Welche Schweizer Firmen auf Kurs für das 1,5-Grad-Ziel sind
Auch Unternehmen müssen beim Klimaschutz mithelfen. Doch nur wenige haben ein Geschäftsmodell, das mit netto null vereinbar ist. Klimafreundliche Investments, Teil 2.
Von Simon Schmid, 04.10.2021
Dass nicht nur Regierungen, sondern auch Unternehmen ihren Teil zum Klimaschutz beitragen müssen: Diese Idee ist in der Finanzwelt beinahe schon Konsens. Entsprechend hat auch der Bedarf an verlässlichen Informationen zugenommen: Praktisch jede Bank, zahlreiche Pensionskassen und auch viele Privatanlegerinnen möchten heute wissen, wie sie ihr Geld klimafreundlich investieren können.
In welchen Firmen stiftet es einen Nutzen? Wo richtet es Schaden an?
In Teil 1 dieser Serie haben wir eine erste Methode kennengelernt, um diese Frage zu beantworten: die sogenannte Kohlenstoffintensität. Dabei misst man, für wie viele Treibhausgasemissionen eine Firma direkt und indirekt mit ihrem Geschäft verantwortlich ist. Es handelt sich um eine geradlinige und konzeptionell leicht verständliche Zahl, die den Ist-Zustand abbildet.
In Teil 2 lernen wir eine weitere Metrik kennen. Sie blickt nicht zurück – auf das Geschäft, das eine Firma bis jetzt betrieben hat – sondern nach vorne: auf den Klimakurs, den eine Firma mit ihrem Geschäft in Zukunft einschlägt.
Climate Analytics
Das Schöne an dieser Metrik ist, dass sich auch ihre Bedeutung intuitiv gut erschliesst. Das ist gleich aus zwei Gründen nicht selbstverständlich: Erstens fusst ihre Berechnung auf vielen Informationen und ist ziemlich kompliziert. Und zweitens sind Umweltkennzahlen generell nicht sehr anschaulich.
Dazu etwas Kontext. Klimametriken sind eigentlich eine Subdisziplin – eines umfangreicheren Forschungsfeldes, das seit mehreren Jahrzehnten existiert und um die Jahrtausendwende seinen heutigen Namen erhielt: ESG. Die drei Buchstaben stehen für environment, social und governance und verweisen auf die Idee, dass sich Investoren nicht nur für Quartalsgewinn und Bilanz einer Firma interessieren sollten, sondern auch dafür, wie diese Firma in den drei Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung abschneidet.
ESG-Bewertungen sind inzwischen weit verbreitet. Dutzende verschiedener Ratingsysteme sind auf dem Markt und weisen Firmen eine bestimmte ESG-Punktzahl, einen risk score oder eine Rangierung innerhalb ihrer Branche zu. Basis dieser Ratings sind umfangreiche Fragebögen, es werden Berichte von Medien und NGOs ausgewertet und weitere Informationen gesammelt.
Wie ein bestimmtes Rating interpretiert werden muss, liegt am Ende aber oft nicht auf der Hand. Denn die Angaben sind abstrakt: Wenn eine Firma zum Beispiel 6,5 von 10 Umweltpunkten hat, gibt das wohl eine Einordnung, ob diese Firma einigermassen gut zur Umwelt schaut. Aber man kann aus dieser allgemeinen Angabe keinen direkten Bezug zum Thema herstellen.
In den climate analytics ist der Forschungsgegenstand stärker eingegrenzt. Das hat den Vorteil, dass die dortigen Metriken greifbarer sind. Man misst beispielsweise, welchen finanziellen Risiken eine Firma aufgrund der Klimapolitik ausgesetzt ist oder wie viele Emissionen sie einsparen kann.
Oder – und diesen Ansatz verfolgt die Metrik, die wir hier vorstellen: Man gibt an, auf welchem globalen Erwärmungspfad sich eine Firma befindet.
Das Erwärmungspotenzial
Was damit gemeint ist, lässt sich am einfachsten mit einer Grafik erklären. Und deshalb lassen wir das Methodische für den Moment beiseite und tauchen – endlich – in die Daten ein: Hier ist das Erwärmungspotenzial von gut hundert Schweizer Firmen, deren Aktien an der Börse gehandelt werden.
Wir starten unseren Erkundungsgang bei den klimafreundlichsten Firmen. Die besten Werte weisen Firmen wie ABB (Elektrifizierung, Robotik), ams (Sensoren) oder Adecco (Arbeitsvermittlung) auf. Ihnen wird ein Erwärmungspotenzial von +1,5 Grad oder weniger attestiert. Das bedeutet vereinfacht gesagt, dass das Geschäftsmodell dieser Firmen kompatibel ist mit einer Weltwirtschaft, die den Klimaschutz ernst nimmt und in der die Pariser Klimaziele eingehalten werden.
Auch Swisscom (Telekommunikation) kommt mit einem Wert von +1,6 Grad ziemlich gut weg. Das liegt daran, dass mit den Aktivitäten dieser Firma bereits heute verhältnismässig wenig Treibhausgasemissionen verbunden sind. Um IT-Systeme und Handyantennen zu betreiben, braucht es vor allem Strom, und dieser wird in der Schweiz ziemlich sauber hergestellt. Und auch in einer CO2-neutralen Zukunft spielt Kommunikationstechnik eine wichtige Rolle.
Im Temperaturbereich von +2 bis +3 Grad liegt das Erwärmungspotenzial von Pharmafirmen wie Novartis, Roche und Vifor oder von Industriefirmen wie Stadler Rail (Zugsysteme) oder Geberit (Sanitäranlagen). Auch hier gilt: Diese Firmen haben in einer CO2-neutralen Zukunft definitiv ihren Platz. Doch in ihrem Produktionsprozess werden grössere Energie- oder Wärmemengen benötigt, von denen noch nicht ganz klar ist, wie rasch und in welchem Umfang sie sich fossilfrei bereitstellen lassen.
Zum Vergleich: +2,7 bis +3,1 Grad hoch ist auch die Erwärmung, die sich bei der jetzigen Politik einstellen dürfte. Wir sind an dieser Stelle also gefühlsmässig beim Minimalziel angelangt – oberhalb dieser Temperatur dürfte sich eigentlich keine Firma mehr befinden.
Doch dies ist nicht der Fall. Wir haben an der Schwelle von +3 Grad noch nicht einmal die Hälfte der Firmenlandschaft durchquert.
Auf dem weiteren Weg stossen wir nun auf alte Bekannte. Etwa Holcim (Zementherstellung). Wie in Teil 1 dieser Serie gesehen, stösst diese Firma gemessen am Umsatz von allen Schweizer Firmen am meisten Treibhausgase aus. Dass Holcim trotzdem «nur» auf +3,7 Grad kommt, liegt daran, dass der Firma Chancen auf eine Verbesserung eingeräumt werden: Im Zementsektor sind Emissionsreduktionen technisch möglich, zudem hat sich Holcim spezifische Klimaziele gesetzt. Diese werden beim Erwärmungspotenzial berücksichtigt.
Ein nächster grösserer Brocken ist Nestlé. Der Nahrungsmittelkonzern und grösste Schweizer Emittent von Treibhausgasen hat ein noch höheres Erwärmungspotenzial: +5,2 Grad. Grund dafür sind nicht die Fabriken von Nestlé selbst – diese operieren bereits heute ziemlich klimafreundlich – sondern alles, was sich in der Wertschöpfungskette davor und danach abspielt, etwa beim Anbau von Kaffee und Getreide oder in der Milchwirtschaft. Diese sogenannten Scope-3-Emissionen lassen sich im Bereich der Landwirtschaft auch in Zukunft nur schwer reduzieren, nehmen jedoch bei Nestlé einen grossen Stellenwert ein.
Scope-3-Emissionen spielen auch bei Autoneum eine Rolle. In Teil 1 dieser Serie haben wir dies bereits thematisiert: Autoneum liefert Produkte vornehmlich an die Autoindustrie. Die Firma ist also, wenn man den Gebrauch der Endprodukte (Autos) mitberücksichtigt, in einem sehr CO2-intensiven Sektor tätig. Zu einem gewissen Grad dürfte sich dies mit der Elektromobilität zwar verändern. Doch dieser Fortschritt, der sich über die nächsten Jahre erst materialisieren muss, ist in den jetzigen Zahlen erst zum Teil berücksichtigt. So verbleibt Autoneum derzeit mit einem hohen Erwärmungspotenzial von +6,5 Grad in der Statistik.
Abgeschlagen ist schliesslich die Ems-Chemie. Das Erwärmungspotenzial der Herstellerin von Polymeren, Fasern und Harzen wird mit +8,3 Grad angegeben. Das erklärt sich erstens damit, dass diese Produkte viel fossile Energie benötigen. Zweitens geht man nicht davon aus, dass dies in Zukunft merklich anders sein wird. Deshalb erscheint die Ems-Chemie weit unten in der Statistik: Ihr Geschäft ist kaum mit den globalen Klimazielen vereinbar.
Für die Ems-Chemie ist dies natürlich wenig schmeichelhaft. Doch es wirft mit Blick auf das Klimarating selbst auch Fragen auf. Wie kann es sein, dass eine Firma ein Erwärmungspotenzial von +8,3 Grad aufweist, wenn selbst im schlimmsten Szenario, das der Klimarat in seinem jüngsten Bericht beschreibt, die globale Temperatur «nur» um maximal rund +6 Grad ansteigt? Und wie passt das Statement der Ems-Gruppe, ihre Werke würden weltweit bereits CO2-frei produzieren, zu einem Erwärmungspotenzial von +8,3 Grad?
Forscher im Dilemma
Die Antworten darauf sind selbst für die Leute, die diese Metriken erstellen, nicht ganz einfach zu geben. Denn sie stecken im Dilemma: Einerseits brauchen sie eine konsistente Methodik, die sich auf sämtliche Firmen anwenden lässt. (Dazu gehört auch, Grössen wie den Treibhausgasausstoss zu schätzen, wenn die Datenlage nicht besonders gut ist.) Andererseits hat jede Firma ihre Besonderheiten – manchmal lässt sich dies nicht gut modellieren. So muss immer wieder im Einzelfall geprüft werden, ob eine Ausnahme gemacht und eine Korrektur angebracht wird, die dem Modell zuwiderläuft.
Gut möglich, dass dieses Dilemma bei der Ems-Chemie nicht optimal gelöst wurde, und dass die Klimaschädlichkeit im Erwärmungspotenzial etwas überzeichnet wird. Vielleicht wären auch +6 oder +7 Grad angemessen.
Doch unabhängig davon, welchen Wert diese Klimametrik genau annimmt, sendet sie eine klare Botschaft aus: Firmen wie die Ems-Gruppe – oder auch Lonza (Pharma, +5,9 Grad), Emmi (Milchprodukte, +5,5 Grad) und Richemont (Luxusartikel, +4,4 Grad), um nur ein paar zu nennen – stehen vor grossen Herausforderungen. Damit ihr Geschäft vereinbar wird mit dem Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken, muss der CO2-Ausstoss sinken. Und zwar – und das ist das Fiese aus Sicht dieser Firmen – nicht nur in ihren eigenen Fertigungshallen, sondern in der gesamten Weltwirtschaft.
Warum das so ist, wird nachvollziehbar, wenn man eine Stufe tiefer in die Methodik hinter dem Erwärmungspotenzial eintaucht. Ein gutes Anschauungsbeispiel dafür ist Holcim – genau, die Zementproduzentin, die trotz ihrer vielen Emissionen überraschend gut abschneidet (+3,7 Grad).
Wie kommt eine solche Temperaturangabe genau zustande?
Blick hinter die Kulissen
Auskunft darüber gibt die folgende Grafik. Sie zeigt vier Komponenten. Drei davon haben wir im Teil 1 bereits kennengelernt: Es sind die Teilbereiche Scope 1 (direkte Emissionen im Betrieb), Scope 2 (Strom, Energie) und Scope 3 (alle Emissionen entlang der Liefer- und Konsumkette), aus denen sich die Treibhausgasbilanz einer Firma zusammensetzt. Dazu kommt eine Komponente, die als Kühlungspotenzial bezeichnet wird.
Für jede Komponente wird zunächst ein eigener Temperaturwert berechnet. Aus dem Durchschnitt davon ergibt sich dann das Erwärmungspotenzial.
Auffällig hoch (+10 Grad) ist der Temperaturwert im Scope 2, der die Brennöfen in den Zementwerken umfasst. Daraus lässt sich ablesen: Holcim kann nur klimafreundlicher werden, wenn es gelingt, den Herstellungsprozess selbst emissionsärmer zu gestalten.
Ziemlich hoch (+7,1 Grad) ist aber auch Scope 3. Verantwortlich dafür sind die Emissionen, die beim Abbau des Rohmaterials und bei der Verarbeitung des Zements auf den Baustellen anfallen. Das unterstreicht: Nur wenn die Bauwirtschaft insgesamt klimafreundlicher wird – zum Beispiel die Lastwagen, Betonmischer und sonstigen Baumaschinen weniger Emissionen verursachen – kann auch Holcim eine gute Klimametrik erhalten.
Auffallend niedrig ist schliesslich das Kühlungspotenzial (-8,7 Grad). Diese vorausblickende Komponente soll der technischen Entwicklung Rechnung tragen. Was es damit bei Holcim auf sich hat, haben wir bereits erwähnt: Die Autoren rechnen damit, dass die Firma in der Zementherstellung klimafreundliche Innovationen einführt und künftig CO2-ärmer produziert.
Ich will es genau wissen: Wie wird das Erwärmungspotenzial berechnet?
Bei der Berechnung des Erwärmungspotenzials werden Daten auf der Makroebene (zum globalen Klima und zur Weltwirtschaft) mit Daten auf der Mikroebene (zur einzelnen Firma) kombiniert. Drei Schritte sind dafür notwendig:
Es braucht zunächst ein globales Klimamodell, das einen Zusammenhang zwischen dem Ausstoss von Treibhausgasen und der Erwärmung herstellt. Dieses Modell stammt unter anderem vom Umweltprogramm der Uno und wird auf einzelne Sektoren heruntergebrochen: Wie viele Emissionen hat ein bestimmter Sektor in einem bestimmten Temperaturszenario zugute? Und wie kohlenstoffintensiv darf eine Firma in diesem Sektor folglich produzieren?
Als Nächstes folgt der Einzelabgleich mit den Scope-1-, Scope-2- und Scope-3-Emissionen der betreffenden Firma. Wie kohlenstoffintensiv ist die Tätigkeit der Firma in diesen drei Domänen tatsächlich? Wie intensiv wird sie in zehn Jahren sein (wenn sie ihre Reduktionsziele umsetzt)? In Kombination mit dem Klimamodell wird für jeden Scope so ein eigener Temperaturwert kalkuliert.
Ergänzend kommt das Kühlungspotenzial hinzu. Damit gemeint sind Dinge wie die E-Mobilität oder Solarpanels, die das Potenzial haben, nicht nur die CO2-Bilanz der Firma selbst, sondern der ganzen Wirtschaft aufzubessern. Um das Kühlungspotenzial zu ermitteln, stützen sich die Autorinnen etwa auf Patente, die eine Firma angemeldet hat, oder schlicht auf Schätzungen. Auch das Kühlungspotenzial wird in Form eines Temperaturwerts angegeben.
Um zum finalen Temperaturwert zu kommen, wird ein gewichteter Durchschnitt aus den Werten der drei Scopes sowie des Kühlungspotenzials gebildet. Die Gewichte der drei Scopes ergeben sich dabei sektorspezifisch aus den Emissionsdaten: In der Autoherstellung hat der Scope 3 (die Emissionen beim Endverbrauch) beispielsweise ein viel höheres Gewicht als im Transportgewerbe, wo vor allem der Scope 1 (direkte Emissionen) entscheidend ist. Das Gewicht des Kühlungspotenzials bestimmen die Autoren schliesslich nach eigenem Ermessen.
Nun haben wir bereits wieder ziemlich viele Worte verloren – und das nur, um eine einzige Datenquelle zu beschreiben! Sorry dafür. Hoffentlich ist es bei aller Liebe zum Detail trotzdem gelungen, zwei Dinge klarzumachen:
Erstens: Die perfekte, über jeden Zweifel erhabene und universell einsetzbare Klimametrik gibt es noch nicht – dafür ist die Datenlage momentan noch zu wacklig. Und selbst wenn sich das Reporting von Emissionsdaten laufend verbessert, wird es die «endgültige» Klimametrik wahrscheinlich nie geben.
Denn eine solche Metrik zu konstruieren, bedeutet immer auch, Entscheide zu treffen, die man auch anders treffen könnte. Zum Beispiel darüber, welche Reduktionsziele von Firmen man als glaubwürdig erachtet und welche nicht, bis zu welchem Zeitpunkt diese Ziele erfüllt sein müssen und so weiter. Einen gewissen Spielraum hat man als Klimametrik-Autorin also immer.
Und zweitens: Egal, wie man eine Klimametrik konzipiert – die Chance, dass am Ende bei einer ähnlichen Gruppe von Firmen die Warnlampe aufleuchtet, ist trotz aller methodischen Auswahlmöglichkeiten relativ gross.
Welche sind es und warum? Wir kommen in dieser Serie darauf zurück.
Die Daten stammen ursprünglich vom Finanzdatendienstleister MSCI. Die in Zürich ansässige Globalance Bank hat als Anwenderin in wenigen ausgewählten Sektoren Modifikationen am Gewicht vorgenommen, welches den Bereichen Scope 1 bis 3 und dem Kühlungspotenzial beigemessen wird. Weil zum Sektor Banken keine zuverlässigen Scope-3-Daten vorliegen, wurde dieser aus dem Briefing ausgeklammert.