«Entschuldigung, das sind Polizeistaat­methoden»

Das Baukartell ist Geschichte, der Fall des Whistleblowers Adam Quadroni ist es nicht. Er zeigt, wie zerstörerisch dysfunktionale Polizei sein kann. Der ehemalige Basler Polizei­kommandant Markus Mohler analysiert, was schiefgelaufen ist – und erklärt, wie gute Polizei­arbeit auszusehen hat.

Ein Interview von Anja Conzett, 22.06.2021

Der Kanton Graubünden hat das Kapitel Baukartell abgeschlossen. Die parlamentarische Unter­suchungs­kommission (PUK) hat ihre Arbeit getan, die Administrativ­untersuchungen sind beendet. Aber die Geschichte ist noch nicht vorbei.

Denn während Tiefbauamt und das übergeordnete Departement längst aufgeräumt und aufgerüstet wurden, hatte das behördliche Fehlverhalten, das in den ersten Teilberichten abgehandelt wurde, noch kaum Konsequenzen.

Insgesamt fünf Begegnungen hatte der Kartell-Whistleblower Adam Quadroni mit der Kantons­polizei Graubünden. Im besten Fall waren sie problematisch, im schlimmsten Fall unrechtmässig.

In jedem Fall sind sie der Albtraum eines jeden Bürgers, der an den Rechtsstaat glaubt.

Zur Erinnerung:

  • Im August 2015 hat Adam Quadroni einen Termin bei seinem Hausarzt, dem Amtsarzt Martin Büsing. Büsing sperrt Quadroni auf Geheiss der Polizei in seiner Praxis ein, damit ein Polizist ihn dort abholt und nach Chur überstellt, wo er bezüglich eines Konkurs­verfahrens einvernommen wird – ohne Beisein eines Anwaltes.

  • Im Dezember 2016 führt der unterdessen pensionierte Scuoler Polizei­postenchef Tinet Schmidt ohne stichhaltige Gründe eine Hausdurch­suchung bei Quadroni durch und beschlagnahmt einen Teil der alten Jagd­waffen von dessen Vater. Einige Tage später geht Quadroni auf dem Polizei­posten vorbei, worauf ihm Tinet Schmidt unterstellt, er habe dabei Drohungen ausgesprochen. Eine Tonaufnahme, die Quadroni heimlich macht, dient der PUK später als Beweis, dass Schmidts Anschuldigungen offenbar falsch sind. Über sechs Monate lang wird Quadroni das rechtliche Gehör vom Polizei­posten Scuol nicht gewährt – stattdessen versucht Schmidt auf Geheiss seines Vorgesetzten Major Marco Steck, des Chefs der Regionen­polizei Ost, Quadroni als Gefährder einzustufen – «in das System» zu kriegen.

  • Im Juni 2017 wird Adam Quadroni auf dem Heimweg von seiner Jagdhütte von einem Sonder­kommando der Kantonspolizei überfallen und festgenommen. Quadroni ist zum Zeitpunkt der Verhaftung nicht als Gefährder registriert. Grund für den Einsatz: ein Anruf von Quadronis Frau bei Tinet Schmidt, bei dem sie ihm mitteilt, dass es vor einigen Tagen zu einem Vorfall von häuslicher Gewalt gekommen sei und sie ausziehen wolle. Das Verfahren wegen häuslicher Gewalt wurde unterdessen eingestellt – die Einstellungs­verfügung hält fest: Die Aggression ging nicht von Quadroni aus, sondern von seiner Frau, er versuchte lediglich (und zu Recht), seine körperliche Integrität zu schützen. Nach der Verhaftung verhängt der Amtsarzt Martin Büsing eine fürsorgerische Unter­bringung. Quadroni wird mit verbundenen Augen nach Chur überstellt, wo die psychiatrischen Dienste weder eine Fremd- noch eine Selbst­gefährdung feststellen können. Der Einsatz wird später von der PUK und der Administrativ­untersuchung als unverhältnis­mässig eingestuft. Gegen Büsing, Schmidt und Steck laufen in dieser Sache Strafverfahren. Wie bei allen Verfahren gilt die Unschuldsvermutung.

  • Im Juni 2017 werden zeitgleich zu seiner Verhaftung bei Adam Quadroni illegitime Haus­durch­suchungen durchgeführt. Sie werden erst Wochen später rapportiert.

  • Im November 2017 erklärt der Regional­richter Orlando Zegg eigenmächtig eine Anordnung des Kantons­gerichts für ungültig. Daraufhin ordert er fünf Polizisten, die Quadroni bewachen, während seine Frau Sachen aus dem Haus räumt, die den gemeinsamen Kindern gehören, mit denen der Vater seit dem Einsatz im Juni nur unter Aufsicht Kontakt haben konnte. Gegen den Richter läuft deswegen ein Straf­verfahren wegen Amts­missbrauch. Nach dem Einsatz erstatten drei Polizisten Anzeige gegen Quadroni sowie gegen seine Schwester wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte. Zwei Grenadiere, die am Einsatz beteiligt waren, entlasten in ihren Rapporten die Geschwister. Die entlastenden Aussagen werden mutmasslich von einem Polizisten, der nicht am Einsatz beteiligt war, aus der Akte entfernt, wie die Administrativ­untersuchung später zufällig entdeckt. Gegen diesen Polizisten läuft ein Strafverfahren wegen Amts­delikten. Ein Verfahren gegen Major Steck in ebendieser Sache wurde unterdessen eingestellt.

All diese Missstände kamen im November 2019 ans Licht. Viel passiert ist seither nicht.

Die Regierung begnügte sich mit einer halbherzigen Entschuldigung bei Quadroni, ein paar Schulungen und dem Aufgleisen eines Risiko­managements, das noch immer nicht umgesetzt ist.

Disziplinarverfahren gegen die betroffenen Polizisten wurden keine eröffnet. Im Gegenteil: Major Marco Steck wurde 2020 sogar noch für eine Beförderung vorgesehen – obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits als tatverdächtige Auskunfts­person Teil eines Straf­verfahrens war. Erst nach mehrfacher kritischer Bericht­erstattung der «Südostschweiz» wurde die Beförderung gestoppt. Offizielle Begründung: Die psychische und physische Belastung aufgrund des Straf­verfahrens sei für ihn sehr hoch.

Wie schon im ersten Teilbericht betont die PUK auch im zweiten, dass sie keinen direkten Zusammen­hang zwischen dem Baukartell und den illegitimen Polizei­einsätzen gegen den Whistle­blower feststellen konnte.

Wenn dem so ist – wer im Kanton ist dann noch sicher vor polizeilichen Übergriffen? Und viel wichtiger:

Herr Mohler, wie gefährlich ist die Polizei?
Wenn sie alles richtig macht, ist die Polizei nicht gefährlich – respektive, dann wird sie nur denen gefährlich, die selbst eine Gefahr sind. Und damit meine ich vor allem eine Gefahr im Sinne der Ausübung von Gewalt­delikten. Dazu muss man sagen: Die Polizei hat eine äusserst schwierige Aufgabe, denn im Gegensatz zu Bundes­räten, Regierungs­räten oder Richtern hat das, was Polizisten machen, oft eine unmittelbare grund­rechtliche Bedeutung. Ohne Tage oder wochenlang beraten zu können, müssen sie – sur place – innert Sekunden entscheiden.

Zur Person

Markus Mohler war von 1979 bis 2001 Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt, zuvor 12 Jahre lang Staatsanwalt. Unter seinem Kommando wurden 1980 schweizweit die ersten sechs Frauen als Polizistinnen in Uniform am Dienst an der Waffe ausgebildet. Als Lehrbeauftragter für öffentliches, speziell Sicherheits- und Polizeirecht unterrichtete er an den Unis Basel und St. Gallen – und erwirkte, dass Ethik an Polizei­schulen erst Unterrichts- und schliesslich Prüfungs­fach wurde. Unterdessen im Ruhestand, publiziert er weiterhin Fach­literatur, zuletzt «Polizeiberuf und Polizeirecht im Rechtsstaat», in dem er auch den Fall Adam Quadroni beleuchtet. Er erstellt regelmässig Expertengutachten. Früher wirkte er unter anderen für den Bund, die Deza, in deren Auftrag er unter anderem in Moçambique ein Uno-Projekt betreffend Polizeireform zu beurteilen hatte.

Dann kann man einem Major wie Marco Steck also gar keinen Vorwurf machen, wenn er unverhältnis­mässig ein Sonder­kommando losschickt, um jemanden wie Adam Quadroni zu verhaften?
Doch. Das war meines Erachtens lätz. Einen Einzelnen, der bislang nie gewalttätig aufgefallen ist, gleich mit einer Inter­ventions­truppe oder einem Sonder­kommando abzuholen – da hätten beim zuständigen Offizier oder gar Kommando die Alarm­glocken läuten müssen.

Das Argument der Führung war, dass es schnell gehen musste, schliesslich sei es um die Sicherheit der Kinder gegangen. Ist das nicht legitim?
Bleiben wir auf dem Boden. Das Sonder­kommando steht ja nicht Gewehr bei Fuss in Scuol. Die Spezialisten ruft man aus dem ganzen Kanton zusammen, dann gehen sie nach Chur, werden ausgerüstet und sind darauf noch eine ganze Weile ins Engadin unterwegs – in der Zeit haben der Kommandant oder sein Stell­vertreter mehr als genug Zeit zu überprüfen, ob dieser Einsatz rechtens, erforderlich ist, oder man davon absehen muss, weniger einschneidende Massnahmen genügen. Das ist nicht mehr, als die Verhältnis­mässigkeit eines solchen Einsatzes vorweg zu prüfen.

Das Spannende ist hier ja, dass die Personen, die die Polizei angeblich schützen wollte – die Kinder und die Frau –, bereits in Sicherheit waren, als der Zugriff auf Quadroni passierte …
Daher ist für mich dieser Einsatz rechtswidrig.

… die Kinder wurden vor dem Zugriff von der Polizei in der Schule abgeholt. Gäbe es nicht Behörden, die besser darin geschult sind, mit Kindern in Krisen­situationen umzugehen, als die Polizei?
Doch, selbstverständlich. Die Kesb hätte als erste die Situation beurteilen müssen. An ihr hätte es gelegen abzuklären, ob die Kinder tatsächlich Schutz brauchen – und zwar im Gespräch auch mit ihnen. So wurden ebenso die Persönlich­keits­rechte der Kinder meines Erachtens durch das Ausbleiben dieser Gespräche grob verletzt. Sie waren alt genug für solche Gespräche. Man kann Kinder nicht einfach vom Vater fernhalten – sie davor aber nicht einmal anhören. Das ist genauso rechts­widrig wie der Umstand, dass Herr Quadronis Frau einfach die Behauptung der häuslichen Gewalt in den Raum stellen konnte, ohne dass man ihn damit konfrontiert hat, ihm die Möglichkeit gegeben hat, Stellung zu beziehen. Auch da sehe ich eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Ein Verfahrens­grundrecht.

Die Verhaftung war die Eskalation. Aber schon der erste Polizei­einsatz gegen Adam Quadroni ist fragwürdig. Ist es normal, dass ein Amtsarzt einen Patienten einsperrt, damit die Polizei ihn holen kommt und für eine Einvernahme in einem Konkurs­verfahren ohne Anwalt nach Chur überstellt?
(schüttelt den Kopf) Entschuldigung, aber das sind Polizeistaat­methoden. Ein Konkurs­verfahren ist zunächst eine zivilrechtliche Angelegenheit. Besteht der Verdacht auf Konkurs­delikte, kann die Staats­anwaltschaft den Verdächtigen vorladen. Was hat der Amtsarzt damit zu tun? Nichts. Er scheint einerseits instrumentalisiert worden zu sein, andererseits entgegen seinen ärztlichen Aufgaben und dem hippokratischen Eid geflissentlich mitgewirkt zu haben.

Fünf Polizeieinsätze, und bei jedem passieren grobe Fehler. Wie ist das überhaupt möglich?
Hier sollte man Haltungen, die Mentalität in Teilen des Korps genauer unter die Lupe nehmen. Ich war vor einiger Zeit an einem Seminar in Brüssel, an dem es darum ging – canteen culture.

Kantinen-Kultur?
Ja, die Frage lautete: Wie kann man die Bildung von Subkulturen vermeiden? Solche gibt es in den meisten mindestens grösseren Organisationen. Eher anfällig sind Organisationen mit 24-Stunden-Betrieb. Gerade bei Nacht­diensten kommen Gespräche vor, die Angehörige solcher Organisationen bei Tag in der Gegenwart eines Vorgesetzten so kaum führen würden. Deshalb ist es wichtig, dass die Führung aktiv und immer wieder gegensteuert.

Wie sieht das aus?
Das beginnt schon bei der Sprache. Ich erinnere mich, dass ich einmal beim Funk mitgehört habe, wie von «Arsch­fahrern» die Rede war. So hiessen Auffahrts­kollisionen im Slang. Ich habe klargemacht, dass eine solche Sprache nicht geduldet werde. Ich bin auch immer wieder in der Nacht auf die Posten gegangen und habe mit den Dienst­habenden gesprochen, vor allem zugehört. Und immer wieder festgehalten: Wir handeln und sprechen ohne Vorurteile und mit Respekt – egal, was unsere Erfahrung uns sagt. Jeder Fall ist anders.

Erfahrung ist ein interessanter Punkt: Als Polizistin ist man ja nicht nur Wächter, sondern auch Teil einer Gesellschaft, wird von ihr beeinflusst.
Das ist richtig und auch gut so. Aber es birgt auch Gefahren. Der Polizei­postenchef (Tinet Schmidt; Anm. d. Red.) war offenbar jahrzehnte­lang in Scuol tätig, mit den einzelnen Beamten von der Kesb, den Sozialen Diensten und dem Gericht also bestens verknüpft – zwangsläufig durch die Kleinräumigkeit. Damit sind gewisse Risiken verbunden. Was Adam Quadroni hier offenbar gegenüber­stand, war ein riesiger, undurch­dringlicher Behördenklüngel.

Was lässt sich dagegen tun?
1997 haben wir in Basel Community-Policing eingeführt. Wir haben die Polizisten jeweils für fünf Jahre einem Quartier beziehungs­weise Stadtteil zugeteilt, danach mussten sie wechseln, um genau das zu verhindern – informelle Netzwerke, die zu falschen Beurteilungen, Vorein­genommenheit in einzelnen Fällen führen könnten. Das ist in einem grossen Flächen­kanton wie Graubünden schwieriger, aber man muss Lösungen finden.

Falsche Reaktionen gab es nicht nur im Unter­engadin: Ein Polizist aus einem anderen Tal, der nie mit Quadroni zu tun hatte, liess scheinbar Zeugen­aussagen, die Quadroni und seine Schwester entlastet hätten, einfach verschwinden. Wie kommt ein Polizist dazu, so etwas zu tun?
Das dürfte völlig falsch verstandenem Korpsgeist entspringen. Sodann ist die Mauer des Schweigens nicht zu übersehen. Die gibt es in vielen Organisationen und Firmen, wenn Fehler gemacht worden sind, auch in der Polizei. In unterschiedlichem Mass. Wenn es um ein derart schweres Delikt wie die Unter­drückung eines Beweismittels geht, muss man sofort handeln, Strafverfahren aufnehmen – und um der Verschleierungs­gefahr vorzubeugen, allenfalls sogar Polizisten unverzüglich zur Einvernahme kommen lassen. Unverzichtbar, wenn mehrere Polizisten involviert sind, der eine sogar noch der Vorgesetzte des andern ist.

Wie geht man als Kommandant oder Regierungsrat damit um, wenn gegen Polizisten Straf­verfahren laufen?
Das ist eine spezielle Situation. Wenn ein Polizist im Verdacht stand, sich im Amt strafrechtlich relevant verhalten zu haben, haben wir jeweils die Staats­anwaltschaft informiert und gleichzeitig ein Disziplinar­verfahren eingeleitet – dieses aber für die Dauer der Straf­untersuchung sistiert.

Warum ein Disziplinar­verfahren einleiten, das gleich wieder sistiert wird?
Bei einem Disziplinarverfahren sind Beamte auskunfts­pflichtig. In Strafverfahren gelten für sie die gleichen Regeln wie für alle anderen Beschuldigten – sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern, sich selbst nicht belasten zu müssen. Wenn Aussagen aus einem Disziplinar­verfahren in einem Strafverfahren verwendet würden, wäre das rechts­staatlich unhaltbar. Das Disziplinarverfahren dennoch einzuleiten und dann zu sistieren, ist trotzdem richtig. Es wird gegenüber der betreffenden Person offen vermittelt: Das noch zu untersuchende Verhalten kann auch personal­rechtliche Konsequenzen ausserhalb des Strafrechtlichen haben.

Wäre es nicht angezeigt, einen Polizisten, gegen den ein Strafverfahren läuft, zu suspendieren?
Das ist ein schwieriger Entscheid. Erst stellt sich die Frage: mit oder ohne Lohn? Falls ohne Lohn, besteht die Gefahr, personal­rechtlich von einem schwerwiegenden, schlechterdings inakzeptablen Fehlverhalten auszugehen. Sodann «bestraft» man so meistens vor allem die Familie. Mit Lohn? Dann heisst es je nachdem: Nun kriegt er auch noch Geld, ohne zu arbeiten. Zudem sind Innen- und Aussenwirkung zu beachten: Wie wird die Sanktion innerhalb – mit unvollständigem oder auch unzutreffendem Wissen über den Sachverhalt – in puncto Gerechtigkeit angesehen, wie beurteilt die Öffentlichkeit den Umgang mit Fehlern innerhalb der Polizei? Auch da spielen Gerechtigkeits­vorstellungen eine Rolle. Gelten für Polizisten andere Gesetze? Wir haben es jeweils so gelöst, dass wir Polizisten bei der Annahme, es handle sich um eine genügend schwere Pflicht­verletzung, in den Innendienst versetzt haben, bis der Fall abgeklärt war.

Wie misst man Fehlverhalten innerhalb der Polizei?
Dafür gibt es viele Kriterien. Ganz fundamental sind der Schutz der Grundrechte, Treu und Glauben, nach bestem Wissen und Gewissen, Unvoreingenommenheit, Rechts­missbrauchs- und Willkürverbot, Transparenz. Im Basler Polizei­gesetz ist das Gelöbnis mit allen diesen Werten wörtlich aufgenommen. Das ist ein Massstab, auch bezüglich Disziplinar­verfahren – zumindest damals, mittlerweile wurde das Disziplinar­verfahren abgeschafft.

Und wie sieht das konkret aus?
Das kam drauf an: Bei einem leichten Verstoss gab es einen Verweis, damit war die Sache erledigt. Wenn es aber, wie von Ihnen angeführt, um die Unter­drückung von Beweis­mitteln geht, dann ist diese Person bei der Polizei am falschen Platz.

Ein Problem bei den Verfahren dürfte sein, dass die Polizei die Einsätze gegen Quadroni unzulänglich dokumentiert hat, wie die Berichte feststellten.
Das allein könnte schon strafrechtlich relevant sein. Nicht zu protokollieren, ist ein Verstoss gegen den Anspruch auf das rechtliche Gehör – ein Verfahrens­grundrecht. Nicht zu protokollieren, verstösst gegen die Amtspflicht. Siehe das Strafverfahren gegen den ehemaligen Bundes­anwalt. Diese Pflicht geht weit. So haben wir beispielsweise bei geführten Einsätzen wie bei Demonstrationen ein präzises Journal geführt, festgehalten, was wir wann aus welchen Gründen angeordnet hatten. Das muss vollständig sein, um hinterher gegebenen­falls auch die richterliche Kontrolle zu ermöglichen.

Und wer ist dafür verantwortlich, dass protokolliert wird?
Das Durchsetzen der Aktenführungs­pflicht ist klar eine Aufgabe des Kaders. Es ist daher schon erstaunlich, was der Kommandant (Walter Schlegel; Anm. d. Red.) in diesen Berichten dazu aussagt. Ein eigenartiges Führungs­verständnis.

Was ist Ihnen daran aufgefallen?
Dass er sich nicht verantwortlich fühlt, die Arbeit seiner Unter­gebenen inhaltlich zu überprüfen. Wie sind die Prozesse festgelegt, instruiert und deren Befolgung kontrolliert? Das gehört zur Führung. Sehr schön geht dies auch aus dem eben erschienenen Bändchen des kürzlich altershalber zurück­getretenen Kommandanten der Kantons­polizei Zürich hervor. Das ist nicht neu, aber auf anschauliche Weise dargestellt, was alles zur Führungs­verantwortung gehört. Wenn der Chef Regionenpolizei Ost (Major Marco Steck; Anm. d. Red.) erklärt, er habe auf Vollständigkeit geschaut, aber nicht auf den Inhalt, dann ist das schon sehr seltsam. Die Vollständigkeit kann Verwaltungs­personal kontrollieren, aber die Inhalts­kontrolle – das ist Führungssache.

Wie haben Sie das gemacht?
Ich habe 20 Jahre lang praktisch jeden Tag eine Auswahl von Polizei­rapporten gelesen.

Haben Sie dabei auch gravierende Missstände entdeckt?
Unterschiedliche. Einmal zum Beispiel schrieb einer der Polizisten in seinem Rapport, der Betroffene sei gestürzt und habe sich den Kopf angeschlagen – und machte gleichzeitig eine Anzeige gegen den Verletzten wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte. Da konnte etwas nicht stimmen. Der Rapport ging ohnehin an die Staats­anwaltschaft. Mit dem zuständigen Staatsanwalt habe ich darüber gesprochen. Bei der Einvernahme kam dann heraus, der Polizist – ein Schrank von 1,90 Meter – hat dem Betroffenen – einem 1,50 Meter grossen Mann – eine heftige Ohrfeige versetzt, worauf dieser gestürzt ist und sich verletzt hat. Der Polizist ging bis vor Bundes­gericht und wurde schliesslich wegen Amts­missbrauchs verurteilt.

Ab wann wird die fehlende Führung strafrechtlich relevant?
Da ist die Umschreibung der Funktion – auf jeder Stufe – Massstab, das Pflichten­heft oder wie immer man dem sagen will: Was gehört zu dieser Aufgabe? Selektion, Ausbildung, Fortbildung, Führung – an all dem bemisst sich, was zur jeweiligen Amtspflicht der Funktion gehört. Was mir aufgefallen ist: Offenbar hat die PUK bei ihrem Bericht betreffend Polizei nicht realisiert, dass es auch Unterlassungs­delikte gibt. Es geht nicht nur um Handlungen. Eine Amtspflicht­verletzung kann auch darin liegen, dass Polizisten beziehungs­weise vor allem Führungs­personen nicht tun, was sie zu tun hätten. Auch das gilt nicht nur für die Polizei. Wenn das oberste Kader gewisser Banken zum Beispiel klar angeordnet hätte, dass die Gesetz­gebung der Länder, in denen die Firma tätig ist, strikte zu beachten ist, wären wohl Verhaltens­weisen, die zu milliarden­schweren Bussen geführt haben, rechtzeitig vermieden worden.

Wann ist es eine Unterlassung?
Wenn der Chef Regionenpolizei Ost und der Kommandant sagen, sie überprüften nicht, was ihre Unter­gebenen machen, dann ist das aus Sicht der Führungs­verantwortung, die sie tragen, eine Unterlassung. Worin besteht dann ihre Führungs­aufgabe? Genauso, wenn sie Verfahrensrechts­verletzungen nicht verhindern, weil sie keine saubere Protokollierung durchsetzen.

Welche Konsequenzen hätte es für die beiden, wenn ihre Unter­gebenen verurteilt würden?
Das kommt zunächst auf die Urteile an. Wiederum verweise ich auf das schon zitierte Werk des vormaligen Kommandanten der Kantons­polizei Zürich. Ein nicht so alter Bundes­gerichts­entscheid hat übrigens in anderer Sache für Kader­angestellte deutlich strengere Kriterien bezüglich Amts­pflichten festgestellt als bei Unter­gebenen. Das ist auch richtig – man wird schliesslich nicht «gratis» in solche Funktionen gewählt.

Wie viel Einfluss hat man als Kommandant eigentlich darauf, wer in seinem Kader­stab ist?
In der Regel hat man Einfluss. Das ist jedoch von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Entgegen meinem schriftlichen Antrag wurde einmal ein Unteroffizier zu einem Offizier befördert. Ich habe meinem damaligen Departements­chef dann schriftlich erklärt, jede Verantwortung für dessen Fehl­entscheide abzulehnen, und bat ihn, dies mit seiner Unterschrift zu bestätigen. Das tat er.

Sind Ihre Befürchtungen eingetroffen?
Leider. Er hatte etwas Rechtswidriges angeordnet, was ich noch rechtzeitig verhindern konnte. Dem Departements­chef war es dann nicht mehr wohl.

Was macht einen guten Kommandanten aus?
Er oder sie hat eine sehr grosse Verantwortung für das Ganze, für die Polizei, dass sie ihre Aufgaben täglich und auch bei unvorher­gesehenen grossen Problemen erfolgreich und rechts­staatlich einwandfrei erfüllen kann. Er oder sie muss die Organisation und damit alle, die dazugehören, dafür befähigen. Dafür muss ihm die Politik die Mittel geben. Wer wie die Polizei Grundrechte anderer unmittelbar beschränken darf, ja muss, muss selbst grund­rechtlich absolut sauber und überprüfbar arbeiten. Das bedeutet, dass ein Kommandant mit seinem Stab mit sehr viel Umsicht diese vielschichtige Aufgabe in jeder Hinsicht immer wieder voraus­schauend erkennen und wahrnehmen muss. Er muss zudem à jour bleiben, indem er zum Beispiel auch massgebende Gerichts­entscheide, die einen Strafrechts- oder Polizei­bezug haben, für seinen Zuständigkeits­bereich auswertet. Es geht nicht nur um responsibility – sondern auch um accountability.

Was heisst das?
Im Englischen wird öfters deutlicher differenziert zwischen Verantwortung und Zurechen­barkeit. Die Verantwortung ist erst abgesteckt, wenn auch die Zurechenbarkeit – die accountability – definiert ist.

Wie schafft man accountability?
Um im Englischen zu bleiben: The buck stops here, also: Ich bin zuständig und verantwortlich. Je schlimmer die Auswirkungen von Fehlern sein können und je weiter der Kreis derjenigen, die sie begehen könnten, desto höher ist die Verantwortung angesiedelt, solche Fehler zu verhindern. So weiss man beispielsweise seit langem, dass gewisse Bauch­positionen nach Festnahmen lebens­bedrohlich sein können – Asphyxie. Also sind sie zu verbieten und ist die Durchsetzung des Verbots durch den Kommandanten zur Pflicht aller zu machen. Trotzdem scheinen diese Bauch­lagen, wenn auch selten, noch vorzukommen. Bei solchen wichtigen, jeweils neuen Informationen habe ich am Ende der Instruktion alle unterschreiben lassen, dass sie dies gehört und verstanden haben.

Im Fall von Adam Quadroni scheint es keine accountability vonseiten der Polizei zu geben. Was tut man als Bürger in dieser Situation?
Das ist schon nicht so einfach. Im Fall mit Herrn Quadroni scheint mir eine Staats­haftungsklage zweckmässig. Nicht nur die Polizei, auch andere staatliche Stellen haben – wie in den Berichten festgestellt – zu diesen mehrfachen schwer­wiegenden Grundrechts­verletzungen beigetragen. Das trifft auch für die Kinder zu. Ich sähe eine sechs­stellige Summe in diesem Fall keineswegs als übertrieben.

So drastisch sind die Verfehlungen?
Ja. Es handelte sich ja nicht nur um eine Grundrechts­verletzung, sondern eine ganze Serie in schwer­wiegendem Mass. Zudem ist die Würde von Herrn Quadroni durch diese massiven Eingriffe – wiederum bei weitem nicht nur durch die Polizei – schwer verletzt worden. Eine Verletzung von Artikel 7 der Bundes­verfassung! Rechts­staatlich völlig unhaltbar.

Der Umgang der Polizei mit Quadroni lässt jede rechtschaffene Bürgerin erschaudern. Besonders unheimlich: Die Unter­suchungs­berichte lesen sich wie eine Anleitung: «So bastle ich mir einen Gefährder.» Täuscht dieser Eindruck?
Leider nein. Es ist erschreckend, was da «geleistet» wurde – an allen rechtlichen Vorgaben, die es gibt, vorbei. Dabei ist die Risiko­beurteilung, die bei möglichen Gefährdern angewendet wird, nichts Neues. Und es gibt eine ganze Reihe von Bundes­gerichts­entscheiden, die klar festlegen, wie vorzugehen ist.

Wie?
Adam Quadronis Gefährdungseinschätzung – bei der ihm der Polizei­postenchef von Scuol eine absurd hohe Punktezahl attestierte – geht auf das sogenannte HCR-20-Formular zurück, das von David Webster 1997 entworfen wurde. Die Uni Cambridge gab eine Zusammen­fassung zur dritten Neuauflage des Formulars heraus. Darin steht: Ein klinischer Psychologe müsse diese Einschätzung begleiten. Eine solche Beurteilung mit gegebenen­falls derart schwerwiegenden Folgen kann man doch nicht einem Polizei­angehörigen allein überlassen – egal, wie gut er ausgebildet ist. Das ist völlig ausgeschlossen.

Immerhin will der Kanton Graubünden sein Bedrohungs­management bald überarbeiten. Kann so ein Fall Quadroni verhindert werden, wie die Regierung es verspricht?
Es gibt unterdessen überall Bedrohungs­managements. Und ich wiederhole mich: Das reicht im Prinzip so nicht ganz. Wenn der Beurteilungs­prozess hinter dem Risiko-Assessment methodisch nicht gut, fachlich belastbar, überprüfbar aufgegleist wird, ist das aus rechts­staatlicher Sicht gefährlich. Das gilt auch für die Situation, die wir neu durch das PMT haben. So wie der Gesetzes­text jetzt formuliert ist, kann theoretisch jeder Angehörige vom Fedpol entscheiden: Der ist jetzt ein Gefährder.

Mit anderen Worten: Was Adam Quadroni passiert ist, könnte von der Ausnahme zur Regel werden?
Im PMT geht es nicht um die gleichen Massnahmen. Daher hinkt der Vergleich etwas. Aber in Bezug auf die methodisch nicht genügenden Kriterien für die Einschätzung einer Person als Gefährder ist dies der logische Schluss.