hämisch ihre Unzugänglich­keit. Wo Barbetta mit dem Signal­charakter von Sprache spielt, meisselt Lentz ein Noli me tangere in Stein.

Radikaler hat selten ein Autor einer voyeuristischen Lektüre des Privatesten eine Abfuhr erteilt. Und es hängt wohl von der einzelnen Leserin ab, ob man das nun als grösst­möglichen Wider­stand gegen eine konsumistische Literatur versteht – oder als Konzept­kunst gewordenen Narzissmus.

Was aber heisst es für die Frage nach der Augen-Literatur, dass die Wirkung visueller Effekte bei Barbetta und bei Lentz so grund­verschieden ist? Bestehen Parallelen zwischen typo­grafischen Experimenten in der Literatur nur an der Oberfläche? Folgen Vergleiche hier immer nur einem falschen Augen­schein, weil es den Autorinnen jeweils um komplett Unterschiedliches geht?

Gianna Molinari – man sieht nur mit dem Herzen schlecht

Es ist eine unvermutete Pointe der gerade zu Ende gehenden Buch­saison, dass sich zwei ihrer gegen­sätzlichsten Romane hinsichtlich der Erzähler-Ichs ähnlicher sind, als es auf den ersten Blick scheint. Wie Lentz’ Erzähl­stimme hat sich auch die Ich-Erzählerin von Gianna Molinaris «Hier ist noch alles möglich» in sich selbst verkapselt.

In Gebiete vordringen, einen utopischen Möglichkeits­raum betreten: So will sie ihre Abkehr vom bisherigen Leben und den Neuanfang als Nacht­wächterin auf einem fast verlassenen Fabrik­gelände verstanden wissen. So zeichnet sie ihre (Innen-)Welt auf Papier: kleine handschriftliche Skizzen, die auch den Roman­text gliedern, unseren Blick auf sich ziehen. Und dabei an die Zeichnungen aus Saint-Exupérys «Kleinem Prinzen» erinnern.

Molinari verwebt in den Plot die wahre, wenn auch unwahrscheinlich anmutende Geschichte des «Mannes, der vom Himmel fiel» – und macht sie auch in der Wahr­nehmung ihrer Heldin zu einer offenbar realen und doch unwahr­scheinlichen Begebenheit. Die Nacht­wächterin aber holt ohnehin auch die einbrechenden Realitäten in die Welt ihrer kindlich anmutenden Skizzen. Am liebsten zeichnet sie ohnehin Inseln – Sehnsuchtsorte. Doch was uns die Autorin Molinari mit ihrer Vermessung einer Seelen­landschaft vorführt, ist die wachsende Selbst­isolation, die fortschreitende Realitäts­flucht ihrer Hauptfigur.

Ganz anders, als es die Protagonistin will, werden die Insel­zeichnungen zum Sinnbild dieses Romans über einen als Aufbruch getarnten Welt­verlust: So wie die Insel­umrisse ohne Mass­stab und Umgebung im leeren Raum des weissen Blattes stehen, so wenig kann sich die Nacht­wächterin in Beziehung zu ihrer Umwelt setzen. Die vermeintliche Utopie entpuppt sich als Flucht ins Allerengste, in ein selbst gewähltes Gefängnis, in das zwangs­läufig früher oder später die Paranoia Einzug hält.

Molinari lässt uns die Welt­blindheit ihrer Protagonistin sehen. Die Zeichnungen der Figur dienen der Autorin zur Figurenzeichnung.

Und wenn die Nachtwächterin so die Welt in ihr «Universal-General-Lexikon» bannt, dann ist es schon eine abgekoppelte, entrückte Alternativ­welt aus «Phantom­bildern», mitsamt dem ominösen Wolf, der angeblich um das Fabrik­gelände streunt – noch so ein Sinnbild, mit über­deutlichen Anspielungen auf aktuelle Dämonisierungen des Fremden. Der Wolf, den die Nacht­wächterin nicht einmal zeichnerisch zu fassen kriegt, wird so inmitten dieses Spiels mit Skizzen (und eingeschobenen Fotos) zu einem tatsächlich rein literarischen Bild: für die Wirkmächtig­keit einer eingebildeten Bedrohung, die atmosphärisch einzufangen die eigentliche Leistung von Molinaris Roman ist.

Und wo das Visuelle bei Barbetta dem Wort­spiel dient oder bei Lentz dem Nach­denken über die Macht der Schrift, findet Molinari eine dritte Funktion der Augen-Literatur: die Erzeugung einer Stimmung.

Letztes Beispiel: Maruan Paschen und die Parodie

Auch in Paschens «Weihnachten» brechen hand­schriftliche Skizzen den gewohnten Text­fluss auf. Doch die Zeichnungen sind vor allem eines: Farce.

«Weihnachten», Paschens zweiter Roman, ist das, was man von guter Literatur unter diesem Titel erwarten darf: eine Satire auf den ganz normalen Familien­irrsinn – die in Wirklichkeit dann doch auf etwas anderes hinaus­will als unzählige Weihnachts­storys sonst.

Bevor aber der Roman auf seine Schluss­volte zusteuert, sitzen wir mit dem Erzähler am familiären Gaben­tisch. Und dort greift man zum Mittel der Zeichnung, wenn die Debatte ihr sensibelstes Thema erreicht: Zahn­wurzel­spitzen­resektion. Paschen lässt sämtliche der neurotischen Onkel, die sich da zur Familien­zusammenführung versammelt haben, den Stift zücken und aufmalen, wie es denn nun tatsächlich zugeht bei so einer Zahn­wurzel­spitzen­resektion. Wir als Leserinnen sehen das alles, weil der Erzähler die Dokumente seinem Therapeuten Dr. Gänsehaupt (und damit uns) als Beweis­material vorlegt – eine Parodie auf die auto­biografische Doku­fiktion mit ihrem Pathos der Originalquellen.

Und eine programmatische Schlüsselstelle für Paschens Schreiben?

Überhaupt nicht.

Die Skizzen sind eine kleine Episode, die zur subtilen Ironie des Textes passt, mehr nicht. Nach zwei Seiten ist wieder Schluss.

Das ist ebenfalls eine Variante des literarischen Augen-Spiels: Es eignet sich auch zum kurzen ... nun ja ... Augenzwinkern.

Und dann weiter im Text.

Aber was folgt?

Augen-Literatur kann also visuelles Wort­spiel sein wie bei Barbetta. Selbst­bespiegelung der Sprache wie bei Lentz. Atmosphärisches Mittel wie bei Molinari. Ein kurzer Stunt wie bei Paschen. Oder all das in unter­schiedlichen Misch­verhältnissen (denn Misch­verhältnisse sind es in Wirklichkeit ja auch bei den vier genannten Texten).

Wenn die Autorinnen aber letztlich auf Verschiedenes aus sind, ganz unterschiedliche Ästhetiken vertreten: Gibt es überhaupt einen gemeinsamen Nenner?

Es gibt mindestens zwei.

Zunächst einmal eine geteilte Zeit­genossenschaft, mitsamt der medien­historischen Gegenwart und einer langen literarischen Tradition. Man kann die enge Verschränkung von Schrift und Bild als ein Ereignis der klassischen Moderne beschreiben: von Mallarmés «Coup de dés» durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch, in dem Literatur und bildende Kunst so ziemlich jede denkbare Kombination beider Künste durchspielen.

Aber Augen-Literatur, Texte also mit einer starken visuellen Komponente, gibt es in Gestalt des Figuren­gedichts bereits seit der Antike.

Und als im 18. Jahrhundert der Roman seinen unaufhaltsamen Sieges­zug beginnt, dauert es nicht lange, bis ein Autor lustvoll die gerade erst etablierten Konventionen sprengt und mit reichlich optischen Effekten das Medium Buch und den Roman als literarischen Alles­fresser in den Blick nimmt. Schwarze und leere Seiten, eingebaute Quellen, ständige Typo­wechsel; Spiel mit Seiten­zahlen und Auslassungen; integrierte Lyrik­passagen, fremde Alphabete, hand­schriftliche Skizzen: Im «Tristram Shandy» von Laurence Sterne ist schon alles da. Und wenn Michael Lentz in «Schattenfroh» verdeckte Zitate aus historischen Quellen ein­montiert, dann natürlich auch aus «Tristram Shandy».

Die Literaten aber, die sich heute der visuellen Dimension von Texten widmen, tun dies inmitten der digitalen Medien­revolution und just in der kultur­geschichtlichen Phase, wo sich auch der Umgang mit Schrift grundlegend wandelt. Dabei geht es den Autorinnen vermutlich nicht darum, die Hand­schrift zu retten in Zeiten, wo über den drohenden Verlust dieser Kultur­technik diskutiert wird. Und das literarische Spiel mit Typo­grafie kommt auch nicht einfach deswegen neu in Mode, weil es nun, da jeder zeitgenössische Autor seit gut zwei Jahr­zehnten auf der eigenen «Schreibmaschine» über enorme Formatierungs­optionen verfügt, eben so einfach geht.

Der Effekt der Digitalisierung liegt tiefer.

Weil sie das Nachdenken, auch über das Vor-Digitale, grundlegend verändert. Auf jedem einzelnen Feld der digitalen Trans­formation (und das macht sie zum vielleicht grössten Reflexions­treiber der Menschheits­geschichte) wird immer beides erklärungs­bedürftig: das Neue und das Bisherige.

Für die Literatur heisst das: Gerade weil das physische Buch seine Selbst­verständlichkeit verliert, rückt es mit all seinen Bestand­teilen neu in den Fokus der Aufmerksamkeit – ebenso wie die Eigenschaften eines digital gesetzten Textes im flexiblen Layout und die Frage, worin sich beide unter­scheiden. Die immense Fülle an gestalterischen Möglichkeiten samt ihren unterschiedlichen Wirkungen wird so überhaupt erst in neuer Intensität bewusst – für «flüssig» gesetzte Texte und fix formatierte gleicher­massen. Literatur, die sich emphatisch als form­gebunden versteht, reagiert darauf: indem sie die ästhetische Dimension des Schriftlichen neu reflektiert.

Das berührt bereits den zweiten und wichtigsten gemeinsamen Nenner aller Augen-Literatur: Sie ist selbstreflexiv.

Augen-Literatur ist immer auch Literatur-Literatur: Sprachkunst, die die eigenen Gesetz­mässigkeiten und Voraussetzungen befragt.

Indem sie das Lesen aus dem gewöhnlichen Modus herausholt – bei dem wir zwar mit den Augen lesen, aber genau diesen Umstand vergessen –, lenkt sie in besonderer Weise den Blick auf den Lese­vorgang und auf die Sprache selbst.

Es ist ein bisschen wie bei Brechts Verfremdungs­effekt: Die Kunst streicht die Illusion durch zugunsten einer erhöhten Aufmerksam­keit für das eigene Gemachtsein.

Dies führt jedoch nicht zu einem Verlust an sinnlicher Unmittelbar­keit. Die «Aushänge­schilder» im Text von María Cecilia Barbetta zum Beispiel fallen in einem sehr direkten Sinne ins Auge. Aber sie fungieren auch als Wegweiser des Lesens, als Aufforderung, gerade die aufleuchtenden Details wahrzunehmen, die kleinen sprachlichen Verschiebungen mit den mitunter grossen Effekten. So wie das Nach­leuchten einer fluoreszierenden Madonna, die durch Barbettas Roman geistert, sprachlich zu einem «Nacht­leuchten» wird. Oder der idealistische Auto­mechaniker zum «Autor-Mechaniker», der in seiner Werkstatt (namens «Autopia») am Radwechsel des Systems schraubt, also schreibt.

In Kürze übrigens erscheint das erste Buch von Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow. Auch dort werden Zeichnungen des Autors den Fliess­text unterbrechen. Und die Text­gattung? Lautet wohl Auto­fiktion. In Barbettas Auto-Wortliste kommt das direkt nach «AUTObiographie».

Zu den Büchern:

María Cecilia Barbetta: «Nachtleuchten». Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 522 Seiten, ca. 37 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.

Michael Lentz: «Schattenfroh. Ein Requiem». Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 1008 Seiten, ca. 52 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.

Michael Lentz: «Muttersterben». Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2001, 192 Seiten, ca. 13 Franken.

Gianna Molinari: «Hier ist noch alles möglich». Aufbau-Verlag, Berlin 2018. 192 Seiten, ca. 28 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.

Maruan Paschen: «Weihnachten». Matthes & Seitz, Berlin 2018. 196 Seiten, ca. 29 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.

Laurence Sterne: «Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman». Aus dem Englischen von Michael Walter. Galiani, Berlin 2015. 848 Seiten, ca. 50 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.