Liebe Antje, genügt es, dass etwas unvorhergesehen genug ist, um die Geschichte neu zu schreiben?
Die Republik hat grosse Stimmen der Schweizer Literatur gebeten, an einen Adressaten ihrer Wahl einen Brief aus der Quarantäne zu schreiben. Den Anfang macht Adolf Muschg, der sich an die Pastorin und Politikerin Antje Vollmer in Berlin richtet.
Von Adolf Muschg (Text) und Elisabeth Moch (Illustrationen), 18.04.2020
Liebe Antje,
Samstag zwischen Karfreitag und Ostern – wieder ein heller Sonnentag. Ich sitze, in Quarantäne, auf unserer Terrasse; nur eine Schwelle trennt mich von unserem kleinen Garten und seinem Teich mit japanischer Anmutung. Heute ist wieder eine Papierzeitung erschienen. Ich lese, dass die Herren Saudiarabiens ihren Krieg gegen die Huthi-Rebellen ausgesetzt und sich – viele bereits infiziert – auf eine Insel am Roten Meer zurückgezogen haben, wo für ihren Notfall alles gerüstet wurde; in ihrer Altersgruppe reichlich spät. Andere – die üblichen – Betroffenen sind die in den Elendsvierteln von Mekka und Medina hängen gebliebenen Pilger. Aber wo der Notfall schon immer der Normalfall war, haben sie vermutlich bessere Chancen, auch diesen nochmals zu überleben.
Die Kontinente auf der südlichen Halbkugel, wo die Hotspots nur spärlich aufscheinen, erinnern an Flugbilder in der Nacht. Für Überflieger ist da unten schon immer alles finster gewesen – bis auf die Millionenstädte, wo sich die Landflüchtigen drängen, bevor sie die Flucht in begünstigte Zonen der Erde riskieren. Auch wenn sie jung sind: In Lebensgefahr befinden sie sich so oder so. Gegenseitiger Abstand ist ein Luxus, den sie nie gekannt haben, und wenn sie untergehen, leisten sie immerhin ihren Beitrag gegen die Übervölkerung der Erde. Die sparsamen Hotspots sind eine optische Täuschung: Wer macht sich die gefährliche Mühe, Menschen zu testen, die ohnehin nur minimal existieren? Für die Statistik zählen sie kaum; man muss sie nur am Ausbruch aus ihrer Dunkelzone hindern. Zum Glück (das heisst: zu unserer Entlastung) ist Willkommenskultur kein Thema mehr, nirgends. Längst grenzen sich die begünstigten Länder auch gegeneinander ab, sogar die Städte gegen ihr Umland. Inzwischen ist die Ostseeküste Deutschlands nur noch für Besucher mit Autokennzeichen Mecklenburg-Vorpommerns zugänglich (eine Konzession ans Heimatgefühl).
Die vergleichsweise in Licht getauchten Gebiete des Globus beginnen selbst jenen Inseln zu gleichen, auf die sich die Scheichs zurückziehen. Bibelfeste Betrachter erinnern sich noch, dass sich das Rote Meer einmal für das Volk Gottes geteilt hat, um ihm den Durchmarsch ins Gelobte Land zu ermöglichen. Nur: In welcher Richtung liegt dieses Land heute, und was darf es kosten?
Bill Gates, lese ich in der Zeitung, habe Präsident Trump schon vor Jahren die Entwicklung eines Universal-Wirkstoffs gegen kommende Pandemien vorgeschlagen: Sie seien wahrscheinlicher als ein globaler Krieg. Da Trump, wie es seine Art ist, nicht hingehört hat, bleibt ihm jetzt nur noch übrig, dem Virus persönlich den Krieg zu erklären. New York, die Stadt, die niemals schläft, hat, wie jede andere Stadt der Welt, die Vorbereitung auf den Einfall des todbringenden Mikro-Fremdkörpers verschlafen. Sie muss jetzt einen Stadtteil, nicht gleich den nobelsten, als Zwischenlager für hoch infektiöse Leichen räumen und kann nur beten, dass die Särge dicht halten, für die man weder Träger noch Friedhöfe gefunden hat.
Die Toten sind noch unberührbarer als die Lebenden. Am japanischen Fernsehen hat meine Frau eine ganz besondere Abschiedsszene erlebt. Ein auf seinem Kreuzfahrtschiff infiziertes Ehepaar konnte nach langem Hin und Her an Land evakuiert werden. Die Frau erholte sich, der Mann aber war nicht zu retten. Ihre Bitte, von ihm Abschied nehmen zu dürfen, erfüllte eine Ärztin der Intensivstation mit Todesmut: Sie hob den Arm des Mannes am Trennglas so hoch, dass die Frau ihre Hand gegen die Stelle pressen konnte, wo seine Hand auf der andern Seite erschien. Sie hofft, er habe den Druck noch gefühlt. So geht das zu, wenn Social Distancing mit seinem Gegenteil kompatibel sein möchte.
Wir leben in Zeiten, wo kein Stein auf dem andern bleibt. An meinem Sonnenplatz am Rande des Gärtchens ist weniger als nichts davon zu spüren. Das Geräusch zu diesem Umsturz (oder rasenden Stillstand) ist eine grosse Ruhe, und nichts daran ist atemberaubend, alles eine Wohltat für die Sinne. Kaum noch ein Motorengeräusch, dafür lassen sich die Vögel hören, beobachten, unterscheiden. Den Blüten der Clematis, der Azaleen, der Päonien kann man beim Aufgehen beinahe zuschauen. Die Fische schwimmen Figuren, denen schon Paarungslust anzumerken ist. Dunkelt es ein, kann ich auf den Mond warten, bis er ganz voll und so nahe wie nie ins Astwerk der Föhre aufsteigt und sich im zitternden Wasser spiegelt. In den allnächtlichen Spaziergängen hinauf zum von Heimlichkeit knisternden Waldrand geniessen wir die Zugabe einer weiten Landschaft, mit See- und Alpenblick, und im Mondlicht begleiten uns die eigenen Schatten sichtbarer als am hellen Tag, an dem wir ja auch nicht ausgehen dürfen.
Aber von Notfall ist zu Hause – einem Ort nicht der Gefangenschaft, sondern der willkommenen Konzentration – keine Rede, obwohl ich mit 86 Jahren und zwei chronischen Krankheiten als hoch gefährdet ausgewiesen bin. Die Grundstimmung ist über den Alltag erhoben – und erlebt die Wiederkehr kindheitlicher Sensationen, bis in die Träume hinein. Ich bin vom Virus so fühlbar ausgespart, dass ich mich meiner privilegierten Lage auch schämen könnte – aber dafür bin ich zu alt und ist der Ausnahmezustand zu einzigartig, auch als Quelle hinreichend radikaler Gedanken. Sie begegnen mir manchmal in Gedichtform: now more than ever seems it rich to die. Die Zeile des jung verstorbenen Keats aus seiner «Ode to a Nightingale» geht mir nahe, auch ohne Nachtigall, mit jedem Wort – «rich», wo nimmt der arme Dichter das her! – ja, bis in die Wortstellung hinein. «It seems rich to die», wäre korrekt gewesen, aber der Rhythmus verlangt die Umstellung, und wie vertraut klingt sie mit meiner Zürcher Muttersprache zusammen! Ich habe einen Beruf, in dem die Sprache nur dank ihrer Nuancen überlebt – sie kommen, mit Glück, über zwei Jahrhunderte hinweg an. Wie lange dieses Glück noch dauert, wie kompatibel es ist mit der fast nur noch von der Suchmaschine gespeicherten Erinnerung, bleibt offen – und am Ende gleichgültig. In jeder Kultur gilt eine Definition des Lebens, die zuerst in schweizerischem Französisch festgehalten wurde: La vie est cela qui meurt.
Da bin ich unvermeidlich bei der Beihilfe, die das Virus zu dieser anspruchsvollen Wahrheit leistet. Sie ist der springende Punkt der Gedanken, die sich an meinem Gartenplatz wie von selbst einstellen. Wenn man sich – wie Trump – die Pandemie schon als Krieg vorzustellen hat, so muss einem die Ungleichheit der Parteien auffallen. Hier: Homo sapiens (ein vielleicht voreiliges Attribut), der sich selbst als Krone der Schöpfung bezeichnet – was evolutionär seine Richtigkeit hat, dank seines allen Mitgeschöpfen kategorisch überlegenen Werkzeuggebrauchs, von der Keule bis zum Satelliten. Das Mangelwesen («the naked ape») hat sich im Sinn seiner heiligen Schrift die Erde so gründlich untertan gemacht, dass er das letzte Erdzeitalter wohl oder übel nach sich benennen darf: Anthropozän. Er hat, in seiner Biosphäre, keinen Gegner mehr als sich selbst.
Eben darin aber scheint eine Einschränkung, ja ein Widerspruch zu stecken, den sich ganz andere Lebewesen – denen die Wissenschaft nicht einmal diesen Namen gönnt – für ihre infektiöse Vermehrung zunutze gemacht haben. Bitte sehr: Ist das ein würdiger Gegner? Das Virus hat ja nicht einmal ein Genom zu bieten und braucht einen Wirt, um sich von seinem entwickelten Zellstoffwechsel freihalten zu lassen. Und dieser primitive Parasit behandelt – oder entlarvt? – die Krone der Schöpfung nicht nur als seinesgleichen, sondern buchstäblich wegwerfend. Und dabei kommt es ihm auf diesen Wirt nicht einmal an. Er kassiert ihn ganz nebenbei. Eine kleine Mutation des mikroskopischen Körpers genügt – und das Abwehrsystem des Herrn der Schöpfung ist der Invasion ratlos ausgeliefert. Genügt es, dass etwas unvorhergesehen genug ist (aber war es das denn?), um die Geschichte der menschlichen Zivilisation neu zu schreiben?
Die Antwort geben alle Medien: Sie handeln von nichts anderem als von Covid-19. Alle übrigen Probleme der Menschheit, von der Umwelt (genau betrachtet: welche Idiotie, zu deutsch: Selbst-Herrlichkeit, steckt allein in diesem Wort!) bis zum Flüchtlingselend sind von der Bildfläche weggefegt, wenn auch nicht aus der Realität. Das Virus kommandiert den Alltag weltweit bis in die Intimsphäre hinein, es macht Epoche, und natürlich ist es «nur menschlich», alles zu tun, um es auszuschalten. Wie auf den Messias wartet die Menschheit auf den alles regelnden Impfstoff, unsere ultimate weapon in diesem in jeder Hinsicht ungleichen Krieg. Wann, wie bald können wir, im besten, das heisst: zweitschlimmsten Fall, mit diesem Erreger wieder so leben wie bisher, wie früher, wie immer?
Und wenn die Antwort lauten sollte: nie mehr? Wäre das die totale Niederlage, oder der Anfang einer keineswegs überflüssigen Mutation unsererseits – die mit der peinlichen Frage beginnt – aber nicht dort enden muss –, wie viele Ursachen dieses Kriegs gar nicht beim Virus liegen, sondern an seinem Wirt? Was hat er getan – oder unterlassen –, um gegen diesen Gegner so lange, und immer noch, wehrlos zu sein?
Die ersten Reaktionen sind nicht ermutigend. Ich lese, auch in meiner Zeitung, dass jetzt der «Ausstieg» aus dem Belagerungszustand das Dringlichste sei: als wäre dieser so etwas wie eine Sucht, die man sich, gefälligst, wieder schrittweise abzugewöhnen hat. Damit kann nur – wenn auch unausgesprochen – die Priorität der Rücksicht auf Alte und Schwache gemeint sein, die uns die Krise abgenötigt hat – zulasten der Wirtschaft, des Masses aller Dinge. Die statistische Bearbeitung der Krise kehrt unauffällig zur darwinistischen zurück. Haben wir für die Alten und Schwachen nicht viel mehr aufgewendet, als für das Bruttosozialprodukt gut ist, oder für die Börsen? Schleicht sich, anstelle herzhafter, manchmal gar selbstloser Unsicherheit, das Kalkül wieder an die vorübergehend leer gewordene Stelle zurück – der gesunde, jedenfalls robuste Menschenverstand, die machtpolitisch geleitete Verhältnismässigkeit, vom business as usual bis zum survival oft the fittest? Dann haben auch Leute wie Du und ich bald nichts mehr zu lachen.
Aber wann hätten wir denn gelacht?
Über die verbleibenden Aussichten – und Deine Ansichten darüber – würde ich Dich gerne vernehmen. Wir haben uns an mancher harten Nuss – so im Weimarer Theater an der «Polis Europa» – die Zähne ausgebissen, aber einige sind uns noch geblieben.
Bevor mein beschaulicher Gartenplatz (ich übertreibe hoffentlich) zur Rampe wird, wo wieder, erst ganz diskret, die Frage nach einem mehr oder auch weniger lebenswerten Leben erst als möglich, dann als erlaubt, dann als pragmatisch und am Ende als gerechter Sachzwang auftreten darf und wo die Experten, gern oder ungern, wieder bereit sind, sich das Dilemma der Triage kostensparend von der Natur abnehmen zu lassen – und da am Tod nicht erst das Ende des Lebens, sondern sein guter Sinn hängt –, möchte ich Dich zum Schluss mit dem Gedicht eines ganz besonderen Nussknackers, Paul Celan, ins Offene locken. Es wurde in den vergangenen Fünfzigerjahren geschrieben, übrigens unter dem Titel «Corona», und war das Lieblingsgedicht der Freundin Ingeborg Bachmann. Da heisst es: «Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn: / die Zeit kehrt zurück in die Schale.» Und es schliesst mit den Sätzen: «es ist Zeit, dass man weiss! / Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt, / dass der Unrast ein Herz schlägt. / Es ist Zeit, dass es Zeit wird. // Es ist Zeit.»
Das Gedicht hat weder dem Autor noch seiner Leserin das Leben gerettet. Aber es war ja auch zum SEHEN und LESEN bestimmt. Es ist Zeit, dass man weiss, und im Zeichen Coronas mehr über den Menschen, also auch sich selbst, zu erfahren bereit ist. Ich traue Deiner Mitwisserschaft und grüsse Dich
herzlich: Adolf Muschg
Männedorf, Ostersamstag 2020
Antje Vollmer, geboren 1943, ist evangelische Pastorin, Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen und freie Autorin. Von 1994 bis 2005 war sie Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.
Adolf Muschg, geboren 1934, ist eine der grossen Stimmen der Schweizer Literatur. Er war Germanistik-Professor an der ETH Zürich und Präsident der Berliner Akademie der Künste. Immer wieder hat er mit seinen Beiträgen die Schweizer Debatte geprägt, am kontroversesten mit dem Essay «Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt». 2018 ist sein neuester Roman «Heimkehr nach Fukushima» erschienen.