Wenn Essen krank macht
Seit den 1980er-Jahren nehmen chronische Krankheiten zu. Erst im Westen, dann fast überall auf der Welt. Was dahintersteckt und wie Sie Ihre Gesundheit schützen.
Von Marie-José Kolly, 11.10.2021
Schweizerinnen erkranken, die aktuelle Pandemie einmal ausgeblendet, immer seltener an Infektionskrankheiten. Immer häufiger dafür an dem, was man «nicht übertragbare Krankheiten» nennt: Sie sind nicht ansteckend, und sie entwickeln sich schleichend. Sie bleiben aber, sind sie einmal da, häufig chronisch bestehen. Bei vielen Menschen führen sie zum Tod.
Ganz typisch für diesen Prozess ist Typ-2-Diabetes. Diese Krankheit ist – anders als Typ 1 – nicht primär als genetische Veranlagung angeboren, sondern entwickelt sich im Laufe des Lebens wegen ungünstiger Essgewohnheiten.
Mittlerweile gibt es nicht nur in reicheren Ländern immer mehr Diabetiker: In den allermeisten Ländern nimmt ihr Anteil zu, weltweit hat er sich zwischen 1980 und 2014 etwa verdoppelt. Und auch verwandte Beschwerden haben zugenommen – Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
All diese chronischen Krankheiten werden hauptsächlich dadurch befeuert (oder gebremst), wie wir leben: Rauchen, übermässiger Alkoholkonsum, mangelnde Bewegung und ungesunde Ernährung sind gemäss Weltgesundheitsorganisation die grössten Risiken.
«Das Essen ist dabei der wichtigste Faktor», sagt der Ernährungswissenschaftler Anthony Fardet vom französischen Institut national de recherche pour l’agriculture, l’alimentation et l’environnement auf Anfrage der Republik und verweist dabei auf verschiedene Studien.
Gerade hier, beim Essen, hat sich über die Generationen sehr viel verändert. Was genau, lässt sich laut Harry Balzer, Experte für Essverhalten und Food-Marketing, mit einer einfachen Frage analysieren:
Wer kümmert sich ums Kochen?
Die Antwort, so Balzer, sei immer schon prägend gewesen für die Entwicklung einer Gesellschaft. Und die typische Antwort auf diese Frage sei, seit Menschengedenken, immer dieselbe gewesen: «Nicht ich.»
Wer also kochte jeweils – und was?
Die allerersten Menschen kochten eigentlich gar nicht. Sie assen, was sie jagen und sammeln konnten – bis zur ersten von vier grossen Ernährungswenden.
1. Das Feuer
Vor vermutlich ein bis zwei Millionen Jahren gewannen unsere nomadischen Vorfahren Kontrolle über das Feuer. Das krempelte ihre Ernährung ein erstes Mal radikal um: Statt roh verzehrten sie ihr Essen nun häufig gekocht.
Anthropologen gehen davon aus, dass dies die Entwicklung des menschlichen Gehirns vorangetrieben hat: Gekochtes Essen ist leichter zu kauen, leichter zu verdauen. Es vergeht also weniger Zeit, bis die Energie – mehr Energie – aus der Nahrung für das Gehirn nutzbar wird. Und die Zeit – viel Zeit –, die Menschen vorher mit Kauen und Verdauen verbracht hatten, wird plötzlich frei: für andere Aktivitäten, die das Überleben sichern oder das Gehirn stimulieren.
So wurden im Laufe der Evolution die Zähne und der Darm von Menschen kleiner. Und ihr Gehirn wuchs: Die erste Ernährungswende brachte uns grosse evolutionäre Vorteile, und von chronischen Krankheiten waren wir noch weit entfernt.
2. Das Feld
Die Bilanz der zweiten grossen Wende dagegen ist durchzogen: Die frühen Ackerbäuerinnen und Viehzüchter vor rund 10’000 Jahren mussten ihr Essen zwar nicht mehr da und dort zusammensuchen, sie waren dadurch aber körperlich auch bedeutend weniger gesund als die Jäger und Sammlerinnen. Erstens fehlte ihnen die Bewegung: An ihre Stelle kam repetitive, mühselige körperliche Arbeit. Zweitens war ihr Essen viel weniger abwechslungsreich als das der Nomaden: Sie ernährten sich mehrheitlich von Getreide. Nährstoffe aus anderen Quellen fehlten, das schwächte ihre Abwehrkräfte.
Zudem begann mit zunehmender Siedlungsdichte die Zeit der Infektionskrankheiten: Je näher die Menschen am Vieh und an anderen Menschen lebten, desto leichter übertrugen sich Krankheitserreger. Schon in der Jungsteinzeit rafften Seuchen ganze Dörfer hinweg.
3. Die Konservendose
Mit der industriellen Revolution vor gut 200 Jahren kam die dritte grosse Ernährungswende und mit ihr die ersten industriell hergestellten Lebensmittel in die Küchen: Konserven.
Zuvor hatten die Menschen von dem gelebt, was ihre Felder und Ställe während einer bestimmten Saison an Nahrungsmitteln hergegeben hatten. Und von ein paar auf traditionelle Art haltbar gemachten Lebensmitteln: gesalzenes Fleisch etwa oder Lagergemüse. Ende Winter, bevor der Frühling neues Gemüse brachte, war die Nahrung in vielen Familien knapp gewesen.
Nun trugen neue Techniken der Haltbarmachung zusammen mit einer immer produktiver werdenden Landwirtschaft zur Lebensmittelversorgung bei. Gerade für Seefahrer oder Soldaten wurde das Leben einfacher: Teile des Kochens hatte nun die Fabrik übernommen, Vitamine etwa konnten über längere Strecken und Zeiträume transportiert werden.
4. Die Chemie
Zurück zum Diabetes, den die vierte grosse Ernährungswende mit sich brachte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen in vielen Staaten die chronischen Krankheiten zu – eben jene Krankheiten, von denen wir wissen, dass sie mit der Ernährungsweise, mit Alkohol, Tabak und mangelnder Bewegung zusammenhängen.
Diese Entwicklung bei der Krankheitslast trat zeitgleich mit einer anderen auf: Menschen – zumindest in den USA – wendeten je länger, desto weniger Zeit fürs Vor- und Nachbereiten von Mahlzeiten auf. (Für die Schweiz und viele andere Länder wurden solche Daten nicht erhoben – oder werden dies erst seit ganz kurzem).
Amerikanische Forscherinnen konnten zeigen: Wenn die Menschen weniger Zeit in der Küche verbringen, nimmt das Übergewicht in der Bevölkerung zu. Und in Ländern, in denen die Menschen weniger Zeit mit Kochen verbringen, ist Übergewicht stärker verbreitet.
Gleichzeitig veränderte sich auch die Antwort auf die Frage «Wer kümmert sich ums Kochen?». Immer häufiger lautete sie statt «Nicht ich» ganz konkret: «Die Lebensmittelindustrie». Wer weniger Zeit fürs Kochen aufwendet, isst öfter auswärts, greift öfter zu Convenience- und Fast Food.
Eine gängige Erzählung hierzu lautet, dass die zunehmende Teilnahme der Frauen am Arbeitsmarkt diese Entwicklung vorantrieb, dass also der Feminismus das Ende des Kochens über die Nation brachte. Aber schon lange habe die Lebensmittelindustrie versucht, in die (zunächst) amerikanischen Haushalte einzudringen, sagt der Ernährungsautor Michael Pollan in seiner Doku-Serie «Cooked». Denn als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, blieb sie zunächst auf den für Soldaten entwickelten Produkten sitzen: Dosen-Schwein, Pulver-Orangensaft, Schoko-Riegel. Mit cleverem Marketing – nicht etwa wegen der erwerbstätigen Frauen – sei diesen Produkten der Sprung in die Küchen Amerikas gelungen.
Diese vierte Ernährungswende, die Verbreitung ultraprozessierter Produkte, ist mittlerweile in allen Regionen der Welt im Gange:
Diese Verbreitung ist also, gemäss Pollan, mehrheitlich vom Angebot – und nicht von der Nachfrage – getrieben. Essen zu verarbeiten und es dann zu verkaufen, ist viel profitabler, als «echte» Nahrungsmittel unverarbeitet zu verkaufen. Je stärker verarbeitet, desto höher die Marge.
Denn die Lebensmittelindustrie «kocht» ganz anders als wir: Sie nimmt die billigstmöglichen Zutaten und macht sie mit allerlei Hokuspokus so attraktiv wie möglich: mit Zusatzstoffen, die wir aus der Kosmetikindustrie kennen. Und mit Zucker, Fett und Salz. Trotz der Energiedichte ist in diesen Produkten der sättigende Teil des Essens nur verdünnt vorhanden: das Protein. Dieses Essen lässt uns also fast schon wieder hungrig zurück.
Und: Hochverarbeitete Lebensmittel wurden komplett auseinandergebaut und anders wieder zusammengesetzt, wie Ernährungsforscher Fardet im Sommer zur Republik sagte. Das verändert, wie wir essen, verdauen und verstoffwechseln – zum Nachteil für unsere Gesundheit.
Mittlerweile zeigen verschiedene Studien für verschiedene Regionen: Ein höherer Konsum solcher Lebensmittel führt zu mehr Übergewicht. Und Übergewicht ist ein Vorläufer chronischer Krankheiten.
Leider erhob man in der Schweiz und in vielen anderen Staaten die Krankheitslast bis in die 1980er-Jahre noch nicht. Anhand neuerer Daten aus China aber lässt sich die beschriebene Entwicklung gut nachvollziehen. (Da der Konsum industriell verarbeiteter Produkte nur für die Jahre 1999, 2006, 2012 und 2017 bekannt ist, haben die Forscherinnen die Werte für die anderen Jahre interpoliert).
Wichtig ist: Über die 30 untersuchten Jahre nahm die Zahl der verzehrten Kalorien in China nicht zu. Sie nahm ab. Was zunahm, war einerseits der Anteil der industriell verarbeiteten Nahrung und andererseits der Anteil an tierischen Produkten. Auch bei den Kalorien gilt also: Qualität vor Quantität.
Mit dieser vierten Ernährungswende steht uns Menschen ständig eine enorme Breite an Lebensmitteln zur Verfügung. Die ungesünderen darunter sind oft besonders schnell und günstig zu haben.
Haben Sie schon einmal selber Pommes frites gekocht? Hochwertige Kartoffeln eingekauft, heimgetragen, geschält, in Frites geschnitten, unter dem Wasser die Stärke abgespült, die Fritteuse – oder den Ofen – vorgeheizt, die Frites gebacken? Viel schneller (und günstiger) kommen Sie zu Pommes frites, wenn Sie sie im Restaurant oder bei Fast-Food-Anbietern bestellen.
Dort kommen Sie auch sehr schnell zu Gerichten, die in anderen Ländern als Festessen gelten. Sushi: gibt es in der typischen japanischen Familie zu speziellen Anlässen. Pekingente: serviert man in China und Hongkong an Hochzeiten.
Unsere Frites, Sushi und Pekingenten haben also einen Haken: Wir essen sie öfter als traditionellerweise üblich.
Wer kümmert sich ums Kochen?
Diese Frage wird die Zukunft unseres Essens bestimmen. «Wenn Sie für Ihre Gesundheit etwas tun wollen, kochen Sie selbst», sagte die Ernährungsforscherin Christine Brombach von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zur Republik.
Denn sonst kochen diejenigen, die dafür bezahlt werden. Und die würden Wege finden, uns so schnell und so billig wie möglich abzuspeisen, sagt der Experte für Essverhalten Harry Balzer.
«Essen Sie alles, was Sie wollen», sagt Balzer, «und geniessen Sie es.» Sie wollen Apfelkuchen? «Essen Sie heute Abend einen ganzen Apfelkuchen.» Mit Keksen und Glace? «Essen Sie alle Kekse, die Sie heute Abend schaffen, und alle Glace. Sie müssen nur etwas tun: Machen Sie sie selbst, den Kuchen, die Glace, die Kekse.»
Sie wissen, was dann passiert.
Wenn Sie auf Balzer hören, werden Sie heute Abend vermutlich weder Apfelkuchen noch Kekse noch Glace essen.
Lange Zeitreihen zu den hier relevanten Variablen sind nicht ganz einfach zu finden. Was häufig existiert, sind Daten zu Todesursachen: Welcher Anteil der Todesfälle geht auf Lungenkrebs, auf Herzinfarkt zurück? Nur haben diese Daten für die vorliegende Fragestellung einen Haken: Mit der Weiterentwicklung des Gesundheitssystems sterben, obwohl immer mehr Menschen an Herz-Kreislauf-Krankheiten erkranken, immer weniger Kranke daran. Die Krankheitslast muss man also anders messen: zum Beispiel via Diagnosen, zu denen aber typischerweise weniger und weniger lange Zeitreihen existieren.