«Zu Tisch» – Teil 1

Was wir wirklich über gesundes Essen wissen

Das ist der State of the Art der Ernährungs­wissenschaft minus den Lärm aus Food-Trends, Wunderdiäten und überschätzten Einzelstudien. «Zu Tisch», Teil 1: Was wir wirklich vermeiden sollten – und warum das gar nicht so schwierig ist.

Von Marie-José Kolly (Text) und Oriana Fenwick (Illustrationen), 28.08.2021

Vorgelesen von Dominique Barth
0:00 / 30:22

Michael sitzt schon, gleich gibts Znacht. Er hat Café complet vorbereitet mit Brot und Käse, Butter und Konfitüre. Anne stellt einen Tomaten­salat dazu, «damit wir auch ein paar Vitamine haben». Vor ein paar Monaten ist sie operiert worden, Brustkrebs.

«Halt», sagt Michael, «sind Tomaten jetzt nicht schlecht für dich? Lass mich nachsehen.» Er kramt sein Smart­phone hervor und tippt.

«Aha! Lieber keine Tomaten, Anne.» Sie legt die Gabel wieder hin. «Moment, nein, das ist von 2014. Ich scrolle … scrolle … Werbung … scrolle … Gut, Tomaten sind okay.» Anne seufzt, spiesst ein paar Tomaten­stücke auf, kaut. Greift nach der Tasse. «Stopp!», ruft er, «im Kaffee sind doch Krebs­erreger?»

Die Szene ist inspiriert von einer Folge der amerikanischen Serie «Grace and Frankie», aber Sie haben fast garantiert schon Ähnliches erlebt. Beim Googeln nach Lebens­mitteln alle möglichen Warnungen gefunden. Sich vorgenommen, weniger Kaffee zu trinken, weniger rotes Fleisch zu kaufen. Oder: die Augen­brauen hochgezogen und weiter­gegessen.

Eigentlich wüssten wir ja so ganz grund­sätzlich, welches Essen gut für uns ist und welches eher nicht: Tomaten oder Speck? Frosties oder Flöckli? Cola oder Wasser? Mediterran oder McDonald’s? Eben.

Trotzdem haben viele Menschen den Eindruck, das offizielle Wissen um gesundes Essen schwanke saisonal und ständig wie die Trend­farben der Mode­­industrie. Das verunsichert. Denn woran kein Zweifel besteht: Was wir essen – und wir tun es mehrmals täglich –, trägt erheblich dazu bei, wie gesund wir bleiben.

«Zu Tisch»

Was die Wissenschaft über gesundes Essen weiss – eine praktische Anleitung ohne Mythen, Hype und Wunderkuren. Zur Übersicht.

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Was wir wirklich über gesundes Essen wissen

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Unser Essen kann uns vor Adipositas, Diabetes, Herzinfarkt und Krebs schützen – oder genau diese Krankheiten befeuern. Perfider­weise entwickeln sie sich schleichend, sie sind also leicht zu verdrängen und schwer zu erforschen. Einer der Gründe, warum die Ernährungs­wissenschaft so anspruchs­voll ist.

Sie befasst sich wegen der zahlreichen Wechsel­wirkungen im menschlichen Körper mit einer hoch­komplexen Materie. Kaffee enthält mehr als 1000 chemische Verbindungen, den menschlichen Darm besiedeln Milliarden von Bakterien. Natürlich ist es kompliziert, zu untersuchen, was das eine genau im anderen auslöst. Zumal wir nicht alle dieselben Kaffee­sorten und -filter verwenden, nicht alle dieselben Gene haben und nicht dieselben Bakterien im Darm.

Diese Komplexität ist ein Einfallstor für Interessen­gruppen: In der Ernährungs­forschung zirkuliert viel Geld aus der Lebens­mittel­industrie. Und die hat ein Interesse daran, dass das Wissen übers Essen diffus daher­kommt – ähnlich wie die Tabak­industrie lange von Zweifeln an der Schädlichkeit von Zigaretten profitierte.

«Wenn Sie industriefinanzierte Studien mit anderen vergleichen, werden Sie sehen: Sie kommen zu ganz anderen Resultaten und ganz anderen Schluss­folgerungen», sagt der amerikanische Psychologe Kelly Brownell, der solche Effekte selber untersuchte. Die Lebens­mittel­industrie sei bei der Suche nach angemessenen Informationen übers Essen das grösste aller Hindernisse, schreibt der genetische Epidemiologe Tim Spector.

Kein Wunder, sind viele Menschen skeptisch.

Ich will es genauer wissen: Warum ist die Ernährungs­forschung so schwierig?

Der britische Epidemiologe Ben Goldacre sagte einmal, in einer perfekten Welt würde er die nächsten 1000 Kinder, die in Oxford zur Welt kommen, zufällig zwei Gruppen zuweisen; dann die einen bis zum Lebens­ende nur frische Früchte und Gemüse essen lassen und die anderen nur Speck und frittiertes Poulet. Er würde sich ansehen, in welcher Gruppe mehr Herz­erkrankungen auftreten, wer einen Tumor entwickelt, wer als Erstes stirbt, wer am meisten Falten bekommt und wer am cleversten ist.

«Aber ich müsste sie alle einsperren», sagte er, «denn niemals könnte ich 500 Menschen dazu bringen, ein Leben lang nur Früchte und Gemüse zu essen.»

Aus ethischen Gründen kann man also die Wirkung von Nahrungs­mitteln nur bedingt so untersuchen, wie man es bei Medikamenten tut. Dann gibt es auch praktische Gründe: «Ich kann ja nicht einen Teller in eine Pille packen und ein Placebo in eine andere», sagt die Ernährungs­wissenschaftlerin Christine Brombach von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Lange verliess man sich daher auf Beobachtungs­studien und fragte viele Leute wiederholt, was sie essen und was sie trinken und wie gesund sie sind. Dabei fand man zum Beispiel einen Zusammen­hang zwischen Kaffee­konsum und Sterblichkeit. Später zeigte sich aber: Kaffee­trinkerinnen sind häufig auch Raucherinnen. Wenn man die Kaffeetrinker-Daten in Raucher und Nichtraucher trennt, verschwindet bei den Nichtrauchern der Zusammenhang.

Um solche Scheineffekte loszuwerden, weist man Probandinnen in sogenannten Interventions­studien zufällig einem Nahrungs­mittel oder einer Diät zu – so würden etwa gleich viele Raucher und Nicht­raucher in der Kaffee- und in der Kontroll­gruppe landen. Solche Experimente entsprechen Goldacres perfekter Welt – nur sind sie auf unperfekte, aber ethisch vertretbare wenige Wochen beschränkt. Danach misst man typischer­weise Veränderungen des Gewichts oder der Blutwerte: die Vorboten chronischer Krankheiten.

«Im besten Fall gehen die Ergebnisse solcher Experimente Hand in Hand mit Resultaten aus Beobachtungs­studien über mehrere Jahre, und wir können physiologisch nachvollziehen, wie sie zustande kommen – dann sind wir auf dem richtigen Weg», sagt Karin Haas, Ernährungs­wissenschaftlerin an der Berner Fach­hochschule. Wenn verschiedene Methoden dasselbe Ergebnis liefern, steigt die Wahr­scheinlichkeit, dass es stimmt.

Nicht nur Experimentdesigns, auch die Messmöglichkeiten haben sich weiter­entwickelt. Die Jodversorgung einer Bevölkerung mass man früher an der Zahl der Kröpfe, später konnte man sie anhand von Urin­proben schätzen, die den Jodkonsum der vergangenen rund 24 Stunden nachweisen. Mittlerweile erkennen Wissenschaftlerinnen auch den Jodkonsum längerer Zeit­spannen im Blut ihrer Probanden, was präzisere Hinweise auf die Versorgung in der Gesamt­bevölkerung erlaubt. «Und so wissen wir heute Dinge, die wir früher nicht wussten, weil wir sie schlicht nicht messen konnten», sagt Jessica Farebrother, die an der ETH Zürich Mikro­nährstoffe untersucht.

Verstärkt wird die Verunsicherung durch ständig neue Schlag­zeilen, welche die Ergebnisse von Einzel­studien vereinfachen oder überzeichnen. Und die davon leben, dass sie Dinge als News präsentieren: «Sind Tomaten jetzt schlecht?» Natürlich kommt mit jeder neuen Studie ein Puzzle­teil hinzu, welches das Bild schärfer macht. Aber am Gesamtbild – am wissenschaftlichen Konsens dazu, was gesunde Ernährung ist – rütteln einzelne Resultate nur sehr selten.

Und diesen Konsens gibt es.

So sagt denn auch der französische Ernährungs­wissenschaftler Anthony Fardet: «Bien manger est d’une simplicité enfantine.» Gesund essen ist kinderleicht.

Was also weiss die Wissenschaft, Stand jetzt?

Drei wichtige Gedanken

Die kurze Antwort ist schnell gegeben. Zum Beispiel in den Worten des amerikanischen Ernährungs­­autors Michael Pollan:

«Eat food. Mostly plants. Not too much.»

Essen Sie Essen. (Richtiges Essen, nicht ultra­verarbeitete Industrie­produkte.)

Mehrheitlich Pflanzen.

Nicht zu viel.

Dabei bedeutet «mehrheitlich Pflanzen» (leider) nicht, dass man einfach jeden Tag Spaghetti mit Tomaten­sauce essen kann und damit dem Krebs den Garaus macht. Fast alle Wissenschaftler, mit denen ich für diesen Beitrag gesprochen habe, nannten spontan noch ein viertes Prinzip: die Abwechslung. So lautet Fardets kurze Antwort auf die Frage nach einer gesunden Ernährung: vrai, végétal, varié. Richtiges, mehrheitlich pflanzliches Essen, und davon eine breite Palette.

Speck, Chips, Kale oder Kurkuma allein werden Sie langfristig weder töten noch vor schlimmer Krankheit bewahren. Hilfreicher als Listen von einzelnen Esswaren, die Gutes oder Schlechtes bewirken sollen, ist nebst den genannten Grund­prinzipien das Wissen darüber, was mit dem Essen in unserem Körper passiert und wie sich das auf unsere langfristige Gesundheit auswirken kann.

Hierfür werden wir aber etwas ausholen müssen. Wir haben Ihnen den umfassenden Überblick versprochen – und den sollen Sie bekommen.

Und da die Grund­bausteine einer gesunden Ernährung zwar kinder­leicht zu verstehen, aber nicht so leicht täglich umzusetzen sind, haben wir dabei auch erprobte Koch- und Ess-Ideen zusammen­getragen.

Beim Lesen werden Ihnen immer wieder Kästchen wie dieses begegnen:

Ess-Ideen …

… für Sie, die abends zu müde sind, überhaupt den Vorrats­schrank zu öffnen (geschweige denn Quiche-Teig zu kneten);

… für Sie, die am Monats­ende beim Gedanken an teures Demeter-Cashew-Mus und Fair-Trade-Avocado nur müde lächeln können;

… für Sie, die jeden Samstag­vormittag auf Poulet, Tofu und Pseudo-Hackfleisch aus Erbsen­protein starren und dabei am Klima herumstudieren;

… und für Sie, die sich ja eigentlich auf jedes Essen freuen möchten und bei einer Schüssel ungesalzenen Hirsebreis mit dampf­gegarten Kohlrabi die Augen schliessen müssen.

Und nun zur detaillierteren Antwort.

Essen essen

An einem Morgen im Sommer 2009 stellten Psychologinnen der amerikanischen Universität Yale für ein Experiment in mehreren Sommer­lagern Frühstücks­tische auf. Dann erschienen die Kinder zum experimentellen Zmorge. Jedes von ihnen wurde zufällig zugeteilt: Die einen kamen an den Tisch mit stark gezuckerten Frühstücks­flocken wie Frosted Flakes oder Froot Loops. Die anderen erhielten nur leicht gesüsste Cheerios, Cornflakes und Rice Krispies. Auf allen Tischen waren nebst den Flocken­packungen auch Milch, Orangen­saft und geschnittene Bananen und Erdbeeren. Die Kinder konnten ihre Schalen beliebig füllen. Sie durften auch Zucker zu den Flocken hinzufügen – so viel, wie sie wollten.

Nach dem Frühstück massen der Psychologie­professor Kelly Brownell und seine Kolleginnen genau, wer was gegessen hatte und wie viel davon. Dann nahmen sie die Nährstoff­profile von Flocken, Früchten, Milch, Saft und Zucker zur Hand und rechneten. Wie hatten sich die Kinder verhalten? Wie viel Zucker hatten sie konsumiert, wie viel Früchte, wie viel Getreide?

Um ihren Zmorge zu süssen, hatten die Kinder am Tisch mit den wenig gesüssten Flakes mehr Früchte genommen als die anderen. Wenn sie Zucker hinzufügten, dann bedeutend weniger, als in den stark gezuckerten Flocken enthalten gewesen wäre. Sie schluckten damit nur halb so viel Zucker wie die Kinder am Tisch mit den süsseren Flocken.

Lebensmittel­konzerne behaupteten gern, Kinder würden das grund­sätzlich gesunde Getreide nur essen, wenn man es ordentlich mit Zucker versetzt. Brownells Experiment ist bestechende Evidenz dagegen: Kinder assen und mochten auch das weniger süsse Frühstück. Und sie nahmen dabei ungefähr so viele Nährstoffe zu sich, wie sie brauchten.

Warum also der Zucker? Nun, «die ungesunden Produkte schmecken richtig gut», sagt Brownell. Die Konzerne panschen ihre Frühstücks­flocken mit Zucker, damit sich die Kinder mehr davon in die Schüssel schütten, als ihr Hunger eigentlich verlangen würde. «So verkauft die Industrie mehr vom Produkt.» Und die Kinder nehmen zu.

Wie Sie ein zuckerfreies Frühstück essen …

… wenn Sie erstens schnell sein müssen, es zweitens geniessen wollen und drittens keine Unsummen für (meist sowieso gesüsstes) Granola ausgeben möchten.

Ich habe wirklich kaum Zeit: Füllen Sie, gleich nachdem Sie am Abend die letzte Pfanne verräumt haben, ein Drittel Ihrer Müesli­schale mit Vollkorn­haferflocken und mischen Sie, wenn Sie mögen, ein paar Sultaninen darunter. Geben Sie Wasser oder Milch dazu, dann ab in den Kühlschrank damit. (Alternative: Am Morgen etwas heisses Wasser über die Hafer­flocken schütten, parat ist die Porridge-Basis.)

Am Morgen einen (halben) geschnittenen Apfel und etwas Zimt oder geschnittene Banane auf die Hafer­flocken geben – im Frühling vielleicht ein paar Erdbeeren, im Sommer Pfirsich oder Aprikose, im Herbst Zwetschgen. Voilà.

Wer am Sonntag 5 Minuten und ein grosses Weckglas hat, mischt darin die Hafer­flocken mit (vielleicht im Ofen gerösteten) Nüssen, Leinsamen und Sultaninen.

Okay, ich habe 45 Minuten pro Monat: Knuspriges Granola – mit Milch, Nature-Joghurt, Früchten oder um es über das oben beschriebene Müesli zu streuen – lässt sich gut mit weniger oder gar keinem Zucker im eigenen Ofen backen. Ich verwende dazu dieses Rezept, etwas angepasst für Tempo und Süsse. Mischen Sie in einer grossen Schüssel:

– 500 g Vollkorn­hafer­flocken
– 300 g Nüsse und Samen (wenn Sie Zeit haben: gehackt)
– 10 EL Leinsamen (wenn Sie Zeit haben: gemahlen)
– 6 EL Olivenöl
– 2 EL Honig
– 2–3 TL Zimt, Kardamom, Ingwer oder Lebkuchengewürz
– 1 TL Vanilleextrakt
– 2 TL Fleur de Sel

Verteilen Sie die Mischung auf zwei mit Backpapier belegten Blechen, schieben Sie sie für eine halbe Stunde in den bei 180 Grad auf Umluft vorgeheizten Ofen. Ab und zu etwas mischen hilft. Auf den Backblechen auskühlen lassen, dann erst in grosse Gläser oder Dosen umfüllen.

Dass die Kinder am Tisch mit den Zucker­flocken das Doppelte der empfohlenen Portion assen, das ist typisch für ultra­prozessierte Nahrungs­mittel – die der französische Wissenschaftler Anthony Fardet nicht als vrai und der amerikanische Wissenschafts­journalist Michael Pollan nicht als food gelten lässt. Ebenfalls typisch: der hohe Gehalt an hinzu­gefügtem Zucker (manche Flakes-Packungen muss man sich bis zur Hälfte mit Zucker gefüllt denken), Salz und Fett.

Hochverarbeitetes Essen ist damit energiedichter als echte Nahrungs­mittel. Was passiert, wenn man nicht nur ein Frühstück, sondern die gesamte Ernährung auf solches Essen umstellt, zeigt eine Studie vom Frühling 2019:

Forscher fütterten ihren Probandinnen zwei Wochen lang Convenience- und Fast Food und zwei Wochen lang selbst gekochtes Essen. Sie servierten zum Beispiel Fertig-Pancakes mit Margarine zum Zmorge, Dosen­ravioli zum Zmittag und Fertig-Kartoffel­stock mit Braten und Dosenmais zum Znacht. Während der Phase mit Selbst­gekochtem assen die Probanden am Morgen etwa griechischen Joghurt mit Apfel­schnitzen, Banane und Erdbeeren, am Mittag Dorschfilet mit Kartoffeln und Salat und am Abend Crevetten-Pasta.

Essen durften sie so viel, wie sie wollten, und der Nährstoff­gehalt beider Diäten war vergleichbar. Dennoch assen die Probandinnen während der ultra­prozessierten Diät mehr. Sie nahmen pro Tag 500 zusätzliche Kalorien auf, und zwar via Fette und Kohlen­hydrate, nicht aber in Form von Proteinen. Nach zwei Wochen Fast Food hatten sie im Mittel ein Kilogramm zugenommen, während sie nach zwei Wochen auf der selbst gekochten Diät ein Kilogramm weniger wogen.

Dadurch, dass hochverarbeitetes Essen dichter mit Kohlen­hydraten und Fetten bepackt ist, wird etwas anderes verdünnt: der Ballast­stoff- und Protein­gehalt. Was das mit unserem Verhalten macht, zeigt die Forschung des australischen Biologen Stephen Simpson.

Dafür muss man sich daran erinnern, wie unser Körper überhaupt zu Energie kommt: Er verbrennt Kohlen­hydrate, Fette oder Proteine. Die Kohlen­hydrate und Fette, die wir aufnehmen, haben primär die Rolle von Brenn­material, Proteine sind aber auch Baumaterial für unsere Zellen. Eine bestimmte Protein­menge ist also unerlässlich, während wir gut mit etwas mehr Fett und weniger Kohlen­hydraten (oder umgekehrt) klarkommen.

Menschen – und ebenso Primaten, Schweine, Mäuse, Heuschrecken – tendieren dazu, so viel zu essen, bis sie ihre Protein­ration erreicht haben. Und dann satt zu sein.

Der Biologe Simpson und seine Kollegen luden Probandinnen dreimal für einen viertägigen Aufenthalt ins Labor ein, wo diese jeweils unter­schiedlich protein­haltiges Essen vorgesetzt bekamen. Die Menüs enthielten 10, 15 oder 25 Prozent Protein, waren aber so manipuliert worden, dass die Unter­schiede nicht auffallen konnten. In den 4-Tages-Perioden, an denen das Protein in ihrem Essen verdünnt war, assen die Probanden mehr – und nahmen mehr Kalorien zu sich. Ausserdem fühlten sie sich nach 4 Tagen auf der protein­verdünnten Diät hungriger.

Wenn also Menschen protein­arme verarbeitete Produkte essen, rutscht mehr Zucker, mehr Fett und mehr Salz die Gurgel runter – so viel, bis der Protein­hunger weg ist.

Doch der relative Protein­mangel ist nicht der einzige Grund dafür, dass verarbeitete Nahrung weniger gut für uns ist als naturnahe Lebens­mittel. Auch die Verarbeitung an sich ist problematisch.

Anthony Fardet vom französischen Institut national de recherche pour l’agriculture, l’alimentation et l’environnement nennt veganes Pseudo­fleisch «essbare Chemie» und spricht bei Frühstücks­flocken von «mit Ballast­stoffen, Mineralien und Vitaminen angereicherten Süssig­keiten». Klar, ultra­prozessierte Produkte enthielten mehr Salz, Zucker und Fett – aber das allein sei es nicht, was die Menschen krank mache, sagt er. «Chronische Krankheiten haben seit den 1980er-Jahren drastisch zugenommen, weil wir Dinge essen, die komplett auseinander­gebaut und anders wieder zusammen­gesetzt wurden.» (Das gilt übrigens auch für den Protein­riegel, den ich im Vorrats­schrank gefunden habe und der 25 verschiedene Zutaten enthält, von denen 20 noch nie in diesem Vorrats­schrank gestanden haben. Ironischer­weise heisst er «No Bullshit Bar».)

Hochverarbeitete Lebensmittel, sagt Fardet, seien eigentlich gar keine Lebens­mittel mehr: «Sie haben in der Regel ihre Matrix verloren.»

Matrix? «Die Umgebung, in der die Nährstoffe leben, und ihre Verbindungen zueinander», sagt Fardet. Sie wurden in hoch­verarbeitetes Essen umgebaut, und das wirkt sich auf verschiedene physiologische Mechanismen aus. Es verändert die Art, wie wir essen, und unsere Stoffwechsel­reaktion. «Denken Sie an eine Orange und an einen industriellen Orangen­saft», sagt Fardet.

Isst man die ganze Orange, kaut man ihr Frucht­fleisch. Das Kauen aktiviert via Gehirn Hormone, die irgend­wann signalisieren: okay, genug gegessen. Auch die Ballast­stoffe aus dem Frucht­fleisch machen satt, indem sie nicht einfach durch den Magen rauschen, sondern eine Weile bleiben und da weiter zerkleinert werden. Das schränkt ein, wie viel wir essen: meistens eben nicht mehrere Orangen nacheinander. Saft hingegen macht kaum satt. Und in ein Glas passen locker zwei, drei gepresste Früchte. «Indem man die Matrix verändert, konsumiert man also zwei- oder dreimal so viel Frucht­zucker», sagt Fardet. Und da der Zucker durchs Pressen aus der Matrix heraus­gelöst wurde, gerät die Glukose, die er enthält, schneller ins Blut als die aus den Orangen­schnitzen, die mit Ballast­stoffen verbunden ist.

Steigt der Blutzucker schnell, so reagiert die Bauch­speichel­drüse stark. Sie produziert das Hormon Insulin, das den Zucker aus dem Blut in die Zellen schubst – also dorthin, wo er erstens als Brenn­material nutzbar wird und zweitens den Blutzucker­spiegel, der möglichst wenig variieren sollte, in Ruhe lässt. Ein starker Insulin­schub, der auf den Blutzucker­schub folgt, drückt aber den Blutzucker­spiegel weit nach unten. Zu weit nach unten. So, dass die Unter­zuckerung bald wieder Hunger auslöst. Ein Teufels­kreis, der langfristig bewirken kann, dass der Körper gegen Insulin resistent wird, und in der Zucker­krankheit gipfelt, auch: Typ-2-Diabetes (Typ 1 geht auf genetische Veranlagung zurück).

Wer regelmässig ganze Früchte esse, sagt Fardet, habe ein geringeres Risiko, diese chronische Krankheit zu entwickeln. Dies gelte aber nicht, wenn man die Früchte in Form von zu 100 Prozent natürlichem Saft trinke. Und wer noch weiter von der ursprünglichen Matrix abrücke und industriellen Saft mit hinzu­gefügtem Zucker trinke, bei dem erhöhe sich das Risiko. Diabetes scheint also stärker mit der Degradierung der Matrix zusammen­zuhängen als mit dem exakten Zucker­gehalt.

Auch raffinierte Kohlen­hydrate – denken Sie an Baguette, Spaghetti oder Jasmin­reis –, die wie Zucker ebenfalls Glukose enthalten, haben im Gegensatz zu Vollkorn­produkten ihre ursprüngliche Form verloren. Geschälte und gemahlene Getreide­körner könne man sich ein wenig wie gepresste Früchte vorstellen, schreibt der Autor Bas Kast in seinem «Ernährungs­kompass». Denn Weissmehl enthält erstens nur einen Teil des Getreide­korns (und damit bedeutend weniger Ballast­stoffe, Vitamine und Mineralien als Vollkorn­mehl, bei dem auch Schale und Keimling mitgemahlen werden). Zweitens wird es beim Mahlen superfein zerrieben. Beides beschleunigt die Aufnahme der darin enthaltenen Glukose­moleküle und jagt den Blutzucker schneller hoch – der sogenannte glykämische Index des Weiss­mehls ist damit höher als jener von Vollkornmehl.

Kast schreibt, er betrachte Weissbrot mittlerweile als eine Art Süssigkeit. Und noch weniger Ballast- und andere Nährstoffe als andere raffinierte Getreide­sorten enthält Reis. «Sushi wirkt im Blut wie ein Dessert», sagt die Zucker­forscherin Bettina Wölnerhanssen vom Claraspital Basel, «da muss man sich nichts vormachen.»

Falls Sie den Quiche- oder Wähenteig nicht fertig und aus Weissmehl kaufen möchten …

… gehts so maximal schnell und minimal ungesund:

250 g Vollkorn­mehl, 1 TL Salz, 1 TL getrocknete herbes de Provence in der Teig­schüssel vermischen. 60 ml Oliven­öl und 120 ml Wasser mit der Gabel einrühren und mit den Händen ohne Kneten zu einer Teigkugel fügen. Auswallen, vielleicht kurz kühl stellen, belegen, backen.

Übrigens wirkt die Matrix auch auf die sogenannte biologische Verfügbarkeit von Nähr­stoffen. Broccoli zum Beispiel enthält vieles, was als schützend gilt. Also hat die Industrie Broccoli-Extrakte produziert. Aber aus der Pille kann der menschliche Körper nur einen Bruchteil der Nähr­stoffe aufnehmen, die er aus dem Broccoli selbst bekäme. Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Kapseln. In seinem natürlichen Umfeld, in der Matrix mit all den anderen Nährstoffen, die dort vorkommen: So kommt unser Körper am besten an Vitamine und Mineralien.

Proteinverdünnung und Matrix­zerstörung tun uns also nicht gut. Und was ist mit dem Zucker im Fertig­food? Er war es doch, der zum grossen Cornflakes­löffeln beigetragen hatte.

«Süss ist eine angeborene Präferenz», sagt Christine Brombach, die an der Zürcher Hoch­schule für Angewandte Wissen­schaften das Ernährungs­verhalten von Menschen erforscht. Wenn unsere nomadischen Vorfahren ab und zu auf Früchte stiessen, war das eine gute Chance auf ein paar Zusatz­kalorien. Vielleicht sogar auf ein kleines Fett­polster auf den Winter hin.

Was in der Evolution aber ganz klar nicht angelegt sei, sagt Brombach, seien Getränke, die Energie enthalten, die aber nicht satt machen: «Evolutionär gabs keine Süss­getränke, da gabs Wasser.» Fragt man Ernährungs­forscherinnen nach dem bestbelegten Wissen in ihrem Bereich, muss man nicht lange auf eine Antwort warten: dass ein hoher Konsum zucker­haltiger Getränke mit dem Auftreten von Über­gewicht zusammen­hängt (was wiederum weitere Krankheiten begünstigt). Das sagt etwa Undine Lehmann von der Berner Fachhoch­schule.

Denn anders als eine Orange rauscht ein Softdrink via Magen fast direkt in den Dünn­darm. Dort spalten Enzyme den Zucker in seine beiden Bausteine, Glukose und Fruktose, damit diese klein genug werden, um die Darmwand passieren zu können. Wie wir gesehen haben, geht das bei einer Flüssigkeit rasend schnell. Die Glukose schiesst via Leber ins Blut (es sei denn, die Leber braucht grad Energie, dann nimmt sie sich etwas davon). Die Blutzucker- und Insulin­schübe, die darauf folgen, sind auf die Dauer ungesund, führen zu Gewichts­zunahme und lösen Entzündungen aus. Aber immerhin versorgt Glukose – die wir auch anders­woher bekommen könnten – unsere Zellen grund­sätzlich mit Energie. Nicht so die andere Hälfte des Zucker­moleküls, die Fruktose. Sie wird von der Leber in Fett umgebaut.

Wer zu viel Fruktose konsumiert, riskiert, irgendwann mit Foie gras hinter der Bauch­decke zu enden. Denn die Leber ist nicht als Fett­speicher gedacht. Sie lagert Fruktose einfach als Fett ein, weil sie sonst nicht weiss, wohin damit. «Früher waren Tumoren oder Hepatitis C die häufigsten Gründe für eine Leber­transplantation», sagt Wölnerhanssen. «Heute sind es Fettlebern.»

Schon 6 Deziliter Süssgetränk pro Tag kurbeln dort die Fett­­produktion an. Ist alle Fruktose Gift für die Leber? «Ein wenig ist okay», sagt Wölner­hanssen. «Der gelegentliche Osterhase. Das, was man im Obst zu sich nimmt. Aber auch nicht täglich 50 Datteln.»

Was tun, wenn man mehr Süsses möchte? Beim Haushalts­zucker könnte es sich lohnen, auf Alternativen umzusteigen. Nur: Auch Honig, Ahorn- und Agaven­sirup, Kokosblüten- oder Roh­rohrzucker behandelt unser Körper wie oben beschrieben – «leider alles Zucker», so Wölner­hanssen. Künstliche Süss­stoffe sind auch keine gute Lösung, denn viele von ihnen stören die Zusammen­­setzung der Bakterien, die unseren Darm besiedeln. Das führt im schlimmsten Fall dazu, dass die Glukose im Blut nicht mehr gut verarbeitet wird, womit langfristig wieder Diabetes droht.

Was besser wegkomme, sagt Wölnerhanssen, seien Zucker­alkohole wie Xylit und Erythrit, die im Handel als weisses Pulver verfügbar sind und pro Teelöffel ähnlich stark süssen wie Haushalts­zucker. Ihre kürzlich publizierte Forschung zeigt, dass die beiden Zucker­alkohole das Sättigungs­gefühl aktivieren, die Magen­entleerung verlangsamen und den Blutzucker­spiegel nur wenig steigen lassen. Zudem gewöhnen sich die Darm­bakterien daran. Die Wissenschaftlerin sagt, sie selber verwende Haushalts­zucker eigentlich nur noch zum Karamellisieren.

Wenn Sie nicht gerade Karamell herstellen müssen, ist Zucker­alkohol eine gute Alternative.

Etwa wenn Sie, sagen wir mal für eine Erdbeer­torte, einen Sablé-Boden brauchen und keine Zeit haben, die Mengen im Kochbuch oder Internet nachzuschlagen.

Mischen oder mixen Sie in gleichen Anteilen: Xylit (Birken­zucker), Mehl, weiche Butter und gemahlene Mandeln. Teig eine halbe Stunde kühl stellen, etwa 1 cm dick auswallen, eine Viertel­stunde bei etwa 170 °C backen, auskühlen lassen, belegen.

Auch brauchbar für Zitronen­torte, Schokoladen­torte – oder Frucht­wähen, wenn Ihnen die Olivenöl-Vollkorn-Variante weiter oben etwas gar karg vorkommt.

Inspiration: Dessert­rezepte des Kochs Jean-Luc Rabanel.

Was weiter tun? Essen Sie doch, wenn Sie mögen, den Zucker da, wo er auch wirklich Spass macht. Im Mille­feuille aus der Confiserie oder in den Himbeer-Amaretti, die Ihr Partner, Ihre Mutter gebacken hat. Als Honig auf dem Brot. Und nicht in der Fertig­salatsauce, wo er einfach mitrutscht und Sie kaum etwas davon haben.

Die Sache mit der Glukose, der Fruktose und dem Foie gras illustriert zwei Dinge: Erstens, was jemand isst, kann sich fundamental von dem unter­scheiden, was im Körper daraus wird. Nicht aller Zucker wird zu Blut­zucker, und nicht jedes cholesterin­haltige Essen lässt das Cholesterin im Blut steigen. Fett essen und Fett ansetzen sind zwei sehr unter­schiedliche Dinge.

Zweitens ist eine Kalorie mit einer anderen nicht gleichwertig. Fruktose und Glukose liefern gleich viel Energie, haben aber ganz unterschiedliche physiologische Effekte. Oft werde so getan, als seien Kalorien wie Benzin, sagt Zucker­forscherin Wölnerhanssen, «als ob man so und so viel reinschütten könne und dann so und so weit damit rennen könne». Eigentlich könne man sich das Kalorien­zählen wirklich sparen.

Das zeigt auch die Cornflakes-Studie von Kelly Brownell: An beiden Tischen nahmen die Kinder ungefähr gleich viele Kalorien zu sich. Aber bei der Gruppe mit den stark gezuckerten Flocken kamen etwa 25 Prozent davon aus raffiniertem Zucker, gut 12 Prozent aus Früchten. Bei der anderen Gruppe stammten nur 14 Prozent der Kalorien von raffiniertem Zucker, dafür knapp 20 Prozent von Früchten.

Der Unterschied spielt eine grosse Rolle, denn «der Zucker­konsum triggert im Gehirn ähnliche Reaktionen wie traditionelle Drogen – Alkohol, Nikotin, Kokain», sagt Brownell: erstens ein starkes Verlangen nach der Substanz. Zweitens gewisse Entzugs­effekte, wenn man sie nicht bekommt. Und drittens gebe es auch immer mehr Evidenz für Gewöhnungs­effekte: Man braucht für denselben Genuss immer mehr Stoff. Wölnerhanssen beobachtet das bei ihren Kindern: «Sie kommen ganz gut ohne Zucker klar. Wenn es aber mal ein Glace gibt, dann fragen sie in den nächsten 48 Stunden ständig nach Süssem.»

Vermutlich haben Sie auch schon von den Experimenten gehört, in welchen Ratten sich bei raffiniertem Zucker oder bei Kokain bedienen dürfen – und sich lieber den Zucker gönnen. Heisst das, dass Zucker stärker abhängig macht als Kokain? Vermutlich nicht: Neuere Experimente legen nahe, dass gezuckertes Wasser ihre Belohnungs­­zentren im Gehirn fast augen­­blicklich erreicht, der Kokain-Effekt aber länger auf sich warten lässt. Wenn man die Experimente so umprogrammiert, dass auch die Zucker-Belohnung verzögert eintritt, wollen die meisten Ratten dann doch lieber Kokain. Dennoch zeigen die Experimente mit Ratten: Zucker aktiviert mächtige Lust­mechanismen. Und das wirkt sich auf die öffentliche Gesundheit aus.

Für die öffentliche Gesundheit zuständig wäre: der Staat.

Bei psychoaktiven Substanzen, die abhängig machen, sei es schwierig, die Regulierung der Eigen­verantwortung zu überlassen, sagt Bettina Wölner­hanssen. Viele Leute wüssten einfach nicht, wie lang der Beipack­zettel des Zuckers wäre, wenn er denn einen hätte. Das Schweizer Bundesamt für Lebens­mittel­sicherheit und Veterinär­wesen setzt aber gleich doppelt auf Eigen­verantwortung: auf jene der Konsumenten. Und auf jene der Lebens­mittel­industrie, die mit dem freiwilligen Unter­zeichnen der «Erklärung von Mailand» verspricht, zugesetzten Zucker in Joghurts und Frühstücks­flocken zu reduzieren.

Ohne gesetzliche Vorschriften nützten gesund­heitliche Empfehlungen aber wenig, sagen manche Ernährungs­­forschende. Denn manche Bevölkerungs­gruppen haben schlicht vergessen, wie das geht: gesund essen und trinken. Gerade für Personen, die wenige finanzielle Möglichkeiten hätten oder kaum über Ernährungs­kompetenz verfügten, würde auch sie sich eine gewisse staatliche Regulierung wünschen, sagt Karin Haas, die an der Berner Fach­hochschule im Bereich gesund­heitliche Chancen­gleichheit forscht. Im Kanton Freiburg haben sich zwei Grossräte daran versucht: Sie wollten den Verkauf besonders zucker­haltiger Getränke und Riegel in Kantinen und Verkaufs­automaten von Sekundar­schulen einschränken oder verbieten. Der Staatsrat lehnte die Motion 2019 ab: Er wollte auf «Sensibilisierung» setzen.

Das Bundesamt für Lebensmittel­sicherheit und Veterinär­wesen schreibt auf Anfrage: «Eine gesetzliche Regulierung [von Zucker­anteilen] ist nicht vorgesehen.» Und auch keine Regulierung der Werbung für entsprechende Produkte.

Ein effizientes Instrument gegen Über­konsum sind Zucker­steuern. Auf die amerikanische Politik­agenda gebracht hatte die Soda-Steuer der Wissenschaftler Kelly Brownell: Mehr davon wäre hilfreich, sagt er. Denn eine Steuer kostet den Staat nichts, sie reduziert den Konsum dieser Getränke, und das eingenommene Geld kann zum Beispiel in Ernährungs­bildung gesteckt werden.

Die Schweiz verzichtet nicht nur auf Steuer und Regulierung, sie subventioniert die Zucker- und Süssgetränk­industrie via Direkt­zahlungen an Zucker­rüben­bauern sogar mit. Die entsprechende Lobby­­gruppe hat im Parlament mächtigen Einfluss, wenn es darum geht, die Regulierung ihrer Produkte zu verhindern. Auch die amerikanische Agrar­lobby hat enge Verbindungen ins Parlament. Dort subventioniert der Staat mit Mais, Soja, Weizen und Fleisch die wichtigsten Bestand­teile hoch­verarbeiteter Nahrungs­mittel. Ultraprozessiertes Essen wird also künstlich verbilligt.

«In den Supermärkten ist es bedeutend günstiger zu haben als echtes Essen», sagt Anthony Fardet. Dazu gebe es Studien aus den USA, aus Belgien, und für Frankreich habe er das kürzlich selber nachgewiesen. Der Preis­unterschied sei gut sichtbar, wenn man die Frage statistisch betrachte und ultra­verarbeitete mit richtigen Lebens­mitteln vergleiche, die nicht oder nur wenig verarbeitet wurden. Ersetzten aber Konsumentinnen einen Teil der hochverarbeiteten tierischen Produkte durch richtiges pflanzliches Essen, könnten sie zu sehr vernünftigen Preisen – oder sogar günstiger – gesund essen, sagt der Forscher.

Wenn Sie doch Verarbeitetes oder Hochverarbeitetes kaufen …

… und dabei die Schäden minimieren möchten, könnten Sie so über die Sache nachdenken:

1. Erkennen Sie, was drin ist?
Wenn Sie beim Einkaufen etwas Zeit haben, lohnt sich ein Blick auf die Zutaten­liste. Dinge, die auch in Ihrer eigenen Küche stehen, sind vermutlich okay. Zusatz­stoffe, bei welchen Sie nachvollziehen können, weshalb das Produkt sie enthält, ebenfalls. Listen mit mehr als 4 oder 5 Zutaten (und schwer auszusprechende Zusatz­­stoffe) sind Hinweise auf hohe Verarbeitungs­grade.

2. Wirbt das Produkt damit, dass es etwas nicht enthält?
«Zucker ist ‹cholesterin­frei›. So what?», schreiben ein Arzt und ein Food-Autor in «Grub Street». Einem Produkt, welches das Label «gesund» für sich beanspruche, sei nicht zu trauen. Was nicht im Produkt drin sei, spiele selbst­verständlich eine Rolle. Aber eben schon auch, woraus es denn bestehe.

Essen essen: Damit ist schon viel gewonnen. Am ehesten kommen Sie um ultraprozessierte Lebens­mittel herum, wenn Sie häufig selber kochen, und seien Ihre Rezepte noch so einfach. Die nette Neben­wirkung davon: Sie schlucken so auch automatisch weniger Zucker.

Aber was soll in die Pfannen kommen, was in den Reise­proviant? Und vor allem: warum eigentlich «mehrheitlich Pflanzen»? Und wie wissen wir, dass «nicht zu viel» gesund ist – und wie viel ist denn genug?

Das lesen Sie in Teil 2 dieses Beitrags.

Sie lesen: Teil 1

Was wir wirklich über gesundes Essen wissen

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