Ihr Hungrigen, kommet
Das diesjährige Weihnachtsmenü ist kein Menü. Es ist ein Tisch voller Köstlichkeiten, umrahmt von allerlei Gästen, inspiriert von amerikanischen und jüdischen Traditionen. Merry Christmas! «Geschmacksache», Folge 27.
Von Michael Rüegg (Text), Silvio Knezevic (Bilder) und Sven Christ (Foodstyling), 16.12.2021
In der Vorweihnachtszeit schreien meine Mutter und ich uns mindestens einmal am Telefon an. Danach hängt eine Seite auf und schmollt. Mal sie, mal ich, im Schmollen wechseln wir uns ab.
Grund ist in der Regel die schwierige Terminfindung für ein familiäres Get-together. Meine Mutter hat zwei Kinder gezeugt, die haben wiederum zwei Schwiegereltern, die auch wieder zwei oder mehr Kinder mit Partnerinnen und Partnern sowie eigenen Schwiegereltern haben. Und so weiter. Wenn man von den drei zur Verfügung stehenden Weihnachtstagen auch noch einen im kleinsten Kreis und vielleicht einen mit guten Freundinnen verbringen will, kann die Rechnung einfach nicht aufgehen.
Ich habe daher in manchen Jahren die Flucht angetreten und bin, meist in irgendeiner Begleitung, zu meinem besten US-Freund nach New York gereist. In den USA habe ich Weihnachten immer als ziemlich inkludierende Veranstaltung wahrgenommen. Am Tisch sassen alle möglichen Gäste, Verwandtschaftsgrade waren zweitrangig. Und neben den blinkenden Weihnachtsbäumen begegneten einem auch stets neunarmige Kandelaber, Symbol des jüdischen Chanukka-Festes.
Meine erste Berührung mit Chanukka war eher zufällig vor vielen Jahren in Zürich. Der Chabad Lubawitsch, eine Art «jüdische Freikirche», zündete jeweils an einem öffentlichen Ort eine grosse chanukkia an, so heisst der neunarmige Leuchter. In der Regel hielt ein Mitglied der Stadtregierung eine Rede. Einmal war ich zugegen, als die religiöse Gemeinschaft einen amtierenden Gemeinderatspräsidenten als Ehrengast geladen hatte. Das war etwas peinlich. Damals war Wikipedia gerade recht populär geworden, was man der Rede des Zürcher Parlamentspräsidenten stark anmerkte. Er begann mit der Beichte, dass er nicht gewusst habe, was die Juden da eigentlich feiern würden. Er habe dann im Internet nachgeschaut. Danach erklärte er den Anwesenden während zehn Minuten, was genau sie hier feierten und warum.
Sieben statt neun Kerzen und koscherer Schampus
Wenn ich es mir irgendwie einrichten kann, besuche ich die Anzündezeremonie. Obwohl der Kantor nicht besonders schön singt. Und nicht nur, weil es am Ende einen Gratisberliner gibt. Ich geniesse es, ein paar Minuten aus der Adventszeit hinauskatapultiert zu werden.
Vergangenes Jahr habe ich damit begonnen, ein bisschen Chanukka in meine Weihnachtszeit einzubauen. Ich bestellte mir auf Amazon einen jüdischen Kerzenständer als alternative Adventsdeko – leider gab es bloss eine siebenarmige Menora «made in China», zum Zusammenschrauben. Aber aus angemessener Distanz sieht sie aus, als hätte Urgrossvater sie einst auf der Flucht vor den Kosaken im Jutebeutel aus dem shtetl getragen. Ich stellte eine Kiste koscheren Champagner zum Kühlen auf den Balkon, installierte auf dem iPad eine Playlist mit hebräischem Thrashmetal und lud ein paar Freunde zum Chanukka-Apéro. Die verstanden zwar nicht, was da abging, und zweifelten an meiner seelischen Gesundheit, aber der Champagner und die Latkes gingen dennoch weg.
Latkes: Das sind in Öl gebratene Kartoffelküchlein. Öl hat eine grosse symbolische Bedeutung fürs Fest. Ich habe beschlossen, dass Latkes auch dieses Jahr Teil der Weihnachtstafel sein sollen.
Denn irgendwie, so meine Vermutung, existieren da Parallelen zwischen Chanukka und Weihnachten. Subtrahiert man mal all den Konsummist, bleiben zwei Feste, in denen das Licht eine zentrale Rolle spielt. Einer, der es genauer wissen könnte, ist der Rabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, Noam Hertig. Er ist nicht unbedingt das, was man sich hollywoodmässig unter einem Rabbi vorstellt, weil er noch keine 40 und bartlos ist. Vergangenen Frühling, als alle Beizen zu waren, lud er mich mal auf ein Pastramisandwich vor dem Bahnhof Enge ein.
Also, Frage an den Rabbiner: Wie viel Chanukka steckt in Weihnachten?
Eigentlich nichts, schreibt mir Noam Hertig. Weihnachten sei weder kulturell noch theologisch von Chanukka beeinflusst. Doch ganz ohne Zusammenhang seien sie nicht, die beiden Feste. Der Hase liegt quasi verkehrt herum im Pfeffer: «Chanukka gilt aus religiöser Sicht als eher unwichtiger Feiertag im Gegensatz zu Jom Kippur, Pessach, Schawuot etc.» Die Parallelen zu Weihnachten seien mehrheitlich erst in den letzten zweihundert Jahren entstanden. Doch um zu verstehen, wie das kam, ist ein kurzer Blick auf Weihnachten nötig.
Weihnachten ist eine reine Bastelei
Natürlich, das Christfest schaut auf Hunderte Jahre Tradition zurück – auch wenn es in einigen Gegenden zeitweise als heidnischer Brauch verboten war (etwa in Genf). Das heutige Weihnachtsfest ist eine ziemlich bürgerliche Angelegenheit und ein Flickenteppich von gegenseitig übernommenen Traditionen. Irgendwann begann man in der britischen Kolonie New York das ursprünglich von den niederländischen Auswanderern mitgebrachte Weihnachtsfest umzudeuten und machte daraus eine besinnliche Feier mit Bescherung für die Kinder – aus Sintaklaas wurde Santa Claus.
Im Biedermeier begannen dann die besser betuchten Familien in Deutschland, dieses Muster zu übernehmen. Wie sehr bei Fabrikarbeitern zu Hause die Bescherung damals eine Rolle gespielt hat, ist fraglich. Man hatte ja nichts, also gabs auch nichts zu verschenken. Ausser Frage steht, dass Autoren wie Charles Dickens einen gewissen Beitrag zur Globalisierung des Weihnachtsfests geleistet haben – wobei interessanterweise das britische Weihnachten seinerseits von Königin Victorias deutschem Gatten Albert stark gepusht wurde.
Süppchen, Salat, Hauptgang, Dessert, Käse? Die üblichen Gänge fallen dieses Jahr weg, stattdessen besteht das Festtagsmenü aus einer reich gedeckten Tafel mit allen möglichen Köstlichkeiten: gefüllter Kürbis mit Gravy, Latkes, Rahmwirsing, Federkohl mit Granatapfel und Feta, gebratener Sellerie, Fleischbällchen mit Tomaten und Datteln sowie Cornbread. Alle Rezepte finden Sie hier.
Auch im Falle von Chanukka spielt die Auswanderung eine gewisse Rolle. Vor allem säkulare jüdische Familien in den USA suchten angesichts des Weihnachtshypes im Lande nach einer jüdischen Alternative für die Adventszeit. Im 20. Jahrhundert wurde auch Chanukka kommerzialisiert, und die Kinder rückten in den Mittelpunkt. Es wurde quasi ein minderer Feiertag einem Upgrade unterzogen. Und weil die jüdische Gemeinde immer stark globalisiert war, schwappte das neue Chanukka wieder nach Europa über und wurde in Deutschland da und dort zu einem Weihnukka verschmolzen.
Ein bisschen von diesem Weihnukka wollen wir auch im diesjährigen Festtagsmenü zelebrieren. Daher die Latkes (ab hier führen Sie alle Links direkt zum jeweiligen Rezept).
Was den Rest betrifft: Während meiner Zeit als Austauschschüler im tiefen Süden der Vereinigten Staaten gabs zu Weihnachten wie an Thanksgiving Truthahn. Dumm nur, dass ich Truthahn nicht mag. Als vegetarische Variante stopfen wir daher einen Kürbis. Die traditionelle Füllung, das stuffing auf Brotbasis, kann nämlich ganz lecker sein, sofern man es nicht unterwürzt.
Ein Vogel, der nicht fliegt, ist quasi ein Gemüse
Tatsächlich sind die Parallelen zwischen dem Kürbis und dem Truthahn augenscheinlich. Beide können nicht fliegen. Und dank moderner Mastmethoden kann ein zum baldigen Schlachten bestimmter Hochleistungstruthahn sich auch nicht auf den Beinen halten. Wie ein Kürbis liegt er mehr oder weniger regungslos auf dem Boden und wartet auf sein Ende. Es ist also schlichtweg nicht nötig, Beihilfe zu einem Vogelmord zu leisten, wenn ein Kürbis den Job genauso gut machen kann. Wer nun findet, die Kürbissaison sei vorbei: nun, ja. Geerntet wird vor dem Frost. Doch kühl gelagert halten sich Kürbisse den halben Winter über. Suchen Sie auf dem Markt oder bei der Produzentin.
Rund um den falschen Truthahn stellen wir allerlei Beilagen auf den Tisch. Ich habe hierfür das Konzept des potluck dinner als Inspiration beigezogen. Das bedeutet, alle bringen irgendwas mit, und am Ende steht tonnenweise Essen auf dem Tisch. Sie können aber auch alles selber kochen. Wichtiger als die Frage, wer was vorbereitet, ist ohnehin, dass Sie bei allen Gästen erst die Zertifikate prüfen – und wenn Tante Elsbeth ihr Handy vergessen hat, muss sie mit den Hunden draussen im Garten essen. Regeln sind Regeln.
Es steht Ihnen natürlich frei, andere und weitere Gerichte aufzutragen. Wichtig scheint mir einfach, dass die Tafel reich gedeckt ist. Und dass wir für einmal Abstand nehmen vom üblichen Fünfgangmenü mit kunstvoll angerichteten Speisen. Wir haben nun anderthalb Jahre soziale Abkühlung hinter uns. Wird Zeit, dass wir uns zumindest ein bisschen an unsere Abstammung als Höhlenmenschen zurückerinnern.
Neben dem Truthahn (mit Gravy, zum Drübergiessen) und den Latkes begrüssen wir hippen Federkohl mit Feta und Granatapfel in unserer Runde. Ebenso Sellerie, der so tut, als wäre er Bratkartoffeln. Ein schöner Rahmwirsing sorgt für Harmonie, orientalisch anmutende Hackbällchen befriedigen alle, die doch nach Fleisch schreien, und frisch gebackenes Cornbread rundet alles ab. Die Liste lässt sich beliebig verlängern.
Auf Desserts habe ich dieses Jahr verzichtet. Die kann man tatsächlich bei den Gästen in Auftrag geben. Oder man nagt einfach an den trockenen Guetzli, die sowieso den Weg zu Ihnen finden werden. Und überhaupt, wenn man genügend Zeug aufträgt, will sowieso niemand mehr Nachtisch.
Damit wäre Weihnachten dieses Jahr ein bisschen amerikanischer als sonst. Vielleicht, weil der Atlantische Ozean seit bald zwei Jahren so unüberwindbar ist wie nie zuvor in meinem Erwachsenenleben. Ich glaube, ich vermisse Amerika ein wenig. Nicht das aus den Netflix-Serien. Sondern dasjenige wie damals vor zwanzig Jahren, als ich in Brooklyn bei Freunden von Freunden im Esszimmer sass, mit allerlei schrägen Leuten, die ich nicht kannte, und ein wirklich sehr gut aussehender arbeitsloser Musicaldarsteller aus der Küche Schälchen mit Hummerbisque trug.
That’s the spirit of Christmas. Und das hier sind die Rezepte dazu.