Corona-Korrespondenz – Folge 2

Lieber Adolf, Ohnmacht in Kraft verwandeln, wer suchte nicht danach?

«Ich möchte dich ins Offene locken», schrieb Adolf Muschg in seinem Brief an die Pastorin und Politikerin Antje Vollmer in Berlin. Dieser Aufforderung kommt die Autorin gerne nach.

Von Antje Vollmer (Text) und Elisabeth Moch (Illustrationen), 20.04.2020

Lieber Adolf,

Dir zu antworten, das ist, an eine alte Tradition anzuknüpfen. Wir haben ja nicht nur mit der Gesprächs­reihe «Polis Europa» einmal gemeinsam versucht, die flirrenden Zeichen der Nach-Wendezeit auszudeuten. Ich erinnere mich auch gern an Dich als unseren Gesprächs­initiator in der Fernseh­reihe «Baden-Badener Disput». Das war ein Jahrzehnt früher, die Grünen waren gerade erst in den Bundes­tag gekommen, die kommerziellen Sender mit ihren schrilleren Formaten spielten noch keine Rolle im öffentlichen Bewusstsein, die alte Bundes­republik neigte sich ebenso ihrem Ende zu wie die DDR, beide ohne es damals zu ahnen. Aus heutiger Medien­sicht war unser damaliges Format kühn und wunderbar gegen den Zeittrend gebürstet, also krass altmodisch. Ein Dialog zu Themen wie: Was ist Wahrheit? Brauchen Gesellschaften Religion? Was unterscheidet den Westen vom Osten? Ein Gespräch für Menschen, die gern in Ruhe nachdenken, in der opulenten Länge von 90 Minuten, gesendet im dritten Programm des SWR, am Samstag(!)-Abend. Dabei waren immer: Peter Sloterdijk, Gertrud Höhler, Michael Stürmer, Alfred Grosser, Du und ich, manchmal ein weiterer Gast. Jeder konnte ausreden, auch kompliziertere Gedanken. Wir waren nie einer Meinung.

Ich erinnere mich an eine Szene aus dieser Zeit: Wir sassen startbereit auf unseren Plätzen, die Fernseh­lampen waren schon ausgerichtet. Da sagte Peter Sloterdijk: «Moment mal, ich brauche noch eine Sekunde.» Er knöpfte sich in aller Seelen­ruhe die Schuhe auf, zog die Woll­strümpfe, die da zum Vorschein kamen, aus, holte aus seiner Sakkotasche ein helles Paar leichter Baumwoll­strümpfe, zog die ohne Hast an, verknotete die Schnür­senkel und erklärte uns: «Mit heissen Füssen kann ich nicht denken.»

Das ist es: Jetzt, wo uns der Boden unter den Füssen brennt, können wir auch nicht mit heissen Füssen und schon gar nicht mit heissem Kopf denken. Wir müssen uns sehr konzentrieren und nach den genauen Begriffen für das suchen, was gerade passiert. Wie Kung-Fu-Kämpfer, die den zentralen Punkt ergründen, mit dem sie selbst nicht auszuhebeln sind, aber dennoch zum erfolgreichen Reagieren, zum Gegen­angriff kommen können. Ohnmacht in Kraft verwandeln, wer suchte nicht danach?

Ein grosses Vorbild meiner frühen Jahre war Kurt Scharf, damals evangelischer Bischof von Berlin. Er kam aus der Bekennenden Kirche. Während der NS-Zeit hatte er, so hiess es, mindestens 14 Vorladungen der NS-Behörden ungebrochen überstanden. Er war eine perfekte Mischung aus unerschrockener Unbeugsamkeit und einer erstaunlichen, sanften Friedfertigkeit. Mit dieser Mischung verblüffte er regelmässig die einen wie die anderen seiner durchaus zahlreichen Gegner. Er wurde in seiner Kraft oft unterschätzt. Während der Studenten­unruhen 1968, als in den Medien der Stadt, besonders in der Springer-Presse, die Emotionen hochloderten gegen die «Gewalt­täter und den Mob auf der Strasse», liess er ungerührt verkünden, die Kirchen seien jederzeit offen für jeden, als geschützte Orte des Friedens. Das wurde ihm sehr übel genommen, von Politikern und auch von Kirchen­oberen. Axel Springer trat daraufhin aus der evangelischen Kirche aus, ein riesiger Verlust von Kirchen­steuern. Ich glaube nicht, dass das den Bischof von Berlin erschüttert hat.

Da fällt mir beiläufig auf: Heute sind die Kirchen überhaupt nicht offen, nicht einmal an Ostern. Dabei sind sie ja in der Regel zu gross für die klein gewordenen Gemeinden, ein notwendiger Abstand oder eine Begrenzung der Besucher­zahl liesse sich hier viel leichter einhalten als im Bau- oder Supermarkt. Findest Du das nicht merkwürdig? Ist es nicht ein bisschen zu demonstrativ gehorsam im Verzicht auf jeden anderen Weg, auf die eigene jahrhundert­ealte Tradition, mit solchen Krisen­zeiten eigen­verantwortlich umzugehen? Den Papst Franziskus nehme ich da aus. Der hat sich in seiner bildstarken Einsamkeit des riesigen Petersdoms nicht vom Zeremonien­personal begleiten lassen, sondern von Strafgefangenen, deren Texte über Schuld und Versagen er vorgetragen hat. Er hat nicht Gehorsam für obrigkeitliche Massnahmen verlangt, sondern politische Umkehr: einen Waffen­stillstand an allen Kriegs­fronten, einen Schulden­erlass für die armen Länder, eine Abkehr vom Egoismus der Reichen und von der kapitalistischen Gier. Er hatte offenbar ein Gespür für die Notwendigkeit des radikalen Bruchs, gerade jetzt, um überhaupt einen Neuanfang nach alledem zu ermöglichen. Das war konkret, deutlich und ungeschminkt. Lieber Adolf, was sind das für Zeiten, wo die Päpste die letzten System­kritiker sind?!

Doch zurück zu Kurt Scharf. Der hat einmal – ich habe es selbst gehört – in einem Gespräch gesagt: «Manchmal schickt Gott uns offenbar massvolle Katastrophen.»

Lassen wir Gott als Verursacher einmal für diesen Gedanken­schritt beiseite, es geht mir nicht um dieses Denkmodell, das immer so viele Probleme macht.

Aber massvolle Katastrophen – der Begriff hat mich immer wieder beschäftigt. Ein spröder Begriff, über den sich nachzudenken lohnt. Eine massvolle Katastrophe ist offenbar keine Apokalypse, kein Weltuntergang. Es ist eine Katastrophe, die ein Danach immer noch möglich lässt. Eine Katastrophe, aus der ich etwas lernen kann. Wenn ich denn die Chance ergreife, überhaupt etwas lernen zu wollen. Wenn ich offen genug bin für die Frage: Hat das, was jetzt geschieht, uns etwas zu sagen?

Das ist es, worüber ich zurzeit nachgrüble. Wie bereiten wir uns – in Sanftmut und Unerschrockenheit – auf jenes Momentum vor, wenn die grössten Schrecken der augenblicklichen Katastrophe vorüber­gegangen sind, wenn das Leben einen Augenblick verharrt? Wird die Weltgemeinschaft eine andere Wegrichtung einschlagen, wird dann «nichts mehr so sein, wie es war», wie alle jetzt eilfertig behaupten? Oder wird sich das dominante westliche Lebens­modell dann nur noch mehr beschleunigen in der alten katastrophalen Entwicklung des gewalt- und machtgesteuerten Anthropozäns, des «letzten Erdzeitalters», wie Du schreibst, mit seinen ungebrochenen Allmachts­fantasien? Mir scheint, das ist durchaus offen, unentschieden bis jetzt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob unsere Kraft, auch das intellektuelle, strategische und humanitäre Vermögen, ausreicht, die Entwicklung im entscheidenden Moment danach in die richtige Richtung zu bewegen.

Eigentlich versuche ich, ruhig zu bleiben und mich gut vorzubereiten, soweit meine Kräfte dazu reichen. Aber manchmal gelingt auch mir das nicht. So war es gestern, bei einem eher unauffälligen Anlass: In den «Tagesthemen» zum Ostersonntag gab es ein Interview mit Bill Gates, dem Erfinder, ja der Ikone der Digitalisierung. Mit seiner Stiftung, die sich auch um Pandemien kümmert, hatte er seine eigenen Prognosen. In spätestens zwei Jahren hätten wir den Impfschutz, der müsse dann milliarden­fach verabreicht werden. Die reicheren Länder des Westens und Nordens müssten das auch den ärmeren Ländern finanzieren. Danach würden weitere Pandemien kommen, auf die wir gleichfalls vorbereitet sein müssten. Der Zusammen­halt der Menschen werde wachsen, aber er müsse gut gelenkt werden. Die Digitalisierung werde, wie jetzt in Krisen­zeiten demonstriert, das öffentliche und private Leben regeln und schützen. Moderne Wissenschaft und globale Planung und Koordinierung würden die Probleme in den Griff kriegen. Als ich mir das bildhaft vorstellte, diese Art elektronischer Fussfessel für jeden, da wurde mir ganz kalt.

Ich beneide Dich um Deinen schönen Ort, von dem aus Du auf die Welt blickst. Um Deinen Garten mit Päonien und Azaleen, um den Teich «mit japanischer Anmutung» und grazilen Fischen, um den «von Heimlichkeit knisternden Waldrand», zu dem Ihr Euch nachts in einem Aufschwung von Dissidenz gegen das Gebot «Bleibt zu Hause!» hinauftraut, um von dort auf eine weite Alpen­landschaft zu blicken. Ich beneide Euch um die Schatten, die Euch im Mondschein deutlicher verfolgen als am Tage.

Ich schreibe Dir aus der Mitte von Berlin. Ich habe es auch gut hier. Auf meinem Balkon habe ich lauter blau blühende Blumen gepflanzt: Vergissmeinnicht, Stiefmütterchen, Glocken­blumen, Clematis – und allerlei Kräuter: Rosmarin, Berlepsch, Zitronen­melisse, Salbei, Petersilie. Die Vögel, meist Spatzen, füttere ich inzwischen den ganzen Sommer hindurch. Sie mögen das.

Auch ich spüre die Ruhe, von der Du schreibst. Dabei fällt mir ein Satz von Konrad Wolf, dem DDR-Regisseur, ein, der in «Ich war neunzehn» seine eigenen Kriegs­erlebnisse geschildert hat. Er sagt: «Der Krieg ist still, für die Soldaten ist der Krieg die meiste Zeit still.» Das ist das Unheimliche am Warten auf das, was kommt: die Stille.

Auch hier ist es still, stiller als sonst, obwohl ich dicht an der grossen Ost-West-Achse wohne, die Berlin durchschneidet. Es ist still. Alle warten auf irgendetwas. Nur manchmal höre ich Martins­hörner, die sind dann besonders laut.

Lieber Adolf, mit dem Schluss Deines Briefes hast Du mich völlig überrascht, mit dem Hinweis auf Paul Celans Gedicht. Es heisst ja wirklich: Corona.

Ich kenne dieses Gedicht seit langem. Ich kenne es auswendig. Es war auch mein Lieblings­gedicht: «Aus der Hand frisst der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde … Wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis …» Es gab eine Zeit, da war ich richtig Celan-süchtig. Die Bilder, die Sprache, der Klang. Und immer der Versuch, den einzigen Augenblick festzuhalten, um mit ihm die ganze Welt zu retten. Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt.

Wie kam Paul Celan nur auf diesen Titel:

Corona?

Ein Rätsel, eine Ahnung? Manchmal wissen die Dichter doch mehr als alle Wissenschaftler, Experten und Politiker.

Das ist eine Dissidenz, die unerschütterlich und eigensinnig daran festhält, dass die Welt doch noch einen anderen Sinn für uns bereithält.

Ich danke Dir sehr für diese Rückbesinnung auf die Deutung des Ausnahme­zustands als «Quelle hinreichend radikaler Gedanken».

Deine Antje Vollmer

Berlin, Ostermontag 2020

Zum Adressaten

Adolf Muschg, geboren 1934, ist eine der grossen Stimmen der Schweizer Literatur. Immer wieder hat er mit seinen Beiträgen die Schweizer Debatte geprägt, am kontroversesten mit dem Essay «Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt». 2018 ist sein Roman «Heimkehr nach Fukushima» erschienen.

Zur Autorin

Antje Vollmer, geboren 1943, ist promovierte Theologin, evangelische Pastorin und deutsche Politikerin. Sie war Mitglied der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und Vizepräsidentin des Bundes­tags von 1994 bis 2005. Zuletzt von ihr erschienen ist das gemeinsam mit Hans-Eckardt Wenzel verfasste Werk «Konrad Wolf: Chronist im Jahrhundert der Extreme».

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