Corona-Korrespondenz – Folge 11

Lieber Max, an guten Tagen lege ich mein Nichtstun als Systemkritik aus

Wenn nicht gerade Pandemie ist, performt der Basler Spoken-Word-Künstler Laurin Buser am liebsten auf der Bühne. Nun aber hat er mehr Entspannung, als ihm lieb ist. Ein Lagebericht an seinen Lyrikerkollegen Max Czollek in Berlin.

Von Laurin Buser (Text) und Elisabeth Moch (Illustration), 19.03.2021

Lieber Max

Ich schreibe dir diesen Brief aus meiner aktuellen Lieblings­position heraus: der horizontalen. Mich am Bettkopf anlehnend, in einen persischen Chalat gewickelt; der Memory­schaum der Matratze kommt aufgrund meiner Entspannung kaum mehr zur Entspannung. Seit Wochen eine einzige Oblomowerei!

«Das Liegen war für Ilja Iljitsch [Oblomow] keine Notwendigkeit wie für einen Kranken oder wie für jemanden, der schlafen möchte, es war auch keine Zufälligkeit, wie für einen, der erschöpft ist, und kein Genuss wie für einen Faulpelz: es war sein Normalzustand», heisst es bei Iwan A. Gontscharow. Ich habe die daily routine des russischen Roman­helden mittlerweile komplett internalisiert.

Der Mensch braucht acht Stunden Schlaf? Pha! Drifte 24 Stunden zwischen Tagträumen und luziden Zuständen, um in diesen Tagen einigermassen zu bestehen. Führe deinen Geist in eine wohlige Gleich­gültigkeit, in welcher das Welt­geschehen dich nicht mehr erschüttern kann. Döse, surfe, beriesle dich mit Hörbüchern, bis du nicht mehr weisst, was Traum und was Serie ist, bis es keinen Unterschied mehr gibt zwischen deiner inneren Stimme und jener der Hörbuch­sprecherin. Sind doch eh alles nur Hirn­gespinste, sind bloss Bilder, aus welchen dein Kopf macht, was er will. Schlagzeilen? Was zur Hölle habe ich damit zu tun?

Zur Corona-Korrespondenz

Während des ersten Shutdowns vor einem Jahr haben wir Stimmen der Schweizer Literatur zum Briefwechsel mit einer Adressatin ihrer Wahl gebeten. Jetzt haben wir erneut gefragt: Wie lebt es sich in Corona-Zeiten? Alle Briefe finden Sie hier.

Ich kann nicht genau sagen, wann das begann. Vielleicht, als mein Onkel beim Chanukka­fest die Schutz­maske als Kippa aufsetzte? Oder später, als in den Grossfamilien­chats all die «This year’s X-mas dinner be like»-Memes verschickt wurden? Oder war es bei der Silvester-Zoom-Party, als ich versuchte, in die Kamera zu prosten und den Crémant über meinen Laptop schüttete, sodass die säuberlich aufgelisteten Jahres­pläne allesamt verloren gingen? War das der gute Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte?

So oder so wurde mir in dieser zweiten Welle das Thema Corona-Krise exponentiell überdrüssig. Und katapultierte mich schliesslich in diesen dämmrigen Winterschlaf.

Todeszahlen-Liveticker? Bundesrat-Presse­konferenzen? Unhygienische Hygiene­demos? Verschwörungs­ideologien? Mutationen? Impf­gegnerinnen? Impfdrängler? Weckt mich, wenn der Republik-Covid-Newsletter wieder Pause macht!

An guten Tagen lege ich mein Nichtstun als System­kritik aus: Kultur­schaffende liegen nur faul herum und pressen den Staat aus? Könnt ihr haben! Hier bin ich, euer fleisch­gewordener Schmarotzer-Albtraum. Ausschlafen und dann die Corona-Hilfen wegsnacken, während ich gelegentlich mit anderen Schweizer Kultur­schaffenden facetime: «Na, auch wieder einen staatlichen Batzen überwiesen bekommen? Nicht?»

Kantonale Kulturämter schreiben noch einen Wettbewerb aus: Ihr könnt euch was dazuverdienen, wenn ihr eure Arbeit als innovative Transformations­projekte umschreibt, Projekte also, die eure Bühnen­kunst irgendwie in den digitalen Raum hieven. Ehrlich gesagt, schreiben die Ämter recht unverhohlen, ist uns scheissegal, wie. Hauptsache, ihr beweist diesem Avantgarde-bewussten Staat, dass ihr nicht auf der faulen Haut liegt, sondern euch brav weiter verdigitalisiert. Insta first, sozusagen.

Na gut: Sehr geehrtes Gremium, meine Idee wäre ein, äh, Livestream, wo man mir zuguckt, wie ich von meinem Bett aus Digitalisierungs­konzepte in beamtischem Hochkultur­sprech tippe, während in roter Helvetica-Schrift die sekündlich steigende Staats­verschuldung in Rappen eingeblendet wird. Die Arbeit heisst «Räppli-Rääge» und nimmt somit augen­zwinkernd Bezug auf das Unesco-Weltkultur­erbe der Region: die Basler Fasnacht. Das ist system­relevant, das ist meta, das ist covid­gerechte Performance­kunst, wie sie hierzulande gefördert werden sollte, merci!

Nur wenn ich mit deutschen Kolleginnen telefoniere, richte ich mich im Bett kurz auf und sage anteilnehmend: «Jaja, Existenz­ängste haben wir hier schon auch. Ich meine: Existiert man überhaupt noch, als ein Bühnen­mensch, so ganz ohne – Bühne?»

Da sich Spazieren mittlerweile eher wie Hofgang anfühlt, schliesse ich lieber die Augen und streune in Paralleluniversen.

So war ich neulich im Museum. Ich hatte den Auftrag, über die Ausstellung einen Text zu schreiben. Aber wann immer ich einen Schritt auf eines der Gemälde zu machte, schrillte ein Alarm auf. Dabei stand ich so weit von den Bildern entfernt, dass ich kaum was erkennen konnte! Schliesslich ignorierte ich den Alarm und näherte mich einem der Bilder. Aber genau in dem Moment, in dem ich endlich überhaupt etwas hätte sehen können, gab es einen lauten Knall – das Bild explodierte. Vorsichtig näherte ich mich einem anderen, aber pew!

Ich geriet in Panik und fand keinen Ausgang: Jeder Galerie­raum mündete in einen weiteren Galerie­raum. So begann ich zu rennen, verzweifelt rannte ich und rannte, stürzte durch dieses unendliche Labyrinth der Museums­säle, während neben mir jedes einzelne Gemälde mit einem lauten Knall in Rauch aufging. Und über dem Donnern der Detonationen heulte dieser ohren­zerberstende Alarm.

Ich schreckte hoch, als ausnahms­weise mal mein Wecker klingelte. Nämlich hatte ich den fixen Plan, mir dein Buch «Gegenwarts­bewältigung» zu kaufen. Ich zog mich also warm an, stapfte durch die Minusgrade. Vor dem Buchladen dann die Erkenntnis: Stimmt, die Geschäfte sind ja geschlossen. Ich hatte mich dermassen abgeschottet, dass ich vergessen hatte, weswegen ich nur noch zu Hause rumlag.

Vielleicht ist mir da erst aufgefallen, wie schwer sich die Gegenwarts­verdrängung über meine Gedanken gelegt hatte, als wäre sie Januar­schnee. Zu Hause schlüpfte ich sofort wieder unter die Decke und zog mir deinen Text als Hörbuch. Durch den Vorhang­spalt sah ich, wie die Nachbars­katze im Fenster gegenüber die fetten Schnee­flocken beobachtete, die aus dem grauen Himmel fielen.

Ich glaube, das ging diesen Winter vielen so. Was letzten Frühling noch aufregend war und eine gewisse Sensations­geilheit auslöste, ja auch ein nie da gewesenes, mir ziemlich unheimliches Gefühl des kollektiven Zusammen­halts, war mit Beginn dieses zweiten Lockdowns nur noch frustrierend. Es war wie die zweite Staffel einer Serie, die man eigentlich nicht weitergucken wollte.

Ich meine, der erste Lockdown war wenigstens kreativ verwertbar, irgendwie lehrreich, oder? Auf eine paradoxe Weise stimmte es eine Zeit lang seltsam hoffnungsvoll, wie viele Missstände durch diese Krise offenbar wurden.

War es nicht fast schon befriedigend, mit welcher Offen­kundigkeit etwa das so perfide ausschliessende Solidaritäts­verständnis der Dominanz­gesellschaft zutage trat? Was von diversen Stimmen schon lange unermüdlich betont wurde, bekam endlich einen Beweis. In deinem Buch heisst das dann so:

Die Fähigkeit staatlicher Institutionen, […] schnell und entschlossen durchzugreifen, demonstrierte vor allem eines in aller Deutlichkeit: Dass etwa die seit vielen Jahren nahezu ausbleibenden Reaktionen auf Nazi­strukturen in Polizei, Bundes­wehr und Verfassungs­schutz oder die unterlassene Hilfe für das vor den Augen der Welt elende Vegetieren der Männer, Frauen und Kinder an den Aussen­grenzen der Festung Europa niemals Resultat gesellschaftlichen und staatlichen Unvermögens waren – sondern ihres Unwillens.

Wären solche anschaulichen Gedanken­gänge in dieser Klarheit möglich gewesen, ohne den ersten Lockdown? Und öffneten sie womöglich manche Herzen, um Solidarität breiter zu denken?

Ich war wohl nicht der Einzige, der diesen Winter Oblomow mimte. Die soziale Isolation zermürbt, das eingeschränkte Freizeit­programm zermürbt, Corona zermürbt – wir haben es ja gehört, next! Aber den Reflex, ein Thema voreilig für sich als abgeschlossen zu erachten, sollte man möglichst trotzdem unterdrücken, denke ich – und wälze mich auf die andere Seite.

So könnte der Verdruss durch Mono­thematiken doch vielmehr Anlass geben, etwas Empathie zu flexen: Wenn es uns schon so fertigmacht, wie muss es wohl für Long-Covid-Betroffene sein? Oder Menschen mit unendlichen Arbeits­tagen auf den Intensivstationen?

Und das letzte Jahr war ja nicht nur Corona. So war es auch das Jahr, in dem viele Menschen zum ersten Mal mit antirassistischer Expertise in Berührung kamen. Aber auch da war gut zu beobachten, wie schnell ein Thema dann aber auch wieder gut ist: Ist doch zermürbend, immer über Rassismus zu reden!

Wie mag es wohl sein, wenn du beispiels­weise das Thema Rassismus nicht nach ein paar Memes abschalten kannst, weil du deine Haut oder deinen Namen nicht einfach abstreifen kannst? Wenn du zum x-ten Mal die Frage nach deiner Herkunft gestellt bekommst?

Menschen wollen nicht herum­rennen in einem Labyrinth von immer gleichen Fragen. Menschen wollen Ausgänge finden, wollen weiterkommen, auch wenn dabei vielleicht ein paar veraltete Bilder explodieren.

Wohin führt es uns, wenn wir die Vorhänge zuziehen, keine News mehr konsumieren, uns in einen Chalat wickeln und so tun, als hätte das Welt­geschehen da draussen nix mit uns zu tun?

Dazu muss ich an ein Zitat des Philosophen Rabbi Abraham Joshua Heschel denken, das ich in Kübra Gümüşays Buch «Sprache und Sein» gelesen habe: «Ich würde über Individuen sagen, dass ein Individuum stirbt, wenn es aufhört, überrascht zu sein. Ich bin jeden Morgen aufs Neue überrascht, wenn die Sonne scheint. Wenn ich eine böse Tat sehe, bin ich nicht indifferent. Ich gewöhne mich nicht an die Gewalt, der ich begegne, ich bin immer noch überrascht. Deshalb bin ich dagegen, deshalb kann ich ihr meine Hoffnung entgegen­setzen. Wir müssen lernen überrascht zu sein, nicht uns anzupassen.»

Ich schiebe den Vorhang zur Seite. Die Nachbars­katze am Fenster gegenüber beobachtet schmachtend eine Turteltaube, die sich mit einem Zweig im Schnabel auf der Strassen­laterne sonnt, ehe sie ihr Nest weiterbaut.

Ich wünsche dir einen schönen Frühlingsbeginn!
Laurin

Basel, 2. März 2021

Zum Empfänger

Max Czollek ist Autor und lebt in Berlin. Er ist Mitglied des Lyrik­kollektivs G13 und Mitherausgeber des Magazins «Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart». Seine Gedicht­bände «Druck­kammern» (2012) und «Jubel­jahre» (2015) sowie «Grenzwerte» (2019) erscheinen im Verlags­haus Berlin, seine Essays «Desintegriert Euch!» und «Gegenwarts­bewältigung» im Carl Hanser Verlag. Zu seinen Theater­arbeiten gehörten zuletzt die «Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur» 2020.

Zum Autor

Laurin Buser ist Rapper und Spoken-Word-Poet. Mit Fatima Moumouni bildet er das Team «Zum Goldenen Schmied», gemeinsam waren sie deutsch­sprachige Poetry-Slam-Champions und touren mit ihrem Abend­programm «Gold». Auch in der Rap-Combo Nuggets machen Moumouni und Buser gemeinsame Sache: 2021 kam der Song «Scheine im Gesicht» heraus. Busers letzte Solo-EP «Schmuck» erschien bei Samy Deluxes Label Kunstwerkstadt.

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