Welten, Ränder
Philipp Weiss: «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen»
Ein Debüt in fünf Bänden ist das literarische Grossereignis dieser Buchsaison. Aber ist es auch der angekündigte Roman zum «Anthropozän»?
Von Daniel Graf, 31.10.2018
Superlative in Rezensionen sind eine heikle Angelegenheit. Doch sind sie bei diesem Koloss von einem Buch schon vor jedem Qualitätsurteil schwer zu vermeiden. Selbst wer Philipp Weiss’ Text skeptisch gegenübersteht, wird kaum bestreiten, dass «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» in der deutschsprachigen Literatur das megalomanste Romanprojekt seit langem darstellt.
Da kommt also ein Debütroman daher wie eine Gesamtausgabe: fünf Bände im Schuber, jeder einzelne mit eigenem, aufwendigem Layout, veredelt von der preisgekrönten Buchgestalterin Pauline Altmann. Und geschrieben von einem jungen Wiener Autor, dessen literarischer Ruhm bis dato im Wesentlichen darin bestand, dass er beim Wettlesen in Klagenfurt anno dazumal sein Manuskript aufass.
Bereits Wochen vor der Veröffentlichung wurde bekannt, dass der Autor für diesen Tausendseiter den renommierten Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung erhalten wird. Man hätte mit gleichem Recht auch an Suhrkamp eine Medaille für verlegerischen Übermut verleihen können, denn das Konzept selbst ist so unbescheiden wie die bibliophile Einkleidung. Von den Anfängen der Globalisierung über das Fukushima der Reaktorkatastrophe 2011 bis hinein in eine nahe Zukunft erstreckt sich bereits die vordergründige Handlungsebene. Tatsächlich aber bohrt Weiss tief in die Gesteinsschichten der Erd- und Menschheitshistorie, durchmisst erzählerisch eine Spanne vom Urknall bis zur drohenden Selbstauslöschung des Menschen namens Klimawandel. Einen Roman über die «Verwandlung der Welt im Anthropozän» verspricht der Verlag – mehr epochaler Anspruch geht nicht. Was einem jungen Autor von vornherein nicht nur Freunde macht.
Man könnte also leicht versucht sein zu sagen: Dieser Roman nimmt sich nicht weniger vor als die Vermessung der Welt als ganzer. Ein Text, der – selbst vermessen – auf die Totale zielt, dem es buchstäblich um «alles» geht. Aber nichts könnte irreführender sein.
Und zwar schon deshalb, weil Weiss’ Text ein glasklares Bewusstsein davon zeigt, dass er in seiner west-östlichen Spannweite von Paris bis Fukushima nur den globalen Norden umfasst. Schon der erste, im 19. Jahrhundert angesiedelte Band, in dem die junge Paulette Blanchard bereits die Wegstrecke des Romanzyklus vom revolutionären Paris bis nach Japan zurücklegt, ist nicht nur die Geschichte einer intellektuellen Emanzipation gegen die gesellschaftlichen Widerstände ihrer Zeit. Er ist auch eine Erzählung von den inneren Widersprüchen eines (ausschliesslich männerdominierten) Kosmopolitismus, der historisch oft genug nur ein Deckmantel für Kolonialismus und rassistisches Überlegenheitsdenken war – in seiner eurozentristischen wie in seiner asiatischen Variante.
Vor allem aber besteht der Witz dieses Romans nicht darin, erklären zu wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Viel eher schaut Weiss dabei zu, wie der Mensch sich genau darauf immer wieder einen Reim zu machen versucht. Und wie er dabei die Welt ständig neu entstehen lässt: durch Erzählung. Durch Ursprungsgeschichten von der Erde und sich selbst. Weiss spürt dem Expansionsdrang und dem faustischen Erkenntnishunger nach, mit dem der Mensch seit jeher nicht gegen die Grenzen der Welt, sondern die des eigenen Verstandes rennt. Und wie der Autor uns über dieses seltsame Wesen Mensch staunen lässt, das seit geraumer Zeit die Erde beherrscht und drauf und dran ist, sie für sich selbst zugrunde zu richten; wie er uns diese hoffnungslos selbstverliebte Spezies bewundern und uns an ihr verzweifeln lässt; wie er bei alldem einen hochgradig sinnlichen, zugänglichen Text schafft, von dessen Dimensionen sich niemand abschrecken lassen sollte, darin liegt die Grösse dieses Menschheitsromans.
Spätestens hier muss man davon sprechen, wie diese fünf Bände gebaut und miteinander verschränkt sind. Weiss hat für jedes Buch eine Autorenfigur erfunden, jedes folgt einer anderen Textgattung. Was sie verbindet, neben teils engen, teils sehr losen Beziehungen zwischen den Figuren, ist die durchgängige Ichperspektive. Und eine Abfolge zwischen den Büchern, die dann doch weniger zufällig ist, als es der Autor in öffentlichen Äusserungen glauben machen will.
Von jener Paulette Blanchard, die zuerst ihrer grossbürgerlich behüteten Umgebung in die Pariser Kommune entflieht und dann den europäischen Revolutionswirren nach Yokohama, erfahren wir aus den «Enzyklopädien eines Ichs»: einem Tagebuch, das aber der Form nach an die «Encyclopédie» von Diderot und d’Alembert angelehnt ist – sodass der Autor hier nicht nur eine Frauenstimme des 19. Jahrhunderts, sondern auch die Machart eines Universallexikons imitiert.
Drei weitere Bände hat Weiss im Japan des Jahres 2011 situiert. Wir begegnen dem Künstler Jona Jonas, der planlos einer verlorenen Liebe nach Tokio folgt, ehe ihm seine Erfahrungsarmut durch ein betäubendes Erdbeben und die auf Grossleinwand übertragene Flutwelle von Fukushima denkbar zynisch ausgetrieben wird. Wir geraten in den dunklen Bann der Notizhefte von Jonas verlorener Geliebter Chantal, die auch die Ururenkelin jener Paulette Blanchard ist und manisch deren Streben nach Erkenntnis fortsetzt. (Selten dürfte ein Literat ein genialisches Naturwissenschaftler-Hirn so ausgeleuchtet haben, wie das Weiss hier gelingt.)
Und wir stossen in «Akios Aufzeichnungen» auf einen vorwitzigen, herrlich altklugen Neunjährigen, aus dessen trotz allem kindlicher Perspektive uns die Verheerungen der Atomkatastrophe umso greller vor Augen treten. Bevor Weiss schliesslich mit dem fünften Band die Plain-Text-Ebene der «Aufzeichnungen» überschreitet, hinein in einen dystopischen japanischen Comic, für den er mit der Wiener Illustratorin Raffaela Schöbitz zusammengearbeitet hat.
Fünf Bände also, die weder Gattung noch Typo noch Erzählstimme teilen, sehr konsequent jedoch die Sprechperspektive. Es ist immer ausschliesslich ein Ich, das spricht, wenn auch in jedem Band ein anderes. Weiss schlüpft in fünf verschiedene Rollen, verleiht jeder davon einen ganz eigenen Ton. Um die Spanne wenigstens mit zwei Soundproben anzudeuten: Wenn der neunjährige Akio seinen Vater an dessen Arbeitsplatz im Simulator des Kernkraftwerks besucht und es nicht lassen kann, dort auf die Knöpfe zu drücken, erzählt er davon wie folgt. «Die Sternenflottenkameraden haben gerade eine Notschaltung geübt, und durch mein Knöpfedrücken habe ich sie ganz durcheinandergebracht und insgesamt, glaube ich, einen Supergau produziert, und das ist ein wirklich schlimmer Unfall. Aber das konnte ich überhaupt nicht wissen, dass ich einen Supergau produzieren kann, nur weil ich ein paar Knöpfe drücke, weil Otōsan hat mir immer erklärt, dass Atomkraftwerke die sicherste Sache auf der ganzen Welt sind.»
Und dies ist die Tonlage der misanthropischen Forscherin Chantal aus Band drei: «Die vielleicht schönste unter den dreisten Kränkungen der menschlichen Hybris brachte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einsicht, dass das so stolze Organ des Homo sapiens – das im Laufe der Evolution geschwollene Gehirn – die Wirklichkeit dieses Universums nicht erfassen, sich nicht vorstellen kann. (...) Es ist die von Einstein und Planck aufgedeckte Blamage des narzisstischen Geistes, der, ganz und gar auf das menschliche Mass ausgerichtet und beschränkt, sich von der Realität des Kosmos ebenso wenig vorzustellen vermag wie eine tumbe Amöbe in einer Schlammpfütze Sibiriens vom globalen Klima.»
Erzählstimme und Hauptfigur fallen jeweils vollständig zusammen – Rollenprosa in äusserster Radikalität. So hat der Theatermann Weiss nur scheinbar das Genre gewechselt. In Wirklichkeit hat er die Kunst des Monologs im Fundus der erzählerischen Möglichkeiten wiederentdeckt. Nur indem die Figuren selbst sprechen, treten sie uns entgegen: als erkenntnissüchtige Sinnsucher und Zweifler.
Was uns Weiss zeigt, ist nicht, wie die Welt «ist», sondern wie sich der Mensch in immer neuen Anläufen genau darauf einen Reim zu machen versucht – und dann doch immer nur neue fragmentarische Erzählungen von der Entstehung der Welt und der eigenen Existenz zustande kriegt. Ausgerechnet der Mensch, der vielleicht nicht mehr Krone der Schöpfung sein will, aber wenigstens noch Namensgeber des neu ausgerufenen Erdzeitalters: Anthropozän. Auch wenn er nur zu gut spürt, dass ihm in Zeiten des rasant wachsenden Weltwissens die Komplexität immer mehr über den Kopf wächst. Und dass die Ära des Anthropozäns, in der das menschliche Leben der bestimmende Faktor für das Schicksal des Planeten ist, zugleich die ultimative Epoche des Kontrollverlusts sein könnte. Dafür steht bei Philipp Weiss die Atomkatastrophe von Fukushima als das grosse Menetekel unserer Zeit.
Vielleicht ist Weiss’ Text vor allem darin der etwas grossspurig versprochene «Roman zum Anthropozän»: dass er anhand seiner Figuren und mit deren Gedankengebäuden zeigt, wie ambivalent dieses Konzept eigentlich ist.
Erstens: Weil der Begriff die Ursachen des Klimawandels zugleich benennt und verschleiert. Es ist zweifelsfrei der Mensch, der den Planeten in die Hitzespirale treibt, und nur durch menschliches Handeln wäre die Kehrtwende möglich. Aber es ist keineswegs der Mensch «an sich» und seit jeher, sondern eine menschheitsgeschichtlich wahnwitzig kurze Zeit turbokapitalistischer Lebensweise, an der die Menschen in den verschiedenen Erdregionen sehr unterschiedlichen Anteil haben.
Zweitens: Weil der Mensch als mächtigster Faktor auf der Erde eine letztlich sehr abstrakte Kategorie ist und das einzelne Individuum eine erlösungsbedürftige, die Welt nur in kümmerlichen Ausschnitten verstehende Gestalt. Die im Zweifelsfall so viel mit sich selbst beschäftigt ist, dass sie zum Weltretten keine Zeit zu haben meint.
Und weil drittens das Wort «Anthropozän» den Menschen nach all seinen narzisstischen Kränkungen auf eine pervers schmeichelnde Weise zurück ins Zentrum rückt und damit schlimmstenfalls zwar seine Eitelkeit bedient, nicht aber sein Handeln ändert. «Das Mittel gegen die gesellschaftlichen Fliehkräfte sind Fiktionen», lässt Weiss seine Protagonistin Chantal sagen. Aber das Anthropozän ist bisher eher ein intellektueller Fetisch als eine kulturübergreifende Wendepunkt-Erzählung.
In einem vom Verlag lancierten Interview und in einem darauffolgenden Gespräch hat Philipp Weiss mit der Behauptung kokettiert, die Reihenfolge der fünf Bücher sei beliebig. Dem ist zumindest entgegenzuhalten, dass die Bände aber doch auf eine ganz bestimmte Weise im Schuber stecken. Und dass das keineswegs zufällig wirkt. Chronologisch geht es vom 19. Jahrhundert der Paulette Blanchard zur Fukushima-Trilogie der Buchmitte, wobei die «Cahiers» der Chantal Blanchard das dunkle Zentrum des gesamten Romankomplexes und den tief nihilistischen Gegenpol zum Eröffnungsband bilden.
Und wenn am Ende der japanische Comic mit dem Titel «Die glückseligen Inseln» steht (eine Anspielung auf die Wortbedeutung von Fukushima), dann muss man als Leserin die Laufrichtung ändern, weil japanische Comics von rechts nach links, von hinten nach vorne zu lesen sind. Darin liegt eine ästhetische wie erkenntnistheoretische Pointe: Den ganzen Riesenroman hindurch hat der westliche Mensch alles nur entlang der Koordinaten seiner eigenen Denkstruktur durchlaufen! «Restart? Restart? Restart?» blinkt es auf der Schlussseite des Comics. Was man entweder als Warnhinweis vor der gedanklichen Endlosschleife verstehen kann, in der Weiss’ Manga-Heldin gefangen ist – oder als das archäologische «Zurück auf Los!», das der Autor uns in homerischem Gelächter zuruft.
Wen es beruhigt: Philipp Weiss’ Roman ist keineswegs ein Text ohne Schwächen. Hie und da verrutscht die Figurenperspektive ins Unglaubwürdige, und wer den Figuren so vehement ins Innere leuchtet, findet anstelle eines unkonventionellen Bildes auch mal Kitsch. Die Fülle an historischem Wissen, die Weiss etliche Male in funkelnde Anekdoten überführt, wirkt in schwächeren Passagen oberflächlich zusammengegoogelt. Und wer will, kann namentlich im dritten Band, in Chantals Tiraden und Kapriolen, die tieferen Gesteinsschichten der Romanentstehung an die Oberfläche treten sehen: als jenen Bereich, in dem sich die Aporien und die mühsam beherrschten Dämonen des drohenden schriftstellerischen Scheiterns abgelagert haben.
So what? Das sind Beckmessereien im Vergleich zum Wagnis dieses Romans. Und zur wundersamen Leichtigkeit, mit der sich hier dem Leser nicht die eine Welt erschliesst, sondern sehr viele sich eröffnen. «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen»? Man wird sich an den Namen gewöhnen. Denk ich.
Philipp Weiss: Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 5 Bände im Schuber. 1064 Seiten, ca. 64 Franken. Hier gehts zur Leseprobe. Zu einer Lesung des Autors gelangt man hier.