Sag, Wallis, wie hast du’s mit den Spielen?

Die Schweiz soll Olympische Spiele austragen. Das Wallis befindet am Wochenende stellvertretend für den Rest des Landes darüber. Wie der Kanton entscheidet, ist weniger spannend als die Frage, warum es so oder so herauskommt. Und was sagt Adolf Ogi?

Von Elia Blülle, Sylke Gruhnwald, Michael Rüegg, Isabelle Schwab (Text) und Mark Henley (Fotos), 05.06.2018

Schloss Valère in Sitten, gesehen vom Gelände des Stade de Tourbillon aus. Schaffen es die Befürworter, das Wallis zu überzeugen, wird hier 2026 das olympische Feuer entzündet.

Eins — Das Wallis würde gern

Das Ding sieht aus wie ein kürzlich geschlüpfter Baby-Bus. Vorsichtig biegt es um die Ecke. Ein Passant überquert achtlos die Strasse – das Kleine bremst sofort. Zögerlich nimmt es wieder Fahrt auf. Navette autonome nennt man das Vehikel in Sitten. Ein Elektrofahrzeug, bei dem vorne und hinten gleich ist, damit es nicht wenden muss. Es setzt seinen Weg fort, die Altstadt hinauf, vorbei am hôtel de ville, dem Rathaus.

Im Gebäude aus dem 17. Jahrhundert sitzt Philippe Varone und lächelt. Wie immer, wenn er von der navette autonome spricht. «Sogar al-Jazeera war hier und hat darüber berichtet», schwärmt Varone, seit Anfang 2017 Stadtpräsident von Sitten, Mitglied der FDP.

Der ehemalige Winzer hat viel vor mit seiner Stadt. Monsieur le président liebt Innovationen. Die selbstfahrenden Kleinbusse sind nur der Anfang. Varone will vorwärts machen mit neuen Mobilitätskonzepten, neuen Energien. Er spricht von der örtlichen Reha-Klinik der Suva, von der Forschung an Neuroprothesen, in Zusammenarbeit mit der EPFL in Lausanne.

Und er will Touristen in seine Stadt holen. Vor fünf Monaten wechselte das Regime auf dem Militärflugplatz. Er wird nun hauptsächlich, ab 2021 ausschliesslich, zivil genutzt. Im Winter bringt die Swiss Touristen von London direkt in den Kantonshauptort. Im Sommer fliegen die Walliser vom Sion International Airport direkt nach Mallorca.

Führungslose Mobilität: Das Experiment mit Smart Shuttles soll Sittens Innovationskraft verdeutlichen.

Gegenüber einer Westschweizer Zeitung vergleicht Varone seine Stadt mit Innsbruck. Nun will Sitten zur «Vierjahreszeiten-Destination» werden. Eine geplante Seilbahn soll den Bahnhof mit der Ortschaft Thyon verbinden und würde die Stadt damit an das Skigebiet «4 Vallées» anschliessen. «Innerhalb eines Tages gelangen Sie von hier nach Verbier, essen dort ein Raclette und sind am Abend wieder zurück», schwärmt Varone.

Der Stadtpräsident liebt die Dynamik. Und er setzt auf ein Vehikel, das ihr noch mehr Kraft verleihen soll: Sitten will Gastgeberin der Olympischen Winterspiele 2026 werden. Dann wird nicht nur al-Jazeera ins Wallis kommen, sondern bis zu 11’000 Journalistinnen aus aller Welt.

«Die Olympischen Spiele haben einen positiven Effekt auf den Tourismus», ist er überzeugt. «In Turin», das Sitten die Spiele von 2006 vor der Nase weggeschnappt hat, «stiegen die Übernachtungen danach um vierzig Prozent.» Und auch Sotschi sei nicht tot, wie einzelne Medien behaupteten: «Mein Schwager war dort und hat sich das angeschaut.» Viele Russen würden ihre Winterferien nun in Sotschi verbringen.

Philippe Varone träumt von der grossen Bühne. Von Milliarden Menschen, die am Fernseher die Schönheit seiner Stadt, seines Kantons, seines Landes erleben werden. Am 10. Juni entscheidet die Walliser Bevölkerung über das Schicksal von Varones Visionen.

«Die Spiele haben einen positiven Effekt auf den Tourismus»: Sittens Stadtpräsident Philippe Varone, Olympiabefürworter.
«Ich habe das Gefühl, das Ganze ist eine Zwängerei»: SP-Grossrat Gilbert Truffer, Olympiagegner.

Traum und Albtraum

«Kurzes Fest. Langer Kater», steht auf den Plakaten, die für ein Nein werben. Mitverantwortlich dafür ist Gilbert Truffer, Grossrat der SP Oberwallis – und bald deren Präsident. Im Erdgeschoss einer schmucken Villa mitten in Visp sitzt er im Besprechungsraum. Früher sass hier die Direktion der Lonza, der grössten Arbeitgeberin im Oberwallis. Nun hat im Erdgeschoss Truffer sein Büro. Mit seiner kleinen Baufirma, auf Betonsanierungen spezialisiert. Ein Stockwerk höher ist die Gewerkschaft Unia eingemietet.

Truffer ist Mitglied der parlamentarischen Kommission Energie und Volkswirtschaft. Sie hat den Hundert-Millionen-Beitrag des Kantons an Sion 2026 vorberaten, bevor der Grossrat ihn verabschiedet hatte. Allerdings ohne Truffers Stimme. Zusammen mit zwei weiteren Kommissionsmitgliedern war er dagegen.

«Ich spürte schon damals, dass etwas nicht stimmt», sagt Gilbert Truffer. «Man hat eine Fassade der Zustimmung aufgebaut.» 101 Grossratsmitglieder sagten Ja, 22 Nein, 5 enthielten sich. Doch Truffer will von mindestens einem Dutzend Parlamentarierinnen wissen, die nur ihren Parteien zuliebe Ja gestimmt haben. Der olympische Funke, er will einfach nicht so richtig überspringen. «Ich habe das Gefühl, das Ganze ist eine Zwängerei.»

Spuren der Vergangenheit: Seit Jahrzehnten versucht das Wallis, Olympische Spiele zu sich zu holen. Im Bild ein schmuckloser Wohnbau in Naters bei Brig.

Alles, was im Wallis Rang und Namen hat, befürwortet die Olympiakandidatur Sitten. Die mächtigen bürgerlichen Parteien – mit Ausnahme der SVP Unterwallis –, Handel, Gewerbe, Hotellerie, Sportvereine. Alle werben sie für ein Ja. Und doch prognostiziert die neuste Umfrage des Westschweizer Radios und Fernsehens einen Nein-Anteil von 58 Prozent.

Profitieren von den Spielen würden Truffers Meinung nach einzig die Bauwirtschaft sowie zu einem gewissen Grad die strukturschwache Region Goms, die flächenmässig einen Grossteil des Oberwallis ausmacht. Dort, im Feriendorf von Fiesch, würden dreissig Millionen Franken in die Infrastruktur fliessen.

«Nachhaltig» ist ein Wort, das in Zusammenhang mit der Kandidatur häufig fällt. «Nachhaltig profitieren» würde der Tourismus im Wallis, sagen die Befürworterinnen. Daran mag Gilbert Truffer nicht glauben. «Wenn ich im Mattertal, wo ich herkomme, mit den Leuten rede, klingt es anders. Die Architekten und Hoteliers sind skeptisch. Gegen aussen geben sie sich als Unterstützer. Aber ihre wirkliche Meinung behalten sie für sich.»

Zumindest die Wissenschaft stützt Gilbert Truffers Skepsis. Eine Studie der Universität Oxford aus dem Jahr 2016 hat die Kosten aller Olympischen Spiele seit 1960 untersucht. Fazit: Sie lagen stets deutlich über den Budgets. Im Schnitt waren die Spiele jeweils 156 Prozent teurer als geplant. Die Studie dient den Gegnern der Kandidatur als Argument gegen alle, die behaupten, die Spiele liessen sich in Sitten ohne Fehlbetrag veranstalten.

Das vorgesehene Budget

Den grössten Teil der Finanzierung übernimmt der Bund.

Bund
IOK-Beiträge 
Kantone
Lizenzen 
Nationale Sponsoren 
Ticketing 
Wallis
Weitere Einnahmen 
Finanzierung in Mrd. Fr.0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5

Quelle: Botschaft des Bundesrates

Die erwarteten Kosten

Der grösste Posten entfällt auf die Organisation.

Durchführung
Infrastruktur
Reserve
Sicherheit
Kosten in Mrd. Fr.0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5

Quelle: Botschaft des Bundesrates

Im Schnitt 156 Prozent über dem Budget

Noch nie haben die Spiele weniger gekostet als budgetiert

WinterGrenoble 1968 0181 % Lake Placid 1980 0324 % Sarajevo 1984 0118 % Calgary 1988 065 % Albertville 1992 0137 % Lillehammer 1994 0277 % Nagano 1998 056 % Salt Lake City 2002 024 % Turin 2006 080 % Vancouver 2010 013 % Sotschi 2014 0289 % 0 450 900 % SommerMontreal 1976 0720 % Barcelona 1992 0266 % Atlanta 1996 0151 % Sydney 2000 090 % Athen 2004 049 % Peking 2008 02 % London 2012 076 % Rio 2016* 051 % 0 450 900 %

Quelle: «The Oxford Olympics Study 2016: Cost and Cost Overrun at the Games», Universität Oxford und Saïd Business School (Juli 2016). Untersucht wurden 19 von 30 Spielen zwischen 1960 und 2016. Alle Werte inflationsbereinigt. *Stand Januar 2016.

Im Fall von Sitten prallt das Misstrauen gegen olympische Grosskotzigkeit auf schweizerisches Selbstvertrauen. Sion 2026 will eine günstige Kandidatur sein – ohne neue Strassen und Stadien, ohne Loch in der Kasse, ohne Korruption. Der Verzicht auf neue Infrastruktur, die Einbindung dezentraler Austragungsstätten – all das entspräche den Zielen, die das Internationale Olympische Komitee für künftige Austragungen gesetzt hat, die «Agenda 2020». Die Spiele sollen kleiner, grüner, vernünftiger werden.

2,4 Milliarden Franken würde Sion 2026 kosten. Vom Bund unterstützt mit rund einer Milliarde, zusätzlich zum Kantonsbeitrag von hundert Millionen, über den das Wallis am kommenden Sonntag abstimmt. Den Rest sollen Sponsoren, Zuschauer, das Internationale Olympische Komitee sowie Standortgemeinden zahlen.

Es stimmt, dass die Walliser Kandidatur im Gegensatz zu früheren Austragungsorten auf grosse Investitionen in die Infrastruktur verzichtet. Trotzdem fehlt ein grosser Posten im Budget des Komitees: das olympische Dorf, in dem ein Grossteil der Athletinnen wohnen soll.

Nicht nur die Autobahn durchs Wallis wartet seit Jahren auf ihre Fertigstellung: Gleisarbeiten im Oberwallis.

Sittens Stadtregierung hat es bewusst aus den 2,4 Milliarden des Gesamtbudgets ausgeklammert. Sie will keine Immobilienleiche erstellen, sondern eine neue Wohnüberbauung. Von einem écoquartier spricht Stadtpräsident Philippe Varone. Auf einer unbebauten Parzelle sollen 300 Wohnungen entstehen, zwischengenutzt als village olympique. «Es wird kein Problem sein, das via Pensionskassen zu finanzieren», ist Varone überzeugt. Wer danach die Mehrkosten für die Umbauten der Athletenzimmer in Wohnungen tragen soll, lässt er offen.

Die Olympiagegner legen den Finger auf die hohe Leerwohnungsquote im Kanton. Allein in der Region Sitten stünden 2000 Wohnungen frei. «Stimmt nicht», entgegnet der Stadtpräsident. Die Statistik des Bundes zeigt, dass in der Gemeinde bei der letzten Zählung im Juni 2017 nur 275 Wohnungen leer standen. «Wir gehen von einem jährlichen Bedarf von 300 bis 600 neuen Wohnungen aus», sagt Varone.

Das IOK delegiert die Defizite

Das Risiko, rote Zahlen zu schreiben, begleitet jede Kandidatur so sicher wie die vorgängigen Beteuerungen, dass man das Budget im Griff habe. Bevor der Bundesrat seine Beteiligung beschloss, hatte er zwei Studien in Auftrag gegeben: eine Machbarkeitsstudie zum Sicherheitsbudget und eine Kontrolle des Gesamtbudgets. Nachdem die Wirtschaftsprüferinnen von PwC das Budget gesichtet hatten, musste das Komitee seine Schätzungen um 300 Millionen erhöhen.

Was, wenn das Wallis Ja sagt, das IOK auch – und am Ende die Kosten allen Prognosen zum Trotz doch in die Höhe schnellen?

Der Bund wird einen allfälligen Fehlbetrag nicht ausgleichen. Er lehnt jede Defizitgarantie ab und beteiligt sich höchstens mit 215 Millionen Franken an Mehrausgaben – die in der Bundesmilliarde budgetierte Reserve. Voraussichtlich werden Sitten, der Kanton Wallis und Swiss Olympic den Host-City-Vertrag mit dem Internationalen Olympischen Komitee unterzeichnen. Jeder überzogene Franken geht zulasten der Trägerorganisation, das IOK bleibt fein raus.

Die Schweizer Kandidaturen

Dreimal hat sich Sitten um Olympische Winterspiele beworben, dreimal hat es nicht geklappt. 1976, 2002 und 2006 gab das Internationale Olympische Komitee anderen Kandidaten den Vorzug.

Sion 2026 will jetzt mit den Kantonen Wallis, Waadt, Bern und Freiburg für die Olympischen und Paralympischen Winterspiele antreten. Bevor Sitten zum vierten Mal kandidieren kann, entscheiden am 10. Juni die Walliser Stimmberechtigten darüber.

Am Ende des Tunnels liegt das versteckte Binntal. Wer nicht von hier ist, ist fremd. Egal ob Obergommer oder Australierin.

Zwei — Das Wallis weiss nicht so recht

Durch einen schnurgeraden einspurigen Tunnel, grob in den Berg gehauen, gelangt man ans Ende der Welt. Begleitet vom beklemmenden Gefühl der Enge und dicken Wassertropfen, die auf die Windschutzscheibe fallen. Am anderen Ende liegt das Binntal. Und am Ende des Binntals das letzte Wirtshaus vor dem Piemont.

Im Berggasthaus Heiligkreuz steht Andreas Weissen im Licht einer weissen Kerze. Er wirtet hier zusammen mit zwei Freundinnen. An diesem Abend Ende Mai erzählt Weissen alte Walliser Sagen.

Wenn der Rest der Welt erst einmal sieht, wie schön das Wallis ist, wird es mit dem Tourismus sicher aufwärtsgehen – so die Hoffnung.

Vom Bergbauern, der den Teufel dazu bringt, die steilen Äcker zu pflügen. Und ihn mit einem Schluck «Gwäss», dem sauersten aller Walliser Weine, wieder verscheucht. Vom «Frowwi» (der Frau), dem ein Zwerg in einem Sieb Wasser reicht. Von Räubern im Pfynwald, der das Ober- vom Unterwallis trennt. Vom Wasser, das im trockenen Rhonetal so wichtig fürs Überleben war. (Und noch immer ist, wie die Reaktionen der Walliser Regierung auf den bundesrätlichen Beschluss über die Wasserzinsen für Elektrizitätswerke zeigen.)

Weissen schlüpft von einer Rolle in die nächste. Das Kerzenlicht wirft seinen Schatten an die Wand. Eine Geschichte handelt vom Gemeindepräsidenten, der seine Dorfleute einen Gletscher auftürmen liess, damit ein Rinnsal Wasser bringe. Doch mit dem Gletscher kam auch ein kalter Wind, der die Ernte zerstörte. Der Gemeindepräsident wurde abgewählt. Kühne politische Ideen haben im Wallis nicht immer den gewünschten Erfolg.

Andreas Weissens Schatten reicht bis zum Ende der Neunzigerjahre zurück. Damals war der Naturschützer allein. Als Geschäftsführer des WWF Oberwallis bekämpfte er die Olympiakandidatur Sion 2006. Im April 1999 sass er auf einem Podium im Saal der Fachhochschule Sitten. Allein gegen ein halbes Dutzend Befürworterinnen der Spiele.

Die Moderatorin der Runde, die TV-Journalistin Romaine Jean, achtete auf Ausgewogenheit zwischen dem Ja- und dem Nein-Lager. Mit dem Resultat, dass Andreas Weissen als einziger Gegner lange Monologe halten konnte. Mitstreiter fand er keine im Saal.

Probleme bekannt, Lösung ausstehend

Sitten verlor damals gegen die Kandidatur von Turin. Schadenfreude spürte Weissen keine. Erleichterung schon. Von seiner Meinung zu Olympischen Spielen ist Weissen bis heute nicht abgerückt: «Sie sind nicht die Lösung für unsere Probleme im Tourismus. Viele Bergbahnen haben eine veraltete Infrastruktur, die Renditen sind miserabel.» Achtzig Prozent der Hotels würden zu wenig erwirtschaften, um ihren Unterhalt zu bestreiten.

Man hört es oft im Wallis, so wirklich als Destination funktioniere nur Zermatt. Doch zu welchem Preis? «Die Massen an ausländischen Arbeitskräften stellen im Nachbardorf sechzig Prozent der Bevölkerung», sagt Weissen. Im Sommer seien Vierstern-Zimmer zum Preis von zwei Sternen zu haben: «Und was machen die Zweistern-Hotels?», fragt er.

Zermatt hat damals schon Nein gesagt zu Sion 2006. Man braucht sie nicht, die Spiele. Man hat ja das Matterhorn.

«Wenn das Wallis schon hundert Millionen ausgeben will, dann sollte besser ein Hotelkredit geschaffen werden.» Weissen zeichnet ein düsteres Bild des Walliser Tourismus. Die Hotels hätten gewaltigen Nachholbedarf, es fehle das Geld für Sanierungen. «Die Banken geben schon lange nichts mehr.» Entsteht irgendwo ein neuer Bau, sei das häufig das Liebhaberprojekt eines gelangweilten Millionärs.

Der Tourismus, sagt Andreas Weissen, sei zu vielen Walliserinnen egal.

Schatten der Vergangenheit: Olympiagegner und Sagenerzähler Andreas Weissen bekämpfte bereits die Olympiakandidatur Sion 2006, damals ziemlich einsam.
Einst Olympiaskeptiker, heute «Feuer und Flamme» für die Spiele: Beat Rieder, Ständerat und Präsident der Walliser Tourismuskammer.

Fürsprecher der Hoteliers und Bergbahnen

Aus einem anderen Tal, weit abseits der Rhone, kommt Beat Rieder. Der CVP-Mann trat 2015 als Kandidat für den Ständerat an – und gewann das Amt, das im Wallis gern von pensionierten Regierungsmitgliedern bekleidet wird.

Rieder wohnt im Lötschental. Dort, wo die Tschäggättä ihr Unwesen treiben, Fasnachtsfiguren mit angsteinflössenden Arvenholzmasken, gekleidet in Ziegen- und Schaffellen. Früher erschreckten sie Frauen und Kinder. Heute reiben sie Touristen die Gesichter mit Schnee ein.

Der Politiker nimmt Platz im Besprechungsraum seiner Briger Anwaltskanzlei. Ganz so finster wie eine Tschäggättä schaut er nicht drein. Dennoch wirkt der schlanke Mann im ersten Moment ungeschmeidig. Mit der Zeit taut er auf. Nach dem Interview lädt er sogar zum Kaffee ein.

Rieder ist Lobbyist für den Fremdenverkehr, er präsidiert die Walliser Tourismuskammer. Im Grunde haben Gastwirt Weissen im Binntal und er gar nicht so unterschiedliche Interessen. Aber in Sachen Olympische Spiele liegen ihre Standpunkte so weit entfernt wie Martigny vom Obergoms.

Beat Rieder gibt sich als knallharter Finanzpolitiker – den Ruf hat er sich als Fraktionschef der Oberwalliser CVP im Grossen Rat erworben. «Ich war sehr skeptisch gegenüber den Spielen, aber jetzt bin ich Feuer und Flamme.» Weil ihn das Konzept überzeugt habe. «Es ist sehr selten, dass in Staaten mit demokratischen Spielregeln Kandidaturen angepackt werden», sagt Rieder. «Bei uns gibts keinen Putin, der sagt: Hier will ich eine U-Bahn, da einen neuen Flugplatz.»

Auf kritische Fragen nach den enormen Defiziten an früheren Austragungsstandorten zeigt er sich dossierfest: «Ich kenne die Oxford-Studie.» Nur bei den Investitionskosten seien die Budgets überschritten worden. Bei den Putins und ihren U-Bahnen und Flugplätzen. Auf die Frage nach der geringen Wirkung von Spielen auf den Tourismus entgegnet er: «Nehmen Sie Sapporo oder Innsbruck. Allein die Tatsache, dass eine Marke noch Jahre später weltweit bekannt ist, bringen Sie über eine normale Kampagne nur mit unendlich vielen Mitteln hin.»

«Wir haben bei der Valais/Wallis Promotion ein jährliches Gesamtbudget von lediglich zehn Millionen Franken – inklusive Werbung!», sagt Rieder. Sämtliche touristischen Impulsprogramme in der Schweiz belaufen sich auf total jährlich 400 Millionen Franken. In Österreich hingegen würden Jahr für Jahr Milliarden in den Tourismus investiert. «In der Schweiz werden wir nie so viel erhalten, im Gegensatz zur Landwirtschaft oder zur Armee.»

Die Tourismusinfrastruktur im Wallis hat Nachholbedarf. Die Olympischen Spiele würden den nötigen Schub geben, sind Befürworter überzeugt.

In den Olympischen Spielen sieht Rieder eine Chance, den Wintersportregionen finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen, «die über Brosamen hinausgeht». Die Rede ist von der versprochenen Milliarde des Bundes. Das sei für den Tourismus nötig, denn der Markt habe sich verändert: «Unsere Konkurrenz sind nicht mehr die Nachbartäler. Sondern Bansko, in Bulgarien. Ein riesiges Gebiet. Oder Sotschi.»

Rieder ärgert sich über die Nebelpetarden, die die Gegner werfen würden. Alle nötigen Investitionen seien detailliert im Budget aufgelistet. «Grundsätzlich haben wir diesmal die nötige Infrastruktur. Und den Rest können wir mit bescheidenen Mitteln bauen.»

Egal, wie man die Kandidatur dreht und wendet. Am Ende landet man beim Tourismus und dessen Problemen. Etwa im Obergoms, wo die Mehrheit der Gastwirte lieber heute als morgen ihre Betriebe verkaufen würden. Bei den kleinen Skigebieten, die nur noch funktionieren, weil Senioren in Fronarbeit an den Liften stehen. Bei den nicht einmal fünfzig Jugendlichen, die pro Jahr im Wallis eine Lehre als Koch antreten. Und bei den Hotelbetten, die so viele Monate im Jahr kalt bleiben.

«Wir haben grossen Nachholbedarf bei Hotels und Bahnen», räumt Beat Rieder ein. Und er ergänzt: «Der Tourismus ist für die Bergkantone too big to fail.» Die Spiele werden den Wintertourismus wieder in Schwung bringen, ist er überzeugt.

«Ich habe schon Sorgenfalten, wenn ich an den Tourismus denke», sagt Heiligkreuz-Wirt und Naturschützer Andreas Weissen. Aber die Spiele seien der falsche Weg, glaubt er. Sie würden die Probleme im Tourismus 2026 genauso wenig lösen, wie sie es 2006 gelöst hätten.

Das ist die Konkurrenz für 2026

Neben Sitten wollen sich Stockholm in Schweden (Sommerspiele 1912), Sapporo in Japan (Winterspiele 1972), das kanadische Calgary (Winterspiele 1988), Cortina d’Ampezzo (Winterspiele 1956) mit Mailand und Turin (Winterspiele 2006), das türkische Erzurum und Graz in Österreich für die Olympischen Winterspiele 2026 bewerben.

Der Nobelort Crans-Montana hat sich in den Neunzigerjahren für den Tourismus fit gemacht. Doch die heutige Strategie hat ihre Lücken, wie das Bergbahn-Grounding im April 2018 zeigte.

Drei — Das Wallis vergisst nicht

In Seoul, Südkorea, wo Bundesrat Adolf Ogi am 19. Juni 1999 in einem Konferenzsaal dem Entscheid des Internationalen Olympischen Komitees entgegenfieberte, war bereits der Nachmittag angebrochen. In Sitten halb sieben Uhr morgens. 10’000 Menschen starrten im Stadtzentrum auf die Grossleinwand. Die Walliserinnen warteten auf grünes Licht für ihre Spiele im Jahr 2006. Dann sagte IOK-Präsident Juan Antonio Samaranch folgenden Satz ins Mikrofon: «And the winner is Torino.»

Die Stimmung auf der Sittener Place de la Planta kippte. Am selben Tag sprayten Unbekannte in Lausanne das Wort «Mafia» auf eine Statue vor dem Hauptsitz des IOK.

Ralf Kreuzer war damals 16 Jahre alt. Der junge Skirennfahrer aus Visperterminen stand an jenem Samstagmorgen nicht in Sitten, sondern machte sich bereit fürs Konditionstraining. Die Entscheidung der IOK-Delegierten, die noch heute die Gemüter im Wallis zum Kochen bringt, erfuhr er aus den Medien.

Kreuzer war auf dem Sprung ins Schweizer Skikader. Eine der Nachwuchs-Hoffnungen, die dereinst vielleicht auf heimischem Boden Olympiarennen fahren würden. Doch die Entscheidung der Funktionäre in Seoul liess diese Träume platzen. «Dann schnappen wir den Italienern die Medaillen halt in Turin weg», sagte sich Kreuzer. Doch als die Schweizer 2006 in Turin antraten, ging er im Europacup an den Start. Nach zwei Knieverletzungen konnte er sich für Vancouver 2010 knapp nicht qualifizieren. Einer von vielen Rückschlägen, die Kreuzer im Lauf der Jahre erdulden musste. Nach einer weiteren Verletzung trat er 2012 vom Profisport zurück.

Nun steht Ralf Kreuzer auf der Seite der Organisatorinnen. Er ist eigens zurück in seine Heimat gezogen, um als Delegierter des Staatsrates für Sion 2026 zu amten.

Ralf Kreuzer hat früh gewusst, dass man nicht alles auf eine Karte setzen sollte. Neben dem Profisport studierte er an einer Fernuniversität Betriebswirtschaft, arbeitete einige Jahre im Sportmarketing. In Sitten komme alles zusammen – der Wintersport, sein Heimatkanton und das olympische Feuer am Horizont: «Das ist eine Chance, die ich packen wollte», sagt er.

Kreuzer zählt auf, welche Organisationen im Wallis hinter der Kandidatur stünden – fast alle. Dass trotzdem die Bevölkerung nicht im Olympiafieber ist, findet er verständlich. «Alle vergleichen die Situation mit 1999. Aber als 1997 darüber abgestimmt wurde, war Adolf Ogi auch noch nicht an Bord.» Seit Wochen tourt der Olympiadelegierte nun im Auftrag seines Chefs, Staatsrat und Sportminister Frédéric Favre, vor allem durchs Oberwallis. Während der Chef im französischsprachigen Unterwallis für die Spiele wirbt.

«Sion 2026 ist eine Chance, die ich packen wollte»: Ralf Kreuzer, Ex-Skirennfahrer und Olympia-Delegierter der Walliser Regierung.
«Wir haben hier bestehende Anlagen, wir müssen nicht Milliarden investieren»: Bruno Huggler, Chef von Crans-Montana Tourismus und Olympiabefürworter.

Von Millionen und Milliardären

Staatsrat Favre ist auch der Grund, weshalb Bruno Huggler verspätet zum Gespräch mit der Republik erscheint. Der CEO von Crans-Montana Tourismus entschuldigt sich. Er kommt von der Generalversammlung der Vermarktungsorganisation Valais/Wallis Promotion in Le Chable, wo sich die Branche länger als geplant mit Favre beriet. Die Nerven sind angespannt bei den Befürwortern.

Huggler, ein Berner Oberländer, seit drei Jahrzehnten im Wallis, würde für Crans-Montana eines der Filetstücke der Olympischen Spiele erhalten. Ski Alpin: Abfahrt, Super G, Riesenslalom und Slalom. «Unser Vorteil ist, dass wir einen einzigen Zielbereich für alle Rennen haben», sagt der Tourismusdirektor. Allerdings muss er erst umgebaut werden, gemäss Budget für maximal dreissig Millionen Franken. Plus neun Millionen für die Pisten. Vierzig Prozent der Kosten muss die Gemeinde selber übernehmen. Aber das wird sie gemäss Huggler gern tun, Verbesserungen im Zielbereich seien schon lange erwünscht.

Hier in Sitten golfen vor allem die Einheimischen. Der Wintertourismus funktioniert einigermassen. Doch den Rest des Jahres ist der Grossteil des Wallis kaum auf der Landkarte.

Crans-Montana veranstaltet bereits heute jedes Jahr Weltcup-Rennen. Der Unterschied zu Olympischen Spielen ist der, dass bei Letzteren mehr Wettbewerbe stattfinden und das Ganze länger dauert. «Wir haben hier bestehende Anlagen, wir müssen nicht Milliarden investieren», sagt Huggler. Wobei, ein paar Millionen würden es schon werden. Aber die will man sinnvoll verwenden. «Wir brauchen Bauten für Fernsehübertragungen, Medienzentren, die muss man irgendwo hinstellen.» Doch: «Wir werden es vermeiden, Infrastrukturen zu erstellen, die wir nachher nicht mehr brauchen», verspricht Huggler.

Von allen Befürwortern hört man praktisch dasselbe: Wir haben schon enorm viel. Was wir zusätzlich brauchen, können wir auch danach nutzen. Was temporär erstellt wird, fällt kostenmässig nicht ins Gewicht. Das Kandidaturkonzept ist mit Nachhaltigkeit bepudert.

Auch jetzt, im Frühsommer, wirkt Crans-Montana nicht ganz so ausgestorben wie andere Wintersportorte. Frauen in teurer Freizeitkleidung schieben ihre Golftaschen auf Rädern Richtung Platz. Ein älterer Herr im Matrosenlook beäugt die Schaufenster der Bijouterien. Crans-Montana zieht Geld an. Doch diesen Frühling sorgte es für Schlagzeilen.

Bruno Huggler spricht offen über die für ihn unangenehme Episode. Sie taugt als Kapitel in der Geschichte über den Gesundheitszustand des Walliser Tourismus. Und das, obwohl man in Crans-Montana glaubte, vieles richtig gemacht zu haben.

Vor einigen Jahren fusionierten die diversen Bergbahnen des Skigebiets. Das Endprodukt übernahm die Schulden seiner Einzelteile. Die Banken spielten nicht mit, also suchte man nach einem anderen Geldgeber. Und fand ihn im hier wohnhaften tschechischen Milliardär Radovan Vitek. Für vierzig Millionen Franken übernahm er 87 Prozent des Aktienkapitals der Bergbahnen. Zehn Prozent und ein Sitz im Verwaltungsrat verblieben bei der Gemeinde. Und Vitek tat, was man sich von ihm erhofft hatte. Er sanierte, baute aus, kaufte Gastronomiebetriebe hinzu.

Schmilzt der Schnee, vergeht erst einmal die Schönheit. Im Zielbereich der Rennstrecke in Crans-Montana soll der Spiele wegen für dreissig Millionen Franken gebaut werden.

Doch Viteks Investmentfirma waren unrentable Betriebstage ein Dorn im Auge – etwa am Saisonende. Und so standen dieses Jahr trotz bester Schneeverhältnisse am Mittwoch nach Ostern alle Anlagen still. Die rund 2000 Skifahrerinnen und Winterwanderer, die auf den Berg wollten, standen vor verschlossenen Türen. Tourismusdirektor Huggler und seine Mitarbeiterinnen setzten alle Hebel in Bewegung und liessen die Wintersportler in ein benachbartes Skigebiet karren. «Wir entschuldigten uns und sagten die Wahrheit, was sonst hätten wir tun sollen?», fragt Huggler.

Es war nicht die Art von Berichterstattung, die man sich als Austragungsort Olympischer Spiele vor einer Abstimmung wünscht. Entsprechend gross war die Häme, vor allem in Westschweizer Medien.

Ob und wie das Wallis von der Austragung der Olympischen Winterspiele 2026 profitieren würde, darüber sind die Gesprächspartner uneinig. Doch dass sich der Kanton vorwärts bewegen muss, ist unbestritten. Wieso also nicht eine Kandidatur? Wenn es stimmt und das Konzept wirklich so nachhaltig wie nie zuvor ist, was gäbe es zu verlieren? Das Wallis könnte vielleicht tatsächlich die ersten «vernünftigen» Spiele seit langem austragen, gewachsen in einer Demokratie, ohne Gigantismus. Was hält die Walliserin, was hält den Walliser davon ab, ein Ja auf den Stimmzettel zu schreiben?

Um dies zu verstehen, muss man das letzte Wort – zumindest in dieser Geschichte – dem Mann erteilen, der wie kein anderer für Olympische Winterspiele in der Schweiz gekämpft hat. Adolf Ogi, Alt-Bundesrat und ehemaliger Uno-Sonderberichterstatter für Sport. Einer, der sagt, was er denkt.

Im Schatten der Korruption

«Moi j’ai l’impression que le projet ne passe pas en Valais», sagte Adolf Ogi unlängst in einer Sendung des Westschweizer Fernsehens. Die Spiele werden im Wallis nicht durchkommen. Die Aussage ist das Gegenteil dessen, was er sich inständig erhofft. «Das war ganz bewusst, klar taktisch. Um genau ins Bewusstsein zu rücken, was da für eine Chance vergeben würde», erklärt Ogi seine Aussage.

Es ist Nachmittag am Ortsrand von Kandersteg. Die vier Sprungschanzen des Nordischen Skizentrums sind alle in Kunstgrün gehalten. Hier wird auch im Sommer trainiert. Ogi drückt auf einen Knopf, zu viert quetscht man sich in eine Aufzugskabine, die höher ist als breit, damit die Athleten ihre Ski transportieren können. Die Kabine ruckelt. Ogi erklärt die Länge der Schanzen, den Belag, die Technik. Dass die Anlage heute hier steht, ist auch sein Verdienst. 2026 sollen hier olympisches Skispringen und Kombinationswettkampf stattfinden.

Vorab wären dafür noch zwei Dinge nötig: ein neuer Richterturm und eine zweispurige Zufahrtsstrasse, beides zu je rund 1,2 Millionen Franken. Ursprünglich hätte die Gemeinde sich an den Kosten für den Turm beteiligen sollen. Doch – Adolf Ogi holt die entsprechende E-Mail aus seiner Mappe hervor – das nationale Kandidaturkomitee sprang mit 600’000 Franken ein, für den Rest fand sich eine Finanzierung. So stimmt Kandersteg, die Heimatgemeinde des ehemaligen Sportministers, kommenden Freitag nur noch über eine zweispurige Zufahrtsstrasse ab. Eine, die «ganz gäbig» und gemäss Ogi auch ohne Spiele schon lange nötig wäre.

Alt-Bundesrat Adolf Ogi vor den Schanzen seiner Heimatgemeinde Kandersteg: Werden es 2026 Olympiaschanzen?

Republik: Herr Ogi, 1999 mussten Sie live erleben, wie die Schweizer Kandidatur gegen Turin verlor.
Adolf Ogi: Die Enttäuschung war gross, aber wir waren gute Verlierer. Wir haben dann festgestellt, dass Turin nicht die besten Spiele organisiert hat.

Sion 2006 galt als Favorit, was war geschehen?
Wir waren in der allerletzten Phase in Seoul, als ich gespürt habe, dass es in eine andere Richtung gehen könnte. Ich habe sofort Juan Antonio Samaranch (den damaligen IOK-Präsidenten, d. Red.) aufgesucht. Der hatte mir als Sportminister einmal unter vier Augen die Spiele versprochen. Hinterher hat man gehört, wir hätten das falsche Konzept gehabt, das ist alles unwahr und Quatsch.

Warum ist damals die Stimmung gekippt?
Das IOK kam aus einer Korruptionsphase heraus. Der, der das aufgedeckt hatte, war ein Schweizer. Den Namen sage ich nicht mehr.

Der Name des Mannes war Marc Hodler. Schweizer IOK-Mitglied. Er hat enthüllt, dass vor der Wahl von Salt Lake City zum Austragungsort der Spiele 2002 Stimmen von IOK-Mitgliedern gekauft worden waren. Mit Stipendien für deren Kinder, Geld oder Schönheitsoperationen. Hodler deckte den bis heute grössten Skandal der olympischen Bewegung auf und machte sich damit mehr Feinde als Freunde im IOK. Ausgerechnet ein halbes Jahr vor dem Entscheid über die Winterspiele 2006. Sitten unterlag Turin mit 36 zu 53 Stimmen.

Das heisst, die IOK-Delegierten waren wütend auf die Schweiz?
Ogi:
Es hat dazu geführt, dass alle gedacht haben, das IOK sei vollständig korrupt. Gewisse Leute im IOK haben das nie vergessen. Zudem haben bei der Kandidatur Turin andere Überlegungen eine Rolle gespielt. Da war in den allerletzten Stunden auch die Kraft von Agnelli und Fiat für das IOK entscheidend.

Der in Turin ansässige Fiat-Konzern hatte sich stark für die italienische Kandidatur eingesetzt. Im Wallis hält sich hartnäckig das Gerücht, der damalige Fiat-Präsident Giovanni Agnelli habe die Spiele für seine Stadt gewollt und deshalb alles dafür Nötige getan. Marc Hodler, der Schweizer IOK-Mann, erzählte, dass Stimmen mit Ferraris gekauft worden seien.

Ogi: Wir hatten das beste Dossier, die beste Präsentation. Die seriöseste Eingabe, das war unbestritten. Und wir haben viel für das IOK getan. Wenn Herr Samaranch irgendein Problem hatte, kam er zum Bundesrat, wir haben seine Probleme gelöst. Bis und mit den Steuerfragen. Mein Kollege Kaspar Villiger musste sagen: Nase zu und durch.

Sie haben die Steuerfragen gelöst?
Steuerprobleme, Visaprobleme, Standortfragen. X Fragen und Probleme sind an uns herangetragen worden. Wir haben immer eine Lösung gefunden, im Interesse des IOK. Deshalb sollte das IOK auch aus Dankbarkeit die Spiele wieder einmal der Schweiz geben. Nach Sotschi, nach Südkorea, nach Peking. Peking! Ich war etliche Male in Peking. Ich habe dort nie eine Sprungschanze, nie Schnee, nie eine Eisbahn gesehen. Und die erhalten die Winterspiele! Da bekommt das IOK Probleme mit der Glaubwürdigkeit. Deshalb braucht es jetzt die Schweiz. Deshalb müssen die Spiele zurück in die Alpen.

Einer unserer Gesprächspartner, der Walliser Andreas Weissen, sagt: Das IOK ist eine Diktatur, entsprechend kann es gut mit Diktatoren.
Weissen hat recht. Wenn Sie die Vergaben der Spiele nach Sotschi und nach Peking anschauen, dann ist das so, wie er sagt. Es ist darum im langfristigen Interesse des IOK, jetzt zurück in die Alpen, nach Sitten zu kommen.

So weit Adolf Ogi.

Theoretisch könnte es für 2026 wieder zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Sitten und Turin kommen (diesmal in Partnerschaft mit anderen italienischen Orten). Allerdings ohne Lobbying von Giovanni Agnelli. Er verstarb 2003.

Nachhaltig wirkt vor allem die Enttäuschung

Glaubt man den Prognosen, wird das Wallis am 10. Juni die hundert Millionen für Sion 2026 an der Urne ablehnen. Nicht, weil man etwas gegen den Sport hätte. Nicht, weil man grundsätzlich gegen Grossveranstaltungen wäre. Im Grunde auch nicht des Geldes wegen, schliesslich kommt der Löwenanteil vom Bund. Und schon gar nicht, weil die SP und die Grünen hier gut darin wären, die Mehrheit der Bevölkerung auf ihre Seite zu bringen.

Falls es zu einem Nein kommt, dürfte der Grund dafür das Misstrauen und der verletzte Stolz des Wallisers, der Walliserin sein. Weil ihnen das IOK die Spiele von 2006 nicht gegeben hat. Weil das Internationale Olympische Komitee korrupt ist.

Sie wollten uns 2006 nicht. Dann wollen wir sie 2026 nicht.

Debatte: Olympische Spiele in der Schweiz: Ja oder Nein?

Sind die 100 Millionen Franken des Kantons als langfristige Investition gerechtfertigt, wie die meisten Parteien, wie Handel, Gewerbe und Hotellerie sagen? Sind Olympische Spiele überhaupt nachhaltig möglich, jenseits des zuletzt üblichen Gigantismus? Wie kann das IOK sein ramponiertes Image retten? Haben die Spiele überhaupt eine Zukunft? Hier geht es zur Debatte mit den Autorinnen und Autoren.