Der Kuchen für jeden Lockdown
Bei einem Stück Cholera lässt sich trefflich über die Bewältigung von Epidemien damals wie heute diskutieren. Geschmacksache, Folge 18.
Von Michael Rüegg (Text) und Carmen Palma (Bild), 30.03.2021
Es ist ungewöhnlich, aber nicht ohne Reiz, eine Kochkolumne mit einem Begriff wie «Brechdurchfall» zu beginnen.
Nahrungsaufnahme und Verdauung sind zwei Seiten derselben Medaille. Doch während wir gerne über ein vorzügliches Mahl berichten, das wir in irgendeinem Sterneschuppen zu uns genommen haben, verlieren wir in der Regel kein Wort darüber, wie unser Körper die Menüfolge im Anschluss verwertet hat. Dabei haben wohl die meisten von uns über die Jahre Geschichten gesammelt, die von der Verdauung handeln – in der Regel einer misslungenen. Ich zum Beispiel machte in einem idyllischen Landhotel in der Provence zum ersten Mal Begegnung mit meiner Krustentier-Unverträglichkeit. Und einmal beging ich den Fehler, in Thailand nach dem Genuss eines sehr, sehr scharfen Rindscurrys eine ganztägige Bootsfahrt zu buchen.
War es nun die Epidemie oder nicht?
Falls Ihnen der vorgängige Einstieg nicht behagt, probieren wir es hiermit: Während ich mit Covid-19 zu Hause sass, dachte ich über Epidemien nach, die unser Land in jüngerer Zeit heimgesucht haben. Mit «jüngerer Zeit» meine ich etwa die letzten zwei Jahrhunderte, also seit sich die Schweiz als Bundesstaat versteht. Zu den grössten Übeltäterinnen gehört die Cholera. Witzigerweise kennt man im Wallis einen pastetenartigen Gemüsekuchen gleichen Namens.
Meine erste Begegnung mit ebendieser essbaren Cholera war, um beim Thema Verdauung zu bleiben, am Arsch der Welt. Dieser liegt, wie ich bemerkte, im Walliser Binntal. Das Binntal ist der Wurmfortsatz des Rhonetals, es biegt gegen Süden ab, irgendwann bevor man den Autoverlad Richtung Üsserschwiiz erreicht, die eigentlich die Innerschweiz ist; alles eine Frage der Perspektive. Ich war 2018 für die Republik unterwegs im Wallis und sollte herausfinden, ob der Kanton Ja oder Nein zu den Olympischen Spielen 2026 sagen würde. (Er hat dann Nein gesagt.)
Im Gasthaus Heiligkreuz im hintersten Winkel des Binntals, vor einem steilen Hang, hinter dem bereits das Piemont beginnt, bewirtete uns ein so umtriebiges wie gestandenes animal politique namens Andreas Weissen. Es gab Cholera, und sie war fantastisch. Was ihre anschliessende Verdauung betrifft, tut sich eine Gedächtnislücke auf. Nach dem Essen erzählte Weissen bei Kerzenlicht und mit grossem darstellerischem Einsatz Walliser Sagen. Alles passte irgendwie zusammen und hinterliess eine perfekte Erinnerung, die alle Sinne einbezog.
Mythen ranken sich um die Herkunft des Namens Cholera. In seichten Schweizer Kochheftchen wird die Theorie vertreten, dass während einer Choleraepidemie die Bäuerinnen diese Speise mit denjenigen Zutaten kreierten, die sie noch vorrätig hatten, damit sie das Haus nicht verlassen mussten. Weshalb dieser Kuchen aber ausgerechnet den Namen der todbringenden Seuche trägt, während der er entstanden sein soll – hierfür bleiben die Autorinnen dieser Texte eine Antwort schuldig.
Eher eine Chance auf Richtigkeit hat die These, dass der Begriff irgendwie mit Kohle und Kohleöfen zu tun hat. Doch eine schlüssige Erklärung wurde bislang nicht gefunden.
Sie betreten eine Zeitschleife
Bestechend sind die Hauptzutaten der Cholera: Mehl, Butter, Kartoffeln, Lauch, Äpfel und Käse. Alles Dinge, die man auch noch kurz vor der Hungersnot Ende Februar in der Speisekammer hat, und sollte die Butter bereits ranzig sein, geht man halt mit dem Chessi in den Stall und legt Hand am weiblichen Braunvieh an. Herkunft des Wortes hin oder her, eine Cholera war die ideale Lockdown-Speise für Epidemien des 19. Jahrhunderts.
Was die Krankheit Cholera betrifft – diese soll aus Asien in die Schweiz eingewandert sein. Hier enden aber die offensichtlichen Parallelen zu Sars-CoV-2 bereits, zumindest vorläufig, denn der Choleraerreger ist ein Bakterium, kein Virus. Seine Kernkompetenzen sind Erbrechen und wässriger Durchfall.
In der Schweiz wütete die Cholera zwischen 1830 und 1867 während dreier mehrjähriger Epidemien. Gemäss dem von der Zürcher Medizinhistorikerin Iris Ritzmann verfassten Eintrag im «Historischen Lexikon der Schweiz» war die sogenannte Wissenschaft damals in zwei Lager geteilt. Die Kontagionisten postulierten Isolation, Quarantäne, Meldepflichten und Grenzschliessungen. Ihre Widersacher waren die Miasmatiker. Sie glaubten an lokale Gifte als Ursache und plädierten für hygienische Verbesserungen – und wollten nichts wissen von der Einschränkung des Handels und der Beschneidung individueller Freiheiten. Eine Taskforce gab es unter anderem deshalb noch nicht, weil der Begriff Taskforce noch seiner Erfindung harrte.
In einem jüngeren Artikel in der «Volkswirtschaft» beschreibt Ritzmanns Kollege Flurin Condrau, wie die Cholera soziale Ungleichheiten hervortreten liess, denn ärmere Schichten waren stärker betroffen. Und er identifiziert die grassierende Krankheit als Katalysator vieler im Anschluss an die Hand genommener städtebaulicher Sanierungen. Spätestens bei der Lektüre dieses Textes fühlen wir uns wieder ins Jetzt versetzt, wenn wir etwa lesen: «So wurde während der Epidemien in den Zürcher Fabriken weitergearbeitet. Der Regierungsrat und auch die Stadt setzten alles daran, um Wirtschaft und Handel nicht zu beeinträchtigen.»
Das geht dann so weiter. Wir erfahren auch, dass das Stimmvolk 1882 das in der Folge der Choleraverheerungen entstandene Epidemiegesetz bachab schickte, weil es eine Impfpflicht gegen den Pockenerreger vorsah. Eine spätere Fassung ohne Impfpflicht beschwichtigte den Souverän. Und dann ist da noch der Hinweis, dass das heute in der Schweiz weltberühmte Bundesamt für Gesundheit (BAG) seine Gründung der Choleraepidemie verdankt. Der einzige Koch in der Cholerageschichte ist jedoch Robert Koch, der Entdecker des Erregers.
Das ist nicht weiter schlimm, denn zu viele Köche verderben bekanntlich den Brei. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, für meine erste Cholera einen Walliser Freund in meine Küche zu bitten – in der Hoffnung, etwas Lokalkolorit würde sich günstig aufs Resultat auswirken. Leider kam er ohne Familienrezept, weshalb wir das unten stehende aus diversen im Internet gesammelten zusammenschusterten.
Meine andernorts bereits dargelegte Abneigung gegenüber dem Backen führte dazu, dass mein Walliser Gast die Herstellung des Teigs übernahm. Den Rest teilten wir uns auf. Des vorgesehenen Walliser Bergkäses konnten wir nicht habhaft werden, also ersetzten wir ihn in der Not durch Bündner. Wichtig schien uns, dass der Käse möglichst rezent ist. Das Resultat ist ein pie, ein gedeckter Kuchen. Er ist so simpel, wie er köstlich ist. Man muss sich nur noch die Sonnenterrasse eines Berggasthauses an der Skipiste vorstellen.
Die Cholera
Zutaten für den Teig: 300 g Mehl, 1 TL Salz, 120 g Butter, 1,5 dl Wasser
Zutaten für die Füllung: etwas Bratbutter, 500 g Lauch, 1 Zwiebel, anderthalb säuerliche Äpfel (etwa Kanzi), 500 g festkochende Kartoffeln, gekocht und abgekühlt, Salz, Pfeffer, Muskatnuss, 400 g rezenter Bergkäse, 1 Ei
Das Mehl zusammen mit dem Salz in eine Schüssel geben und vermischen. Nun die kalte Butter beigeben und alles zu Krümeln verreiben. Wasser dazugiessen und ohne Kneten zu einem Teig zusammendrücken. Eine halbe Stunde kühl stellen.
Lauch in feine Streifen schneiden, Zwiebel hacken und zusammen mit etwas Bratbutter in eine grosse Bratpfanne geben. Bisschen sautieren, dann Wasser dazugeben und gedeckt 10 Minuten köcheln lassen. Deckel entfernen und restliches Wasser verdampfen lassen. Vom Herd nehmen und etwas abkühlen lassen.
Kartoffeln schälen und in dünne Scheiben schneiden. Die Äpfel ebenfalls schälen, vierteln, Gehäuse rausschneiden und die Schnitze horizontal in dünne Scheibchen schneiden.
Kartoffeln und Äpfel zum Lauch geben, mit 1 bis 2 TL Salz und einigen Umdrehungen Pfeffer sowie ein paar Reibern Muskatnuss würzen. Alles gut untereinanderbringen.
Vor dem Auswallen wird eine Springform von etwa 25 cm Durchmesser mit einer Randhöhe von 6 cm fleissig ausgebuttert. Vom Teig rund zwei Drittel wegnehmen. Dieses grössere Stück auf die gewünschte Form mit dem Nudelholz auswallen, also Grundfläche der Springform plus Rand. Das geht ganz ordentlich, wenn man es zwischen Schichten von ausgelegter Klarsichtfolie macht. Wenn der Teig die gewünschte Grösse hat, vorsichtig in die gebutterte Form geben, Überflüssiges wegschneiden. Mit einer Gabel inbrünstig den Boden einstechen.
Nun etwa ein Drittel der Füllung auf den Teigboden legen und mit einem Drittel des geriebenen Käses bedecken. Zweites Drittel, wieder Käse drauf und so weiter. Alles gut andrücken, damit keine Luftkammern drin sind. Den obersten Teil der Teigränder auf die Füllung umlegen und mit etwas verquirltem Ei bestreichen.
Restlichen Teig auf dieselbe mühevolle, aber vernünftige Art zu einem Deckel auswallen. Deckel auf die Pastete legen und gut andrücken. Mit einer Gabel ein paarmal in den Teigdeckel stechen und ihn danach mit Ei bestreichen.
In den vorgeheizten Ofen bei 200 Grad geben, Ober- und Unterhitze. Eher auf einer der unteren Rillen, damit der Deckel nicht anbrennt. Nach 45 Minuten rausnehmen und ein paar Minuten abkühlen lassen. Die Cholera schmeckt am besten, wenn sie warm, aber nicht heiss ist.
Was von dort im Glas
Ich hatte ganz vergessen, dass in meinem Keller noch eine Bagatellflasche Petite Arvine liegt. Also griff ich stattdessen nach einem Sauvignon blanc aus der Südsteiermark. Auch weil ich meinem gerade erst wiederkehrenden Geruchssinn noch nicht wirklich traute. Und Sauvignon blancs gehören zu den Weinen, deren Aromen innerhalb eines recht typischen Spektrums liegen. Mit anderen Worten, selbst wenn man nichts riecht oder schmeckt, kann man die Unbekannten aus der Erinnerung in die Gleichung setzen. Idealerweise würde man hier jedoch tatsächlich nach einem autochthonen weissen Walliser wie dem bereits erwähnten Petite Arvine, einem Heida oder Humagne blanc greifen. Es darf ruhig eine teurere und damit gehaltvollere Variante sein, nicht bloss ein Apérowein. Und wem das Fleisch fehlt, der kann beispielsweise eine luftgetrocknete Wurst aufschneiden. Auf alle Fälle besser, als einen langweiligen Blattsalat dazu zu servieren.