Himmel, Hölle, Appenzell
Es brauchte ein Machtwort des Bundesgerichts, damit Appenzell Innerrhoden vor dreissig Jahren die Frauen endlich mitbestimmen liess. Warum eigentlich? Besuch im vielleicht stursten Kanton der Schweiz – der aber doch nicht viel anders ist als der Rest des Landes. Serie «Frauenstimmen», Folge 6.
Eine Reportage von Anja Conzett (Text) und Mina Monsef (Bilder), 13.03.2021
Wie eine zerrissene Perlenkette liegen sie am Fuss des Säntis: die schneebedeckten Hügel Innerrhodens. Schön ist es, dieses Appenzell, mit seinen erhabenen Bauernhäusern, treuen Hunden, tief verwurzelten Stammbäumen, seiner Handwerkskunst, den Sennentrachten, dem Käse, Schnaps und den Seen – trautes Auenland. Wäre da nicht diese hässliche Geschichte.
Vor knapp 31 Jahren sitzt Maria Eugster-Breitenmoser mit einer Freundin am Küchentisch vor dem Radio. Die Kinder spielen, den Müttern kommen die Tränen; Tränen der Enttäuschung.
Zur gleichen Zeit hat Beatrice Oberdorfer das Bügelbrett vor dem Fernseher aufgebaut und versucht, sich mit der Wäsche abzulenken, doch dann kommen auch ihr die Tränen; Tränen des Zorns.
Ihr Mann, Gerd Oberdorfer, steht im Ring auf dem Landsgemeindeplatz, den Degen in der rechten Hand, als der Landammann das Resultat verkündet: «Frauenstimmrecht abgelehnt.» Er weint nicht, er schüttelt nur den Kopf, wie es jemand tut, der Zeuge eines Unrechts wird, das er trotz grosser Anstrengung nicht verhindern konnte.
Am 29. April 1990 – fünf Tage nachdem das Hubble-Teleskop ins All geschickt wurde, knapp ein Jahr nachdem im Cern, etwa 282 Kilometer Luftlinie vom Landsgemeindeplatz entfernt, das World Wide Web erfunden wurde, neun Jahre nachdem die Schweiz den Gleichstellungsartikel in die Verfassung aufnahm – erklärt Innerrhoden erneut die Frau zum Menschen zweiter Klasse.
Was zum Teufel ist hier schiefgelaufen?
Revoluzzer wider Willen
In den Gassen des Innerrhoder Hauptorts Appenzell sind an diesem Februartag, knapp 31 Jahre nach jener geschichtsträchtigen Landsgemeinde, nur wenige Menschen unterwegs. Die meisten haben es eilig, es ist kalt. Feiern werde sie das Jubiläum nicht, sagt die Verkäuferin im Käseladen, da gebe es nichts zu feiern, das Frauenstimmrecht sei hier längst eine Selbstverständlichkeit. Ende der Diskussion.
Die vergnügte Dame, die aus der Bäckerei läuft, findet das Jubiläum des Frauenstimmrechts ungeheuer wichtig – aber sie lebe halt auch erst seit zehn Jahren im Kanton.
Jene Frau mit grauen Haaren, die ein paar Minuten später durch dieselbe Gasse geht, wendet sich noch mitten in der Frage ab und zischt über die Schulter: «Frauenstimmrecht? Nein, dazu habe ich bestimmt nichts zu sagen.»
In Appenzell ist es nicht so leicht, jemanden zu finden, der sich an die Einführung des Frauenstimmrechts erinnern will.
Beatrice und Gerd Oberdorfer wollen sich erinnern. Es scheint fast, als hätten sie lange darauf gewartet, dass ihnen jemand dabei zuhört. Das pensionierte Lehrerpaar lebt inzwischen im sankt-gallischen Rorschach, «im Exil», in einem Haus voller Erinnerungsstücke, die sie aus der Heimat mitgenommen haben. Auf dem Esszimmertisch liegt der Stapel Dokumente, der bis vor kurzem in einer Kiste mit der Aufschrift «Frauenstimmrecht» auf dem Estrich lag. Zeitungsartikel, Leserbriefe, Protokolle und private Korrespondenz erzählen eine Geschichte, die von Jeremias Gotthelf erdacht sein könnte.
«Das gängige Narrativ, das ist ein sehr unvollständiges Bild», sagt Gerd Oberdorfer. Das gängige Narrativ, wie er sagt: Appenzeller sind Hinterwäldler, die dem Druck von aussen zum Trotz und aus Liebe zur Tradition den Frauen (die das Stimmrecht angeblich gar nicht wollten) die Mitsprache verwehrten, bis eine auswärtige Frau praktisch im Alleingang vor Bundesgericht das Frauenstimmrecht einklagte, worauf die obersten Richter der Schweiz den Appenzeller Demokratiebegriff als verfassungswidrig verurteilten.
Oberdorfer ist Innerrhoder in der dritten Generation, seine Frau ist Appenzellerin, aber aus Ausserrhoden. In anderen Worten sind sie: Frönti. Fremde. «In Innerrhoden musst du deine Ahnen fast bis auf die Schlacht am Stoss zurückverfolgen können, damit du als Einheimischer giltst», sagt Gerd Oberdorfer. Diese Schlacht fand im Jahr 1405 statt.
Nicht nur die Abstammung machte das junge Paar zu Fremden, als sie sich 1967 in der Exklave Oberegg niederliessen, wo Gerd Oberdorfer die Leitung der Schule Sulzbach übernahm. Der unterdessen pensionierte Lehrer machte bald schweizweit Schlagzeilen für seine unkonventionellen Lehrmethoden. So war seine Schule die erste, in der es Computer gab, und auch für die Bildung von Erwachsenen engagieren sich die beiden, sie organisieren Vorträge und Veranstaltungen für mehrere tausend Besucher in einem Kanton mit wenigen tausend Einwohnern.
Dass das Frauenstimmrecht nach Innerrhoden gehört, war für die beiden eine Selbstverständlichkeit, woraus sie auch nie einen Hehl machten. «Wir waren überhaupt keine Revoluzzer. Aber für die damalige Zeit sicher ein modernes Paar – das reichte, um Opposition zu sein», sagen sie.
Das bescherte ihnen eines Tages einen Hausbesuch des Gemeindehauptmanns und Schulpräsidenten: Damals lebten Oberdorfers noch in wilder Ehe, was im Dorf Fragen zu ihrer moralischen Integrität und der Tauglichkeit als Vorbilder aufwarf. Sie solle zur Wahrung des Scheins doch jeweils einfach vor vier Uhr morgens das Haus verlassen, schlugen die Sittenwächter Beatrice Oberdorfer vor.
Als das Paar kurz darauf heiraten wollte, weigerte sich der Pfarrer, den Katholiken mit der Reformierten zu vermählen.
«Und in diesem Klima mussten wir das Frauenstimmrecht erkämpfen», sagt Gerd Oberdorfer. «Manchmal fühlte es sich an, als wären wir in einen heiligen Krieg geraten», sagt Beatrice Oberdorfer.
Heiligtum Landsgemeinde
Auch wenn das späte Frauenstimmrecht die berühmteste Besonderheit des Appenzells ist, ist sie bei weitem nicht die einzige.
Appenzell Innerrhoden ist einer von sechs Halbkantonen – mit 16’000 Einwohnerinnen der kleinste Kanton der Schweiz; mit 172 Quadratkilometern flächenmässig der zweitkleinste. Die einem herausgeschnittenen Herz gleichenden Umrisse des tiefkatholischen Innerrhoden schmiegen sich an den reformierten Schwesterkanton Ausserrhoden. Beide komplett umschlossen von St. Gallen – der «Fünfliber im Kuhfladen», wie sie sich selber gerne nennen.
In Innerrhoden kennt jeder jede. Es liegt unter anderem an dieser Kleinräumigkeit, dass der Kanton nebst Glarus der letzte mit einer Landsgemeinde ist. Lebten hier zu viele Menschen mit zu vielen Differenzen, liesse sich die Tradition allenfalls nicht mehr halten – wie in Ausserrhoden, wo die Landsgemeinde 1997 abgeschafft wurde.
In Innerrhoden aber versammelt sich das Stimmvolk noch immer an jedem letzten Aprilwochenende auf dem Landsgemeindeplatz im Hauptort Appenzell, um im sogenannten Ring mit Handzeichen über Amtsbesetzungen und kantonale Vorlagen zu bestimmen – die Männer mit dem Degen in der rechten Hand, die Frauen mit dem Stimmausweis. Darum herum: ein grosser Festakt mit Gottesdienst, Umzug, Musik, Essen, Trinken.
Bislang soll es in den über 600 Jahren seit der ersten verbrieften Landsgemeinde nur zwei Naturgewalten gegeben haben, die die Innerrhoder davon abhalten konnten, die Demokratie auf diese Weise zu feiern – Napoleon und Covid.
Die Landsgemeinde, dieser Superlativ der direkten Demokratie, ist hier eine hochheilige Angelegenheit. Und vielleicht spielte sie auch dabei eine Rolle, dass das Frauenstimmrecht so spät kam. Man sei nicht gegen die Frauen, sondern für die Landsgemeinde, hiess es oft.
Es ging die Furcht um, die Landsgemeinde müsse abgeschafft werden, wenn auch Frauen in den Ring steigen würden. Kein Platz (wie in Ausserrhoden) und überhaupt – die würdige Stimmung wäre ruiniert, die Frauen würden ja noch nicht mal einen Degen besitzen. (Der Degen gilt bis heute für die Männer als einzig nötiger Stimmrechtsausweis, die Frauen müssen sich dagegen mit Papier ausweisen.)
Maria Eugster-Breitenmoser, die 1990 vor dem Radio Tränen vergoss, schüttelt den Kopf und winkt ab. «Das mit der Landsgemeinde war eine faule Ausrede. Wenn sie abgeschafft worden wäre, dann eher ohne Frauen.» Zu sehr habe sie im Laufe der Zeit ihre Berechtigung verloren.
In ihrem Haus in Appenzell hängt der silberne Degen direkt neben dem Eingang und grüsst Gäste mit prunkvoller Verzierung. Einst gehörte er ihrem Vater, jetzt benutzt ihn ihr Mann. Eugster-Breitenmoser erinnert sich, wie sie früher dem Vater zusah, wie er sich jeweils auf die Abstimmungen vorbereitete, die Mutter den Degen putzte und er den Kindern Chrempfli mitbrachte – Nusskrapfen, die speziell zum Landsgemeindetag gebacken werden. «Für die Frauen war die Landsgemeinde genauso besonders wie für die Männer. Auch lange bevor wir teilnehmen durften.»
Wie Oberdorfers gehören auch Maria und Beda Eugster-Breitenmoser zu jenen, die damals für das Frauenstimmrecht kämpften. Nach dem Entscheid des Bundesgerichts gründete Maria Eugster-Breitenmoser das Frauenforum mit, das sie viele Jahre präsidierte. «Ziel war es, die Frauen staatspolitisch zu bilden, sie zu animieren, sich politisch zu engagieren, zu vernetzen.»
Das Frauenforum verhalf etwa Ruth Metzler (CVP) dazu, zur Bezirksrichterin, dann Kantonsrichterin und später zur ersten Regierungsrätin Innerrhodens zu werden – und ebnete ihr schliesslich den Weg in den Bundesrat.
Eugster-Breitenmoser erinnert sich gut an Metzlers erste Wahl: «Als Ruth als Bezirksrichterin kandidierte, haben sie ausgerechnet meinen Mann gefragt, ob er nicht gegen sie antreten könne.» Nicht weil Metzler verhindert werden sollte, sondern weil man glaubte, dass die junge Juristin keine Chance hätte und am Ende noch statt ihr ein Mann ins Richteramt gewählt werden würde, der nicht Recht studiert hat. Beda Eugster-Breitenmoser hätte die Wahl eines Juristen sichern sollen. «Mein Mann lehnte selbstverständlich ab», sagt Maria Eugster-Breitenmoser und lacht.
Wenn sie sich an die Zeit vor dem Frauenstimmrecht erinnert, ist ihr nicht zum Lachen zumute.
Mutterland in Vaterhand
In Innerrhoden wird eine Sprache gesprochen, die gleichzeitig mit jedem andern und keinem andern Dialekt verwandt zu sein scheint. Ein Urdialekt voller eigentümlicher Begriffe. Einer davon ist föötele. Sich einen Vorteil verschaffen. Das ist etwas, das sie lernen mussten, die Innerrhoder.
Denn bevor der Kanton mit tiefen Steuern Millionäre, Autovermieter und internationale Firmen anlockte, war er stets einer der ärmsten des Landes und hatte rekordhohe Suizidraten.
«Wir Innerrhoder waren seit jeher Aussenseiter: Der kleine, verschupfte, bitterarme Kanton», sagt Gerd Oberdorfer. «Wenn man nicht viel mehr hat als seine Identität, seine Traditionen, dann klammert man sich umso fester daran», sagt Beatrice Oberdorfer. Und irgendwann sei die politische Unterdrückung der Frau einfach Teil dieser Identität geworden.
Sicher ist: Kein Kanton hat häufiger Nein zum Frauenstimmrecht gesagt als Appenzell Innerrhoden. Der erste Vorstoss (auf Schul- und Kirchgemeindeebene) geht auf das Jahr 1969 zurück und stammte vom Bauern und Grossrat Josef Koller. Man erzählt, dass er ausgelacht wurde.
Als es zwei Jahre später um die Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene ging, legte Appenzell Innerrhoden anteilmässig mehr Nein-Stimmen ein als der Rest der Schweiz – 71 Prozent.
Im «Appenzeller Tagblatt» und im «Appenzeller Volksfreund» schreiben die Gegner in Leserbriefen mit jeder Abstimmung agitierter gegen das Frauenstimmrecht: Die Argumente sind oft dieselben wie im Rest der Schweiz – mal misogyn (Frauen sind nicht zum Regieren fähig), mal beleidigt (haben wir es bislang denn nicht recht gemacht?), mal paternalistisch (die Frau ist vor dem Drecksgeschäft Politik zu schützen) – und nicht selten in Reimform, wie in diesem Leserbrief aus dem «Volksfreund» von 1982:
Göll, liebe Landsmaa, s’Wyberschtimmrecht a de Landsgmeend isch Deer siche au gää nüd gnehm, dromm schtimm chreftig Nei, sös blyb denn lieber gad deheem.
Der Dauerbrenner unter den Argumenten aber ist eine Umfrage unter Innerrhoderinnen, die 1969 von der damals noch frauenstimmrechtsfeindlichen Regierung in Auftrag gegeben und auch noch 1990 zitiert wurde, als wäre sie brandneu – dort äusserten sich 1359 Frauen gegen das Stimmrecht, 1093 dafür.
Waren die Innerrhoderinnen von damals einfach unterwürfige Huscheli?
Mitnichten.
Die Armut des überdurchschnittlich lange von Landwirtschaft und Kleingewerbe geprägten Innerrhoden machte die Arbeit der Frauen zur existenziellen Einnahmequelle. Die Innerrhoder Bäuerinnen verdienten den Lebensunterhalt mit feinen Stickereien, die nicht selten die Haupteinnahmequelle der Familie waren. Der Stickstock stand bis tief ins 20. Jahrhundert vielerorts in der Mitte der Bauernhausstube. Von dort aus lenkten die Frauen die Geschicke der Familie, selbstbewusst und aufrecht wie die Hauben ihrer Trachten.
Bei den Gewerblerinnen sah es nicht anders aus. Maria Eugster-Breitenmoser wuchs in einer Metzgerei auf, das Bild des Familienhauses hängt neben dem Cheminée in ihrer Stube. Der Vater produzierte, die Mutter führte das Geschäft und die fünf bis sechs Angestellten – sowie die Buchhaltung. «Die Finanzen lagen meistens in Frauenhand», sagt sie.
In vielerlei Hinsicht war die Innerrhoderin also lange besser gestellt als andere Schweizerinnen. Es sei denn, sie war unverheiratet. Was man von alleinstehenden Frauen hielt, daraus machte man auch keinen Hehl. Ledige sollen gefälligst einen Mann finden, Geschiedene seien selber schuld, hiess es. «Und Witwen wurden aus dem kollektiven Bewusstsein verbannt», sagt Gerd Oberdorfer mit einem Blick zurück in seine Kindheit.
Oberdorfers Vater, ein Schneider mit eigenem Geschäft, starb, als der Sohn noch in der Schule war. Was es bedeutet, in Innerrhoden Witwe zu sein, lernte die Mutter drei Tage nach dem Tod ihres Mannes. Ein Bekannter stand vor ihrer Tür und wollte die prächtige zeremonielle Feuerwehruniform des Mannes abholen, die er jeweils zur Landsgemeinde trug. Sie brauche sie jetzt ja nicht mehr und werde sowieso bald zurück nach Österreich ziehen, wo sie herkomme.
Auch Frauen wie Maria Eugster-Breitenmoser und ihre Mutter gab es gemäss den Gegnern des Frauenstimmrechts nicht: «echte» Einheimische, die für das Frauenstimmrecht waren – denn nur auswärtige Weiber, Frauen, die um fünf vor zwölf eine Büchse Ravioli öffneten, würden wählen wollen.
Frönti Fötzl und ägni Lüüt
Die bekannteste dieser «auswärtigen Fünf-vor-zwölfi-Frauen» ist Theresa Rohner. Eine Ausserrhoderin, die seit fünfzehn Jahren in Appenzell wohnte und mit einem Innerrhoder verheiratet war, als sie im Mai 1989 am Bundesgericht eine Stimmrechtsbeschwerde gegen das Stimmverbot im Kanton einreichte. Damit legte sie den Grundstein für das spätere Urteil. Heute lebt Theresa Rohner zurückgezogen und will sich nicht mehr öffentlich über die Zeit äussern.
Vor Rohner gab es Ottilia Paky, die zwar eine angestammte Innerrhoderin – eine ägne – war (mit eigenem Trachtengeschäft an der Hauptgasse noch dazu), aber mit einem Österreicher verheiratet, wodurch ihr automatisch die Bürgerinnenrechte aberkannt wurden. Eine Demütigung, die die Geschäftsfrau politisierte. 1979 wollten die SP-Frauen Schweiz Paky und ihren Kampf fürs Frauenstimmrecht mit einem Besuch unterstützen. Sie reisten nach Appenzell und zogen dort proklamierend durch die Gassen – die einheimischen Frauen blieben der Veranstaltung weitgehend fern.
Die Kundgebung kam nicht gut an, wie Paky selbst in einer «Club»-Sendung feststellte. Fremde Frauen, die den Appenzeller Männern sagen wollen, wo es langgeht, und dann auch noch von einer Partei – unerhört.
Dazu muss man wissen: Bis 1988 die CVP einen Ableger gründete, gab es in Innerrhoden keine klassischen politischen Parteien. 1996 folgte die zweite Partei: die SVP. Innerrhoden ist ein Kanton, der seit jeher von Interessenverbänden regiert wird: den Bauern, verschiedenen Gewerblern und (marginal) den Arbeitnehmern.
Aufruhr in dieses Geflecht brachte 1969 die Gründung der Gruppe für Innerrhoden (GFI) – eine Mischung aus Verband, Reformpartei und Bewegung, von Jungbürgern mit dem Ziel ins Leben gerufen, das Frauenstimmrecht in Appenzell einzuführen.
Beatrice und Gerd Oberdorfer traten 1975 bei. «Wir galten als linke Hunde, und viel Macht hatten wir im Vergleich zu den andern Verbänden nicht, aber hin und wieder gelang es uns, jemanden zu portieren oder etwas durchzubringen.» Das Frauenstimmrecht, obwohl Gründungsmotiv, gehörte nicht dazu.
An der heute berüchtigten Landsgemeinde von 1990 hält sich die Gruppe still – um ja nicht zu provozieren. Also sprechen am Tag selber zwei Votanten gegen das Frauenstimmrecht, kein einziger dafür – und die GFI steht vor einem Scherbenhaufen. «In der Beiz machten wir uns später Vorwürfe, wer auf den Stuhl hätte steigen und reden sollen.» Auch ist man sich uneinig, wie es weitergehen soll. «Füsse stillhalten, ja nicht noch mehr Zwang», sagen die einen. «Jetzt geben wir erst recht Gas», sagt Gerd Oberdorfer.
Danach geht alles sehr schnell.
Ein Aktionskomitee für das Frauenstimmrecht wird gegründet – auch Maria Eugster-Breitenmoser ist dabei. Sie erinnert sich gut, wie sie in den Sitzungen im «Rössli» jeweils die Vorhänge zuziehen mussten, weil Gaffer von der Strasse schauen wollten, wer da mit am Tisch sitzt.
In knapp sechs Wochen werden 1162 Unterschriften für eine kantonale Initiative gesammelt, die verlangt, erneut über das Frauenstimmrecht abzustimmen. Eine Petition an das Bundesparlament wird aufgegleist, eine nationale Initiative angedacht.
Doch was später noch viel entscheidender sein wird: Das Aktionskomitee und die GFI schliessen sich Theresa Rohners Beschwerde vor Bundesgericht mit zwei weiteren Sammelbeschwerden an. Eine davon ist unterzeichnet von 53 Frauen, eine von 49 Männern. Gerd und Beatrice Oberdorfer sind dabei, auch Maria-Eugster Breitenmosers Mann unterschreibt.
«Das war keine Selbstverständlichkeit», erinnert sich Gerd Oberdorfer. «Mit nur einer Stimme Mehrheit und viel Überzeugungsarbeit entschied eine Mitgliederversammlung der GFI damals, sich Theresa anzuschliessen.»
Für die Beschwerden hagelt es Kritik. Auch von jenen, die das Frauenstimmrecht eigentlich befürworten, wie die Innerrhoder Regierung.
Für Oberdorfers klingt das auch heute noch wie ein schlechter Witz. «Wäre die Regierung vehementer für das Frauenstimmrecht eingestanden, hätten wir womöglich gar nicht bis nach Lausanne gehen müssen.»
Stimmt das? Hätte die Innerrhoder Regierung stärker Stellung nehmen können? Hätte der Landammann die Dringlichkeit der Lage erkennen und mehr dafür tun müssen, die Innerrhoder vor einer historischen Peinlichkeit zu bewahren?
Die Fragen sind gerechtfertigt, denn die Abstimmung an der Landsgemeinde von 1990 war nicht einfach eine weitere zum selben Thema: Das Bundesgericht hatte Theresa Rohners Beschwerde nämlich im Einvernehmen mit der Beschwerdeführerin auf Eis gelegt, weil es die Landsgemeinde vom April 1990 abwarten wollte.
Mit anderen Worten: Diese Landsgemeinde war eine letzte Chance für Appenzell Innerrhoden, aus eigener Kraft das Richtige zu tun.
Der Landammann
An jenem Tag ist der Andrang so gross, dass sogar auf den Dächern Zuschauer sitzen, das zeigen Aufnahmen in den Lokalzeitungen. Medien aus aller Welt sind gekommen. Im Ring, so stellt die Regierung später fest, stehen nicht nur Appenzeller, sondern auch fremde Männer, die sich von irgendwoher einen Degen beschafft haben. Es wird gejohlt und gegrölt. Von der viel beschworenen würdigen Stimmung ist nicht viel zu spüren, als der Landammann das Resultat der Abstimmung verkündet: 6:4, Nein zum Frauenstimmrecht.
Innerrhoder Landammänner sind ein einmaliger Schlag Politiker. Statt einer Amtszeitbeschränkung kannte Appenzell bis 1994 das Gegenteil: einen Amtszwang, der Gewählte in gewissen Diensten bis zu zwanzig Jahre im Amt verpflichtete. Was zur Folge hatte, dass die bisherigen Landammänner (eine Frau hatte noch nie die Ehre) ihre Posten teilweise über eine Dauer bekleideten, wie man dies sonst nur von Diktatoren oder Monarchen kennt.
Und auch in Sachen Gewaltentrennung nahm es der Kanton bis 1995 nicht so genau: Der Landammann präsidierte nicht nur die Exekutive – die in Innerrhoden Standeskommission heisst –, sondern auch die Legislative, den Grossen Rat. Oft sitzen die Landammänner auch gleich noch im Ständerat oder Nationalrat, wo sie im Verhältnis dazu, wie viele Bürgerinnen sie vertreten, die mächtigsten Parlamentarier der Schweiz sind.
1984 wird Carlo Schmid mit nur 34 Jahren ins Amt des Landammanns gewählt und bleibt es bis 2013. Dazu war er 27 Jahre Ständerat und Mitte der Neunziger zwei Jahre Präsident der CVP Schweiz. Sein Spitzname: «König Carlo».
Schmid hatte sich wie der gesamte Grosse Rat und der Rest der Regierung für das Frauenstimmrecht ausgesprochen. Wie ernst es ihm mit seiner Fürsprache war, wurde mehr oder weniger offen angezweifelt. Zum Beispiel in der «Zeit», die 1989 schrieb, Schmid spreche für das Frauenstimmrecht, «wenn man ihn ausdrücklich um seine Meinung ersucht und er sich nicht drücken kann. Allein, es will ihm niemand so recht glauben.»
Wir sprechen mit Carlo Schmid am Telefon.
Den Vorwurf, die Regierung hätte klarer auftreten müssen, um das Frauenstimmrecht an der Landsgemeinde durchzubringen, weist er zurück.
«Wir haben getan, was wir konnten. Landsgemeinden sind diffizile Veranstaltungen. Die Landleute wollen nicht am Strick, sondern am Faden geführt werden. Als Landammann muss man daher stets aufpassen, das richtige Mass in der Argumentation nicht zu verlieren, denn wenn der Landammann zu ‹aufsässig› argumentiert – ‹den Leuten auf der Seele herumkniet›, wie wir sagen – ist das kontraproduktiv.»
Warum brachte dann der Ausserrhoder Landammann das Frauenstimmrecht 1989 trotz sehr klarer Worte durch?
«Ich spreche nicht gerne über die Angelegenheiten anderer Kantone, nur so viel: Die Ausserrhoder Landsgemeinde kannte keine Diskussionen. In Innerrhoden haben wir hingegen hitzigste Diskussionen. Da muss man als Landammann ein halber Herrgott sein, um nach Voten wie denen zum Frauenstimmrecht die Stimmung wieder herumzureissen.»
Obwohl Schmid das Frauenstimmrecht befürwortete, bezeichnete er das Bundesgerichtsurteil, das den Innerrhoderinnen schliesslich das Stimmrecht gewährte, «als staatsrechtliche Katastrophe». Warum?
«Das stimmt, dazu stehe ich. Dass wir das Frauenstimmrecht nicht hatten, war für mich ein klarer politischer Fehler, aber aus unserer Perspektive nicht rechtswidrig – denn die Bundesverfassung garantierte vorbehaltlos, dass die Kantone frei sind in der politischen Organisation ihres Staates.»
In diesem Punkt hat Schmid recht. Die Bundesverfassung sprach den Kantonen die Souveränität in Wahl- und Stimmangelegenheiten zu – in direktem Widerspruch zum Gleichstellungsgesetz, das ebenfalls in der Verfassung verankert war. Ein politisch gewollter Dualismus.
Schmid entschied, den Föderalismus und die direktdemokratische Meinungsäusserung höher zu halten als die Gleichstellung der Frauen. Und damit war er bei weitem nicht allein.
Eine gutschweizerische Angelegenheit
Der Rest der Schweiz belächelt die Appenzeller gerne als Hinterwäldler, die ihren Frauen das Stimmrecht vorenthielten. Dazu besteht kein Anlass: Die Bundesgesetze machten das nämlich erst möglich.
Schon 1971 hätte der Bund das Frauenstimmrecht mit einer entsprechenden Vorlage auf allen Staatsebenen einführen können. Mit der Annahme des Gleichstellungsartikels zehn Jahre später hätte die Souveränität der Kantone dem neuen Gesetz problemlos untergeordnet werden können.
Als 1983 Appenzellerinnen eine Petition in Bern einreichten, die die Souveränität der Kantone in Wahlfragen aufheben wollte, beschlossen die Parlamentarier zwei Jahre später, diese nicht an den Bundesrat zu überweisen.
Und noch etwas: Die Kantonskasse Innerrhodens wurde zu einem beachtlichen Teil durch Beiträge der Bundeskasse gefüllt, es hätte also auch dort einen Hebel gegeben. Doch statt den Appenzellern Beine zu machen, zog der Bund es vor, bis 1990 keinem internationalen Abkommen beizutreten, bei dem das Frauenstimmrecht Bedingung war.
Insofern war Innerrhoden nur der Tümpel, in dem sich das Schweizer Demokratieverständnis spiegelte: Föderalismus über Grundrechten, Männer über Frauen.
Erst nach der dritten und letzten Absage der Innerrhoder Männer an das Frauenstimmrecht kündigte der Bundesrat an, er werde jetzt wohl handeln müssen – und den Verfassungswiderspruch mit einer Teilrevision zugunsten der Gleichstellung aufheben. Das wäre die von Carlo Schmid und der Innerrhoder Regierung favorisierte Lösung gewesen.
Doch das Bundesgericht hatte genug gesehen. Es hatte den Ball bereits einmal nach Appenzell Innerrhoden zurückgespielt. Jetzt fällte es einen Entscheid.
Gerd Oberdorfer erinnert sich noch gut an die Fahrt nach Lausanne am 27. November 1990. «Ich war mir sicher, dass wir gewinnen, aber die meisten glaubten nicht, dass wir eine Chance haben.»
Die Beschwerdeführer hatten tatsächlich wenig Anlass, siegessicher zu sein. Rechtsexperten prophezeiten schlechte Chancen. Schliesslich hatte das Bundesgericht auch noch nie im Sinne des Frauenstimmrechts entschieden.
Die Richter machten es sich denn auch nicht leicht: 31 Seiten sorgfältiger Abwägung umfasst das Urteil. Auf Theresa Rohners Beschwerde wird aus prozessualen Gründen nicht eingegangen. Auf die andern beiden Beschwerden schon. Der einstimmige Beschluss der Richterschaft: Die Innerrhoderinnen sind ab sofort stimmberechtigt.
Gift in der Luft
Maria Eugster-Breitenmoser kommen die Tränen, als sie die Nachricht zu Hause hört, dieses Mal vor Freude. Und Erleichterung. «Gut so. Sonst hätten wir den Männern am Ende noch Danke sagen müssen, dass sie uns das Stimmrecht gegeben haben.»
Beatrice Oberdorfer, die für ihren Mann unterrichtete, damit er ans Bundesgericht fahren konnte, jubelt, als sie das Resultat hört: «Wer weiss, wie viele Jahre wir sonst noch hätten warten müssen.»
Für Gerd Oberdorfer war das Urteil der bestmögliche Ausgang. «So hatten zwar die Appenzeller das Frauenstimmrecht abgelehnt, aber es waren auch Appenzellerinnen und Appenzeller, die es schliesslich erstritten», sagt er – und freut sich noch heute diebisch über die 6000 Franken Entschädigung, zu denen die Regierung verknurrt wurde.
Was für viele ein Freudentag und ein Triumph des Rechtsstaats war, war für andere «ein schwarzer Tag» und eine «Vergewaltigung» durch Lausanne, wie ein Innerrhoder Bauer im «Appenzeller Volksfreund» zitiert wurde. Ein anderer: Die Landsgemeinde könne man abschreiben. Mit dieser Haltung sind sie nicht allein.
«Die Stimmung nach dem Beschluss im November bis zur nächsten Landsgemeinde im April war extrem giftig», sagt Gerd Oberdorfer. «Und keine bekam den Zorn der Verlierer härter zu spüren als Theresa Rohner», fügt Beatrice Oberdorfer an.
Schon lange vor dem Urteil flogen Steine durchs Schaufenster von Rohners Töpferladen. Später waren die Drohungen und Beschimpfungen so schlimm, dass sie Polizeischutz brauchte. Andere kamen glimpflicher davon.
«Im Gegensatz zu Theresa wurde ich nie angegriffen», sagt Maria Eugster-Breitenmoser. Sie stammt aus einer angesehenen Familie, die mehrere Politiker hervorgebracht hat und die voll und ganz hinter dem Frauenstimmrecht stand.
Einzig ihr Mann wurde einmal angegangen. Als er an einer Bezirksgemeinde für ein Richteramt vorgeschlagen wurde, stieg er auf die Bühne – den sogenannten «Stuhl» – und sagte, er werde kein Amt annehmen, solange es kein Frauenstimmrecht gebe. Obwohl ihm prophezeit wurde, dass damit seine Karriere im Kanton beendet sei, wurde er später doch noch Richter – die Frauen wählten mit.
Auch Oberdorfers erfuhren nicht unmittelbar Anfeindungen, dafür seien sie als Lehrer zu hoch angesehen gewesen. «Die Retourkutsche kam später», sagt Beatrice Oberdorfer. Als die Schule, die das Paar führt, 2006 aus Spargründen geschlossen werden soll, glauben sie, es handle sich um ein Sachgeschäft. «An der Gemeindeversammlung waren die Voten dann aber so hasserfüllt, voller Wut und Häme … da wurde uns klar – es geht hier um uns», sagt Beatrice Oberdorfer. Das Frauenstimmrecht sei sicher nicht der einzige Grund für die Abrechnung gewesen, sagt Gerd Oberdorfer: «Wir sind auch in anderen Belangen oft genug angeeckt.»
Die Eltern der Schüler stehen geschlossen hinter dem Paar, es reicht nicht, die Schule geht zu, Oberdorfers ziehen fort aus Innerrhoden.
«Doch damals, an der ersten Landsgemeinde, an der die Frauen dabei waren, war erst einmal alles gut», sagt Beatrice Oberdorfer. Maria Eugster-Breitenmoser erinnert sich, dass sie sich untereinander abgesprochen hatten, wo sie stehen würden. «Wir wussten nicht, wie es kommen würde, ob die Gegner uns behelligen würden.»
Die Gegner bleiben zu Hause. Stattdessen sind rund ein Drittel des Stimmvolks im Ring Frauen.
Zwischen Moderne, Tradition und Vergessen
Wenn man heute als Gast durch Appenzell läuft, ertappt man sich als Frau vielleicht dabei, wie man jeden Mann über fünfzig misstrauisch mustert. Adriana Hörler passiert das nie. Die 24-Jährige steht auf dem Landsgemeindeplatz, umgeben von den aufwendig bemalten Fassaden der Restaurants, Hotels und Wohnhäuser, und grüsst, wie es sich im Dorf gehört, jeden, der vorbeigeht. Hörler ist in Innerrhoden aufgewachsen, hat hier das Gymnasium besucht und studiert unterdessen in Bern Jus.
Vor drei Jahren machte sie Schlagzeilen, als sie an der Landsgemeinde auf den Stuhl stieg und die Regierung für ihre intransparente Informationspolitik zu einer Vorlage kritisierte. Eine Besonderheit, denn noch immer gibt es klare Hierarchien, wer an der Landsgemeinde zu sprechen hat und wer nicht. Wenn es jemand Junges tut, erst noch eine junge Frau, die dann noch die Regierung kritisiert, dann ist das eine kleine Sensation. Das Stimmvolk quittierte die Rede mit Applaus, was höchst ungewöhnlich ist. «Sicher, ich war nervös, aber ich wusste auch, dass es mir zusteht, meine Meinung zu sagen», erinnert sich Hörler.
Adriana Hörler ist sechs Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts im Kanton Appenzell geboren worden. Sie steht für eine Generation von jungen Frauen, die mit dem Selbstverständnis aufwuchsen, dass sie zur Landsgemeinde gehören wie die Gerichtslinde in der Mitte des Platzes.
Der Kampf um das Frauenstimmrecht ist weit weg von ihr. Wahrscheinlich hatte sie mal etwas in der Schule, aber sie erinnert sich nicht mehr genau. «Was ich nicht verstehe – die Ausserrhoder waren auch nur zwei Jahre vor uns. Warum geht es immer nur um die Innerrhoder?»
Weil die Ausserrhoder den Rank doch noch gekriegt haben und nicht vom Bundesgericht gezwungen werden mussten. Sie nickt. «Stimmt schon.»
Adriana Hörler wollte mit ihrem Vater darüber sprechen, was er damals gestimmt hat. Er erinnerte sich nicht mehr.
Während Hörler auf dem Landsgemeindebrunnen vor der Statue des Landsgemeindemannes für die Fotografin posiert, läuft ein älterer Herr vorbei. Er betrachtet das Geschehen kritisch. Das Bild gefällt ihm zwar, aber: «Sie könnte ein bisschen freundlicher dreinschauen», sagt er. Was er vom Jubiläum zum Frauenstimmrecht halte? «Sollen sie nur feiern, ist mir recht.» Und wie sei er damals dazu gestanden? Er grinst verschmitzt. Zwinkert, zuckt die Schultern und läuft winkend davon.
Die meisten Gegner von damals hätten ihre Meinung rasch geändert und wüssten heute nicht mehr, was sie sich damals dachten, sagt Maria Eugster-Breitenmoser.
Beatrice und Gerd Oberdorfer wissen es bei vielen noch ganz genau – wer damals unterschrieben hat, wenn Unterschriften für Initiativen gesammelt wurden, und wer nicht. «Manchmal erinnern wir uns besser als die Person selbst», sagt Gerd Oberdorfer lächelnd.
Ein Danke hat es für die Appenzellerinnen, die das Stimmrecht erstritten, nie gegeben. «Das ist auch nicht nötig», sagt Maria Eugster-Breitenmoser. «Was es dagegen dringend bräuchte, ist eine saubere Aufarbeitung dieses wichtigen Teils der Innerrhoder Geschichte.»
Doch dafür, dass es so traditionsbewusst ist, ist es verdammt gut im Vergessen, dieses Innerrhoden.
Während der Kampf ums Frauenstimmrecht in Ausserrhoden vielfältig dokumentiert ist, findet sich zum Pendant in Innerrhoden kaum Literatur. Und wenn, dann in Ausserrhoder oder Zürcher Publikationen. Auch Studien, die sich spezifisch damit befassen, sind rar – fündig wird man in einem Working Paper der HSG, einer Masterarbeit von Orlando Caduff und in der Arbeit einer Schülerin namens Vreni Mock für «Jugend forscht» aus dem Jahr 1988. Dazu gibt es einen Dokumentarfilm von Edith Jud aus dem Jahr 1990, den man nur noch auf Umwegen zu sehen bekommt.
Im Landesarchiv lassen sich zwar einige Unterlagen finden, das meiste ist aber nur physisch einsehbar oder gar mit Schutzfristen versehen, die erst im Jahr 2039 ablaufen. Viele Dokumente befinden sich bis heute in privater Hand.
In Feierlaune scheint die öffentliche Hand ob des 30-Jahre-Jubiläums der ersten Frauenlandsgemeinde vom April 1991 auch nicht zu sein – der Veranstaltungskalender ist leer, es findet sich auch nichts zum Jubiläum des Bundesgerichtsurteils vom November 1990. Der offizielle Beitrag, der sich auf der Kantonsseite dem Thema Frauenstimmrecht widmet, beginnt mit dem Satz:
«Eine 1969 durchgeführte konsultative Befragung ergab, dass eine Mehrheit der Innerrhoderinnen dem Frauenstimmrecht skeptisch gegenüberstand.»
Was zum Teufel läuft hier schief?
«Ich glaube, es ist weniger Scham über den Ausgang der Abstimmung als Schmach über das Urteil des Bundesgerichts», sagt Eugster-Breitenmoser.
«Fehler einzugestehen, ist keine Innerrhoder Qualität», sagt Gerd Oberdorfer. «Ich fürchte, dass viele bis heute nicht verstehen, dass wir aus Liebe zu Innerrhoden so hart gekämpft haben», sagt Beatrice Oberdorfer.
Nicht schrecklicher als anderswo
Der Grosse Rat Innerrhodens hat heute einen Frauenanteil von 22 Prozent – und schneidet damit besser ab als Nidwalden, Glarus, Graubünden, das Wallis und Schwyz. Im Nationalrat und im Ständerat sitzt je ein Mann, dafür sitzt in der siebenköpfigen Regierung immerhin eine Frau – was eine mehr ist als in Ausserrhoden, Graubünden, Uri, im Tessin, in Luzern und im Aargau, wo reine Männergremien regieren. Je nach Schätzung machen Frauen 40 bis 50 Prozent der Stimmenden im Ring aus.
Dreissig Jahre nachdem die Frauen zum ersten Mal an einer Landsgemeinde teilnehmen konnten, steht es um die politische Gleichstellung in Innerrhoden also nicht viel schrecklicher als anderswo.
Und sicher: Man findet sie noch, wenn man sie sucht, jene Innerrhoder, die das Frauenstimmrecht weiterhin für einen Fehler halten, sich in die Zeit davor zurückwünschen.
Aber solche Männer gibt es auch an anderen Orten der Schweiz. Nur werden sie dort verdankenswerterweise nicht um ihre Meinung gebeten.
Trotzdem wird Innerrhoden für immer der letzte Kanton sein, in dem die Frauen das Stimmrecht erhielten. Genauso, wie er die Heimat der letzten Suffragetten der Schweiz bleibt.
Hölle und Himmel liegen nah beieinander im gotthelfschen Land.
Mit Innerrhoden haben die Oberdorfers abgeschlossen. Politisch sei sie nach wie vor interessiert, zum Beispiel beim Thema Ausländerstimmrecht, sagt Beatrice Oberdorfer, aber ihr fehle unterdessen der Elan. Sie lasse lieber ihre Tochter politisieren. Diese ist in Bern Grossrätin. Gerd Oberdorfer würde gerne noch ein Buch schreiben – über Pädagogik, nicht das Frauenstimmrecht.
Maria Eugster-Breitenmoser wünscht sich nebst politischer Aufarbeitung, dass sich die Frauen in Innerrhoden wieder organisieren. Das Frauenforum löste sich 2015 auf. «Unser Auftrag war erfüllt, jetzt muss die neue Generation kommen.» Zuvorderst in der Mappe mit der Aufschrift «Frauenstimmrecht», die sie auf den Knien hat, liegt zusammengefaltet ein Artikel über Adriana Hörler.
Adriana Hörler ist in Bern der GLP beigetreten, aber die gibt es in Innerrhoden nicht. Ob sie wirklich in die Politik will, da ist sie sich auch gar nicht sicher. «Vielleicht.» Sie blickt hoch zum Landsgemeindemann auf dem Brunnen, der die steinerne Hand zur Stimme hebt. «Eigentlich müsste man, oder?»
Ja, natürlich haben wir sechs Halbkantone in der Schweiz, nicht vier – wir haben korrigiert und danken der aufmerksamen Leserin.