USA schleichen sich aus Afghanistan, Delta lässt Kurven steigen – und Attentat auf Reporter in Amsterdam
Woche 27/2021 – das Nachrichtenbriefing aus der Republik-Redaktion.
Von Philipp Albrecht, Ronja Beck, Oliver Fuchs, Marie-José Kolly, Marguerite Meyer und Christof Moser, 09.07.2021
Afghanistan: US-Militär räumt Hauptquartier über Nacht
Darum geht es: Anfang Woche verliessen US-Soldatinnen das Bagram Airfield – die Hauptbasis der US-Truppen in Afghanistan, nördlich der Hauptstadt Kabul. Die dort ebenfalls stationierten afghanischen Truppen machen dem Verbündeten harsche Vorwürfe: Die Soldaten hätten nach rund 20 Jahren den Strom abgedreht und sich über Nacht zurückgezogen, ohne die Alliierten vorab zu informieren. Der Vorfall kommt während des gestaffelten Rückzugs der Nato-Truppen, die die afghanischen Streitkräfte im Kampf gegen die islamistischen Taliban-Milizen unterstützt hatten.
Warum das wichtig ist: Die afghanische Regierung sieht sich derweil mit ermutigten Taliban konfrontiert. Angesichts der Brutalität des Gegners, fehlender Ausrüstung und hoffnungsloser Einsätze desertieren derzeit mehr als 1000 afghanische Soldaten in die Nachbarländer. Gemäss Schätzungen wurden in den letzten Jahren rund 45’000 Mitglieder der staatlichen Sicherheitskräfte getötet. Der Truppenabzug folgt auf das Abkommen zwischen den USA und den Taliban, das unter Ex-US-Präsident Donald Trump ausgehandelt wurde. Dabei versprachen die USA und die Nato den Truppenabzug, im Gegenzug dazu sollten die Taliban darauf verzichten, andere Terrorgruppen wie die al-Qaida ins Land zu lassen.
Was als Nächstes geschieht: Die Taliban versuchen nun de facto die Machtergreifung. Der Vormarsch der Extremisten gefährdet insbesondere auch die hart erkämpften Fortschritte bezüglich der Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten. Derzeit nehmen die Taliban Ortschaft um Ortschaft ein, Ziel ist die Hauptstadt Kabul. Eine Option der internationalen Unterstützung wäre ein Einsatz der Uno-Blauhelme. Einem solchen müssten jedoch alle Konfliktparteien zustimmen, auch die Taliban. Ausserdem müsste der Uno-Sicherheitsrat einen solchen Einsatz beschliessen – es ist jedoch wahrscheinlich, dass Russland und China diesen aus machtpolitischen Interessen blockieren. Die USA wollen bis zum symbolträchtigen Datum des 11. September alle Truppen vollständig abziehen.
Niederlande: Journalist in Amsterdam niedergeschossen
Darum geht es: Der niederländische Investigativjournalist Peter R. de Vries ist am Dienstagabend in Amsterdam auf offener Strasse niedergeschossen worden. Der 64-Jährige wurde von einer Kugel in den Kopf getroffen und lebensgefährlich verletzt. De Vries, eine Berühmtheit im Land, berichtet seit Jahrzehnten über Kriminalfälle und das organisierte Verbrechen. Zuletzt trat der Reporter als Vertrauensperson eines Kronzeugen im Mordprozess gegen den mutmasslichen Bandenführer Ridouan Taghi auf.
Warum das wichtig ist: Seit über einem Jahrzehnt haben die Niederlande mit der Brutalität der organisierten Drogenkriminalität zu kämpfen. Der Prozess gegen Ridouan Taghi, der im März 2021 begann, ist der bisher grösste Mordprozess des Landes. De Vries sagte schon vor Jahren, er stehe auf einer «Todesliste». In ganz Europa wurden Journalistinnen in den vergangenen Jahren wiederholt zum Ziel von Hetze oder körperlichen Angriffen. Das «Komitee zum Schutz von Journalisten» zählt 588 getötete Journalistinnen im vergangenen Jahrzehnt (darunter der slowakische Investigativjournalist Ján Kuciak und die maltesische Journalistin Daphne Caruana Galizia).
Was als Nächstes geschieht: Die Polizei setzte eine Sonderermittlungskommission ein und beschlagnahmte Munition bei Hausdurchsuchungen. Zwei Verdächtige wurden festgenommen, einer von ihnen der mutmassliche Schütze. Die Organisation «Reporter ohne Grenzen» forderte eine «unverzügliche, lückenlose Aufklärung dieses Verbrechens». Die genauen Hintergründe sind noch unklar. Stand Donnerstagabend ringt de Vries im Krankenhaus um sein Leben.
Coronavirus: Delta lässt die Infektionen wieder ansteigen
Darum geht es: Das war die Woche, in der die Virusvariante Delta in Europa endgültig Fuss fasste. In vielen Ländern sind die seit Längerem sinkenden Fallzahlen vorerst wohl passé. Die bestätigten Infektionen nahmen in der vergangenen Woche auch in der Schweiz erstmals wieder leicht zu, die Reproduktionszahl liegt nun über 1 (eine infizierte Person steckt also im Mittel mehr als eine weitere an). In Grossbritannien ist eine Debatte um den Plan der Regierung entbrannt, am 19. Juli erstmalig alle verbliebenen Schutzmassnahmen aufzuheben.
Warum das wichtig ist: Delta ist bedeutend ansteckender und macht bedeutend kränker als das Virus, mit dem wir vor einem Jahr in den Sommer starteten (siehe dazu auch den Republik-Explainer von vergangener Woche). Und die Schweizer Impfkampagne läuft langsamer als noch Anfang Juni, ähnlich wie in den Nachbarländern. Beides bedeutet: Da ist Potenzial für exponentiell zunehmende Infektionen und damit auch viele Spitaleintritte. Auch in den USA ist der Wiederanstieg der Corona-Fälle auffällig. Dabei steigen die Infektionen stärker im Landesinneren, wo noch besonders viele nicht-immune Personen leben. An den Küsten dagegen sind mehr Menschen geimpft und die entdeckten Fälle nehmen nur leicht zu.
Was als Nächstes geschieht: Viele Staaten erleichtern ihren Bürgerinnen den Zugang zur Impfung: Impfen ohne Termin, impfen an den Orten, wo sich schwer zu erreichende Menschen aufhalten, impfen bei Kaffee und Gipfeli. Dadurch, und durch intensives Testen und Contact-Tracing sowie gezielte Schutzmassnahmen, kann diese Trendwende möglicherweise aufgefangen werden. Immerhin zeigt sich auch der Effekt der Impfungen deutlich: In Grossbritannien steigen die Kurven der Spitaleinritte und Todesfälle sehr viel langsamer als in vergangenen Wellen.
USA: Nachfolger von Jeff Bezos führt nun Amazon
Darum geht es: Andy Jassy hat diese Woche den Chefposten des mächtigsten Unternehmens der Welt übernommen. Der 53-jährige Manager und langjährige Stellvertreter von Amazon-Gründer Jeff Bezos stieg vor 24 Jahren als Marketing-Mitarbeiter ins Unternehmen ein und baute ab 2003 Amazon Web Services (AWS) auf, den inzwischen profitabelsten Geschäftsbereich. Bezos, der seit der Gründung 1994 CEO war, hat sich aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen und präsidiert nun den Verwaltungsrat. Daneben will sich der 57-Jährige anderen Projekten widmen, etwa seinem Raumfahrtunternehmen, das am 20. Juli – mit Bezos persönlich an Bord – seinen ersten bemannten Flug ins All durchführen will.
Warum das wichtig ist: Amazon ist das Mass aller Dinge im globalen Onlinehandel. Der Konzern besitzt Logistikzentren in 19 Ländern, beliefert Endkunden auf allen Kontinenten ausser Afrika und ermöglicht Anbietern in 188 Ländern, ihre Produkte auf dem Amazon-Marktplatz zu verkaufen. Selbst in der Schweiz, wo kein Logistikzentrum betrieben wird und Endkundinnen nur mit einem beschränkten Angebot beliefert werden, ist Amazon der zweitgrösste ausländische Onlinehändler (nach Zalando). Letztes Jahr haben Schweizer Kunden 867 Millionen Franken auf Amazon.de, Amazon.fr und Amazon.it ausgegeben, wie eine Schätzung der Beratungsfirma Carpathia zeigt. Wichtiger ist die Schweiz für AWS: Die Cloud-Computing-Tochter ist in Genf und Zürich präsent. Nächstes Jahr soll in der Nähe von Zürich ein AWS-Rechenzentrum eröffnet werden
Was als Nächstes geschieht: Andy Jassy muss zum Amtsantritt gleich mehrere Brandherde löschen – Kartellwächter haben es auf die dominante Stellung des Konzerns abgesehen. Etwa in den USA, wo die Staatsanwaltschaft von Washington DC ein Verfahren wegen Missbrauchs der Marktmacht eingeleitet hat. Oder in der EU, wo Amazon wegen ähnlicher Vergehen eine 19-Milliarden-Dollar-Strafe droht. Und dann ist da noch Lina Khan: Die von US-Präsident Joe Biden eingesetzte neue Chefin der Wettbewerbs- und Verbraucherschutzbehörde gilt als Big-Tech-Schreck, weswegen Amazon bereits offiziell beantragt hat, sie wegen Befangenheit aus laufenden und künftigen Amazon-Untersuchungen auszuschliessen.
Schweiz: Stammen Chemikalien für Giftgasproduktion in Syrien aus Basel?
Darum geht es: 5 Tonnen Isopropanol und 280 Kilogramm Diethylamin sollen Ende 2014 von der Brenntag Schweizerhall AG in Basel nach Syrien geliefert worden sein. Ein Grossteil davon, so berichtete die «SonntagsZeitung» unter Berufung auf einen syrischen Ex-General, soll für die Herstellung der Chemiewaffe Sarin verwendet worden sein.
Warum das wichtig ist: Isopropanol und Diethylamin sind sogenannte Dual-Use-Chemikalien. Sie werden zur Herstellung von medizinischen Schmerzgels benötigt – wie zum Beispiel Voltaren Emulgel, auf das Novartis die Lizenz hat. Im Verhältnis 1:1 gemischt mit einer zweiten Chemikalie resultiert Sarin, ein Nervenkampfstoff. Das Westschweizer Fernsehen RTS hatte die Lieferung der Chemikalien bereits vor drei Jahren publik gemacht. Angeblich sollte die Lieferung an eine Firma gehen, die damit Medikamente herstellen wollte. Der Verdacht: Basel wurde als Nicht-EU-Lieferstandort dazu benutzt, um internationale Sanktionen zu umgehen. Tatsächlich sollen die Chemikalien in Waffenlabors von Diktator Bashar al-Assad gelandet sein. 2013 und 2017 starben in Syrien zwischen 400 und 1800 Menschen an Sarin aus syrischen Armeebeständen.
Was als Nächstes geschieht: Brenntag und Novartis stellen sich auf den Standpunkt, sich an alle damals geltenden Regeln gehalten zu haben. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) habe die Lieferungen ausserdem abgesegnet. Der letztgültige Beweis, dass die Chemikalien zur Produktion von Massenvernichtungswaffen benutzt wurden, ist bisher nicht erbracht.
Zum Schluss: Överwjörkkollerviertägtoller
Woran denken Sie, wenn Sie an Island denken? Gletscher, Vulkane, heisse Quellen und unaussprechlich lange Ortschaftsnamen? Oder an eines der Länder, wo die Menschen aussergewöhnlich lange und ausgesprochen viel arbeiten? Beides wäre korrekt. Obwohl die Isländer in der Liste der glücklichsten Länder der Welt nur Finnland den Vortritt lassen müssen, beklagen sie sich in Umfragen regelmässig über Stress, Burn-out und schlechte Work-Live-Balance. Jetzt zeigen Daten aus zwei grossangelegten Feldversuchen: Die fast 3000 Probandinnen, die einige Jahre bei gleichbleibendem Lohn nur vier statt fünf Tage arbeiteten, erledigten insgesamt gleich viel wie vorher – oder mehr. Wir würden Ihnen gerne berichten, was Island nun mit diesen Resultaten macht, wie es weitergeht und ob es in der Schweiz ähnliche Studien gibt. Aber wir müssen jetzt Mails beantworten.
Was sonst noch wichtig war
Haiti: In der Nacht auf Mittwoch (Ortszeit) haben Unbekannte den Staatschef Jovenel Moïse erschossen und seine Ehefrau verletzt. Zuvor kam es immer wieder zu Protesten gegen den 53-Jährigen, der Mord stürzt das ärmste Land der beiden Amerika tiefer in die Krise.
Japan: Die Olympischen Spiele in Tokyo werden aller Voraussicht nach komplett ohne Zuschauerinnen stattfinden. Das kündigte Premierminister Yoshihide Suga am Donnerstag an, als er über die Stadt (in der die meisten Wettkämpfe stattfinden sollen) den Ausnahmezustand verhängte.
Spanien: Am Samstag gegen drei Uhr morgens wurde der 24-jährige Samuel Luiz von einem homophoben Mob vor einem Club in der nordwestspanischen Stadt A Coruña zu Tode geprügelt. Zehntausende protestieren gegen das Hassverbrechen, und der spanische Premier sprach von einer «grausamen und erbarmungslosen Tat».
Brasilien: Präsident Jair Bolsonaro drohte am Mittwoch damit, das Resultat der Wahlen im kommenden Jahr nicht zu akzeptieren. Wenn das computergestützte Wahlsystem nicht durch Papierzettel ersetzt würde, werde es zu Problemen kommen. Derzeit liegt Bolsonaro in Umfragen deutlich hinter seinem Konkurrenten Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva.
Schweiz I: Die Schweiz stellt zusätzliche 78 Personen und 7 Unternehmen auf die Sanktionsliste gegen Belarus. Die Auflagen sind eine Reaktion auf die Zwangslandung einer Ryanair-Maschine und die Verhaftung des Bloggers Roman Protassewitsch sowie dessen Freundin Sofia Sapega Ende Mai.
Schweiz II: Im kommenden Jahr steigt die CO2-Abgabe auf neu 120 statt wie bisher 96 Franken pro Tonne. Dies, weil die Schweiz ihre Reduktionsziele bei den Emissionen aus der Verbrennung von Heizöl und Erdgas verpasst hat.
USA: Neue Wendung im Prozess um die umstrittene Vormundschaft über die Sängerin Britney Spears. Ihr langjähriger Pflichtverteidiger will sein Mandat niederlegen. Ein Tag bevor der Antrag von Spears' Anwalt publik wurde, hatte der Manager des Popstars gekündigt.
Finnland: Im äussersten Norden des Landes werden derzeit 33,5 Grad gemessen – die Temperaturen sind so hoch wie noch nie in 177 Jahren. Auch Schweden und Norwegen leiden unter einer Rekordhitze.
Kanada: Mit Mary Simon wurde erstmals eine Angehörige der indigenen Gruppe der Inuk zur Generalgouverneurin ernannt – also zur Repräsentantin der britischen Königin Elizabeth II. im Commonwealth-Staat. Das Land wird derzeit von der Entdeckung von Massengräbern erschüttert, die auf die gezielte Ermordung von indigenen Kindern deuten.
Kenia: Das ostafrikanische Land will nach einem Masernausbruch mit 16’000 Mitarbeitern in Tausenden Impfzentren 4 Millionen Kinder gegen die Infektionskrankheit impfen. Die Impfungen waren seit Beginn der Corona-Pandemie mehrheitlich ausgesetzt worden.
Südafrika: In der Nacht auf Donnerstag hat sich der Ex-Präsident des Landes, Jacob Zuma, der Polizei gestellt. Er war vergangene Woche zu einer Haftstrafe von 15 Monaten verurteilt worden, weil er eine gerichtliche Vorladung ignoriert hatte. Gegen Zuma läuft derzeit ein Prozess wegen diverser Korruptionsvorwürfe.
Die Top-Storys
Der Tote von Tram 2. Ein Mann stirbt in einem Zürcher Tram und fährt sechs Stunden unbemerkt durch die Stadt. Wer war er? Und wie konnte das passieren? Die NZZ am Sonntag hat sich auf Spurensuche begeben.
Inselstaat versus Supermacht Taiwan ist de facto ein unabhängiger Staat. Peking akzeptiert das nicht. Die versuchte Einflussnahme aus China ist gewaltig. Arte zeigt in einer einstündigen Dokumentation, wie eine junge Generation computeraffiner Menschen in Taiwan dagegenhält.
Reha für Korrupte. Nicht nur verurteilten Gewaltverbrechern droht nach dem Knast ein Rückfall. Das haben die Behörden in Spanien erkannt. Und das, wie sie sagen, weltweit erste Rehabilitationsprogramm für Betrüger und Korrupte gestartet. Mit in Behandlung: der Schwiegersohn des früheren Königs.
Illustration: Till Lauer