III. Aufräumen
Das Universitätsspital Zürich verkündet einen Neuanfang für die Herzmedizin. Köpfe rollen, Rücktritte folgen. Doch die Aufräumarbeiten verlaufen nicht reibungslos. Wie sollten sie auch? Zürcher Herzkrise – Abschluss der Trilogie.
Von Philipp Albrecht, Dennis Bühler, Brigitte Hürlimann (Recherche) und Goran Basic (Bilder), 05.03.2021, Update: 02.02.2022
Es ist ein milder, frühherbstlicher Donnerstagvormittag. In der Stadt Zürich sitzen die Menschen in den Strassencafés und blinzeln in die Sonne. Blauer, fast wolkenloser Himmel. Die Pandemie lässt sich an diesem Tag noch verdrängen, die zweite Welle zeichnet sich erst entfernt am Horizont ab.
Am Universitätsspital Zürich lässt sich nichts mehr verdrängen. Die mediale Berichterstattung über Vorgänge in der Herzmedizin dauert schon seit Monaten an, schier pausenlos, und sie will einfach kein Ende nehmen. Schlagzeile folgt auf Schlagzeile. Sogar die für ihre zurückhaltende Tonalität bekannte NZZ schreibt von einer «veritablen Schlammschlacht».
Das soll nun ein Ende haben. 3. September 2020: Die Spitalleitung des USZ plant den Befreiungsschlag. Auf 10 Uhr hat sie zur Medienkonferenz geladen. Themen: Neustart an der Klinik für Herzchirurgie, Bewältigung der Krise. Ziele: Zuversicht und Optimismus verbreiten, Vertrauen wiederherstellen. Über Konsequenzen informieren. Führung demonstrieren. Ein neues Leitungsteam präsentieren – zwei Aufräumer, die das wichtigste Herzzentrum der Schweiz endlich aus dem Trauertal führen sollen.
Im ersten Teil dieser Recherche haben wir dargelegt, wie ein Kampf um Macht und Mittel zwischen Herzchirurgie und Kardiologie das Universitätsspital lähmt und die Rivalitäten in ein Buhlen um Patientinnen ausarteten.
Im zweiten Teil beleuchteten wir die darauf folgende Eskalation und die katastrophale Rolle einiger Medien. Und deckten auf, dass es neben dem ersten ein zweites, nicht minder brisantes Whistleblowing gibt am USZ – gegen den leitenden Arzt und Hinweisgeber im «Fall Maisano».
Doch davon weiss die Öffentlichkeit nichts im September 2020, als die USZ-Leitung vor die Medien tritt. Gut zwei Dutzend Journalisten sind angereist und klappen ihre Laptops auf, TV-Teams und Radiomitarbeiter installieren Kameras und Mikrofone, ein Sicherheitsmann in Schwarz sorgt diskret für einen geordneten Ablauf. Auch die Republik ist vor Ort. Die Veranstaltung wird vom USZ live gestreamt. Vorne am Tisch haben Platz genommen:
Martin Waser, der Präsident des Spitalrats;
Gregor Zünd, der Direktor des USZ;
Cindy Mäder, die Leiterin der USZ-Kommunikationsabteilung.
Die wichtigsten Informationen werden vom Blatt abgelesen, es soll zu keinen Versprechern kommen, die ein juristisches Nachspiel haben könnten; es sind schon genug Rechtsverfahren im Gang. Nachdem Spitalratspräsident Waser mehrfach betont hat, es müsse nun wieder «Ruhe einkehren» in der Zürcher Herzmedizin, es brauche «geordnete und klare Verhältnisse», lässt Direktor Zünd die Katze aus dem Sack.
Man habe beschlossen, sagt Zünd, sich von «beiden Exponenten des Konflikts» zu trennen: «Nur so kann Ruhe einkehren.» Gemeint sind Klinikdirektor Francesco Maisano und der leitende Arzt André Plass, der den «Fall Maisano» ins Rollen gebracht hatte.
Mit Maisano hat das USZ eine Aufhebungsvereinbarung getroffen. Die Art der Trennung von Plass hingegen bleibt noch offen.
Die Verblüffung unter den Medienschaffenden ist gross, vor allem, was den Whistleblower betrifft. Der Umgang mit ihm war auffallend inkonsequent. Zuerst wollte ihn die USZ-Führung in den Urlaub schicken, dann bekam er ein Operationsverbot. Ende April 2020 wurde ihm ein erstes Mal gekündigt, doch Anfang Juli kehrte er zurück ans USZ. Und nun teilt die Spitalleitung vor versammelter Presse mit, man wolle sich erneut von Plass trennen.
Gregor Zünd erwähnt an der Medienkonferenz nochmals kurz das neue «Führungsduo», dem der «Neustart» anvertraut wird: Paul Vogt als Klinikleiter und Peter Matt als Stellvertreter. Den beiden sei es nach ihrem interimistischen Amtsantritt wenige Wochen zuvor gelungen, das System zu stabilisieren. Herzpatienten würden dem USZ wieder vermehrt zugewiesen. Die Fallzahlen stiegen an. Und das ist für die Herzmedizin am grössten Universitätsspital der Schweiz nicht zuletzt auch ökonomisch wichtig.
Kurz nach der Medienkonferenz wird allerdings bekannt, dass Peter Matt doch keine Lust auf den «Neustart» am USZ hat.
Stattdessen wird er Chefarzt am Kantonsspital Luzern.
Was war geschehen?
Im letzten Teil unserer Trilogie zeigen wir auf, warum die Affäre noch längst nicht ausgestanden ist, wie hoch der Kollateralschaden für den Medizin- und Wissenschaftsstandort Schweiz ist – und was die lessons to learn sind.
Fazit 1: Grobe Verfahrensfehler
Die beiden Herzchirurgen und potenziellen «Aufräumer» interessieren die Medien an diesem Septembermorgen nur am Rande. Auch die Mitteilung, das USZ wolle zusammen mit einer externen Firma eine anonyme Whistleblower-Plattform schaffen, macht keine Schlagzeilen. Der mediale Fokus richtet sich auf die Trennung von André Plass. «Der Whistleblower wurde verheizt», schreibt der «Tages-Anzeiger». Man habe ihn ins offene Messer laufen lassen: «Der 3. September ist ein schwarzer Tag für diejenigen (…), die bei Missständen nicht einfach wegschauen mögen und die sich Zivilcourage zutrauen.»
Dass man sich definitiv vom «umstrittenen» Klinikdirektor Maisano trennt, dem ja «schwere Vorwürfe» gemacht wurden, überrascht niemanden.
«Der Vorwurf der Geldgier verletzt mich am meisten. Ich bin Mediziner. Aber als Direktor einer grossen Klinik war ich auch ein CEO, ein Unternehmer. Und Lehrer, Forscher, Entwickler. (…) Meine Interessenbindungen sind ein Teil meiner Karriere. Ich arbeite seit 20 Jahren auf diesem Gebiet, in dem es grosse Entwicklungen gab. Natürlich habe ich in dieser Zeit verschiedene Erfolge gefeiert – auch finanzielle. Ich habe medizinische Produkte erfunden, die heute angewandt werden. Gerade wegen meiner Erfindungen holte man mich ja ans USZ», sagt Francesco Maisano drei Tage nach der Medienkonferenz im Interview mit dem «SonntagsBlick».
Das USZ verschickt noch am Tag der Pressekonferenz zwei separate Medienmitteilungen. In der einen wird der «Neustart» proklamiert, in der zweiten Maisano verabschiedet. Er verlasse das Spital per 28. Februar 2021 «im gegenseitigen Einvernehmen». Die Parteien seien ungeachtet der noch laufenden Untersuchungen übereingekommen, dass «eine Trennung angesichts der andauernd belastenden Situation für beide Seiten die beste Lösung ist». Es folgen ein paar freundliche Worte über den Klinikdirektor. Und das Bedauern über die «gegen ihn gerichtete Medienkampagne».
Allerdings hat das USZ seinen Klinikdirektor nicht vor der medialen Rufmordkampagne geschützt, weder rechtlich noch kommunikativ. Es sorgte sich in erster Linie um den Ruf der Institution, um das eigene Image. Der Chefarzt wiederum unterschätzte masslos, was da auf ihn zukam. Er holte sich erst spät und auf eigene Kosten Hilfe, engagierte Rechtsanwälte und PR-Berater der Agentur Farner; zu einem Zeitpunkt, als die öffentliche Meinung über ihn bereits gemacht war: Mit Maisano hat sich das USZ einen «Chirurgen von Weltruf» geholt, der von Nebeneinkünften profitiert und seine monetären Interessen über das Patientenwohl stellt.
Ich will es genauer wissen: Nebenverdienste von Ärzten – was ist erlaubt?
Zwar wurde Francesco Maisano erwiesenermassen auch wegen seiner engen Verbindungen zur Industrie nach Zürich geholt. Doch im Whistleblowing gegen ihn und in mehreren Medienberichten wird ihm genau das angelastet. Nur: Wann wird die Kooperation mit der Industrie tatsächlich zum Interessenkonflikt?
Für das Universitätsspital Zürich und die Universität Zürich ist es weder neu noch ungewohnt, dass die Klinikdirektorinnen und Professoren anderweitig tätig sind – und dabei Geld verdienen. Am USZ sind Nebenjobs grundsätzlich zulässig, dürfen jedoch die Aufgaben am Spital weder beeinträchtigen noch konkurrenzieren oder im Widerspruch zu den Interessen des Spitals stehen. Für Nebenbeschäftigungen besteht eine Meldepflicht. Gemeldet werden muss zudem jedes Referatshonorar ab 1000 Franken. Bewilligungspflichtig (und nicht nur meldepflichtig) wird ein Nebenjob am USZ dann, wenn er Arbeitszeit, die Infrastruktur oder Leistungen des Personals beansprucht. Ist dies der Fall, muss das Spital zudem entschädigt werden.
Die Anwaltskanzlei Walder Wyss, die im Auftrag des USZ die Vorwürfe gegen Maisano prüfte, konnte bei ihm kein Fehlverhalten feststellen: Die Tätigkeiten des Direktors seien dem USZ bekannt gewesen und auch nie beanstandet worden. Der Herzchirurg habe weder die Spitalressourcen für private Zwecke missbraucht noch das Spital als Gütesiegel für seine Erfindungen benutzt. Er habe die von ihm entwickelten Geräte nicht übermässig und auch nicht aus Eigeninteresse eingesetzt und aus deren Einsatz keine direkten ökonomischen Vorteile erlangt.
Maisano wurde zudem vorgeworfen, er habe seine diversen Firmenbeteiligungen und Beraterverträge nicht bei allen relevanten Publikationen angegeben. Zudem sei nicht dokumentiert, wie und ob er die Patienten darüber aufgeklärt hat, dass er bei der Verwendung eines Geräts allenfalls wirtschaftlich profitiert. Walder Wyss stellt jedoch fest, dass es USZ-intern keine konkreten Vorgaben zur Offenlegung von Interessenbindungen gegenüber Patienten gibt. Mit anderen Worten: Maisano hat nicht gegen interne Regeln verstossen.
Transparenz und Dokumentation werden vor allem von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) gefordert. Sie hat zum Thema «Zusammenarbeit Ärzteschaft und Industrie» Richtlinien festgelegt, die derzeit überarbeitet werden. Es gehe dabei nicht nur um Rechtsfragen, so die Akademie, sondern auch um die Berufsethik. Die SAMW betont die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen Arzt und Industrie: Sie liege im Interesse einer guten Gesundheitsversorgung.
Noch deutlicher formuliert es uns gegenüber Daniel Delfosse, Geschäftsleitungsmitglied des Verbands Swiss Medtech: «Die Zusammenarbeit zwischen Ärzteschaft und Industrie ist unabdingbar. Nur auf diese Weise können gute Produkte für Patienten entwickelt werden.» Im Vordergrund stehe dabei die Transparenz gegenüber dem Arbeitgeber und den Patientinnen. Dass Ärzte finanziell profitierten, sei keineswegs verwerflich: «Vor allem im angelsächsischen Raum ist es ein gängiges Modell, dass Unternehmen die Ärzte mit Aktien oder Aktienoptionen bezahlen.» Ob daraus letztlich auch tatsächlich ein finanzieller Erfolg entsteht, hängt jedoch davon ab, ob sich das gemeinsam entwickelte Produkt am Markt durchsetzt. Delfosse: «Für jeden Arzt, der Erfolg hat, gibt es fünf andere, die leer ausgehen.»
Bei der ersten und längsten Befragung durch die Walder-Wyss-Anwältinnen kannte Maisano die konkreten Vorwürfe noch nicht und liess sich zwar von einer Vertrauensperson begleiten, nicht aber von einem Anwalt. Das USZ, sagt Maisano, habe ihm mitgeteilt, das sei nicht nötig. Erst im Nachhinein erfuhr er von seinen Anwälten, dass verfahrensrechtlich einiges schiefgelaufen ist. Von Fairness, Transparenz oder gleichen Spiessen für alle kann keine Rede sein – obwohl es sich dabei um grundlegende Rechte handelt, die allen zustehen; in jedem Verfahren, egal, ob man Kritiker oder Kritisierte ist.
Allem voran muss offen auf den Tisch gelegt werden, was die konkreten Vorwürfe sind. Rudimentäre Angaben genügen nicht, erst recht nicht, wenn die Ereignisse Jahre zurückliegen. Stützen sich die Untersucherinnen auf Dokumente, so sind diese vorzulegen; und zwar lückenlos, nicht handverlesen. Falls die Vorwürfe schwerwiegend sind, muss dem Kritisierten von Anfang an ein Rechtsbeistand zur Seite gestellt werden.
Der Zürcher Rechtsanwalt Kurt Meier ist seit Jahrzehnten im Medizinbereich tätig und vertritt vor allem Patientinnen, die ihren Ärzten Kunstfehler vorwerfen. Strafverfahren gegen Ärztinnen, sagt er, führten selten zu Verurteilungen: «Die Ärzte schulden kein Resultat, sondern ein sorgfältiges Vorgehen nach allen Regeln der Kunst. Sie dürfen keine groben Fehler machen, keine nicht nachvollziehbaren Entscheide treffen; auch dann nicht, wenn sie im Operationssaal unter grösstem Zeitdruck urteilen müssen.»
Nun hat Meier die Seiten gewechselt und unterstützt den Herzchirurgen Maisano, und zwar in einem Dutzend Fällen, die erst Monate nach dem Whistleblowing vom Dezember 2019 nachgereicht worden waren. Themen: Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht, falsche Indikationen. Das Fazit der untersuchenden Anwaltskanzlei: Die Vorwürfe haben sich nicht erhärtet.
Maisano hätte zu diesen neuen Vorwürfen gegenüber Walder Wyss erneut Rede und Antwort stehen sollen – Rechtsanwalt Meier hat ihm davon abgeraten. Er stelle bei den Untersuchungen gegen den Mailänder Chirurgen grobe Verfahrensfehler fest, sagt er. Es sei nicht einmal klar, um welche Art von Verfahren es sich handle. Absolut unzulässig sei, dass sich Maisano mit einer ungenügenden Vorbereitung den Fragen hätte stellen müssen; so, wie das bei der ersten Befragung geschehen war.
Besonders stossend sei, wie mit den Patientendokumenten umgegangen werde. «Ich habe nirgends eine Einwilligung der betroffenen Patienten gesehen, dass ihre Krankenakten herumgereicht werden dürfen», sagt Kurt Meier. «Ich vermute, sie wissen bis heute nichts davon. Dabei geht es um höchst persönliche und vertrauliche Daten. Nur sie können entscheiden, ob sie dies wollen oder nicht.»
Die Anwaltskanzlei Walder Wyss wehrt sich in ihrem Schlussbericht gegen diese Vorwürfe und betont, es sei alles korrekt verlaufen, Maisano habe sich genügend vorbereiten können. Eine letzte Befragung von ihm sei wegen «mangelnder Kooperationsbereitschaft» nicht zustande gekommen. Und was die vertraulichen Patientenakten betreffe, sei Walder Wyss von der Gesundheitsdirektion ins Patientengeheimnis eingebunden worden.
Verfahrensfehler leistete sich das USZ auch im Umgang mit dem Whistleblower und inzwischen gekündigten leitenden Arzt André Plass. Einmal abgesehen vom unwürdigen Hin und Her mit der ersten Kündigung Ende April 2020 und der Wiedereinstellung Anfang Juli lief auch nach der zweiten Kündigung vieles schief. Der zweite Rauswurf erfolgte am 29. September 2020, und bis zum Ablauf der Kündigungsfrist Ende März bleibt der Arzt suspendiert; so, wie es zuvor auch bei Klinikchef Maisano geschehen war.
Plass akzeptiert seine Kündigung nicht, was sein gutes Recht ist. Das Verfahren ist derzeit am Zürcher Verwaltungsgericht hängig. In einem Zwischenentscheid macht das Gericht Mitte Dezember 2020 auf grobe Mängel im Umgang mit dem Gekündigten aufmerksam. So hat sich der Spitalrat mit dieser Personalie befasst, obwohl er erste Rekursinstanz ist, wenn sich ein Gekündigter mit rechtlichen Schritten wehrt. Mit anderen Worten: Der Spitalrat hat die Aufgabenteilung nicht respektiert. Statt sich auf strategische Fragen zu konzentrieren und seine Funktion als Rekursinstanz zu respektieren, hat er der Spitaldirektion dazwischengefunkt.
Dass dies nicht zulässig ist, weiss der Spitalrat spätestens seit Juni 2016. Das Verwaltungsgericht hatte damals über eine ähnliche Sache zu befinden, und es richtete dem Spitalrat aus, er solle dafür sorgen, dass er als Rekursinstanz beschlussfähig bleibe. Durch sein Einmischen verliert der gekündigte leitende Arzt nämlich eine Rechtsmittelinstanz, was gegen die Zürcher Kantonsverfassung verstösst.
Trotz des Verlusts einer Rechtsmittelinstanz will das Verwaltungsgericht den Rekurs gegen die Kündigung behandeln. Mit Blick auf die Rechtsweggarantie und den Anspruch auf ein faires Verfahren könne nicht gewartet werden, bis der Spitalrat wieder eine Besetzung aufweise, die ihn beschlussfähig mache. Der Entscheid des Gerichts, ob die Kündigung des leitenden Arztes zulässig war, steht noch aus.
Fazit 2: Milde für den Chefkardiologen
Maisano ist definitiv weg. Plass zumindest bis zum Gerichtsentscheid. Wer hingegen unbehelligt weiterarbeiten und sich seit Anfang 2021 sogar Leiter des USZ-Herzzentrums nennen darf, ist: Kardiologie-Chef Frank Ruschitzka.
Diese Personalie ist ein paar weitere Überlegungen wert. Ruschitzkas Ernennung zum Klinikdirektor der Kardiologie verlief USZ-intern nicht reibungslos, und nach seinem Amtsantritt Anfang 2018 ging die Kooperation mit der Herzchirurgie stark zurück. Dennoch hat es Ruschitzka geschafft, in der öffentlichen Auseinandersetzung um die «Causa Maisano» im Hintergrund zu bleiben. Daran ändert sich auch im Sommer 2020 nichts, als er eine beeindruckende Blamage erlebt.
Zunächst schreibt das USZ in einer Medienmitteilung, Ruschitzka sei an einer epochalen weltweiten Beobachtungsstudie beteiligt gewesen: mit 96’000 Covid-19-Patienten in 671 Spitälern auf allen Kontinenten. Einer Studie, die in der renommierten Fachzeitschrift «The Lancet» veröffentlicht wurde. Das Unispital zitiert seinen Kardiologie-Chef mit Worten, die klingen, als seien sie direkt an den damaligen US-Präsidenten Donald Trump oder den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro gerichtet, die in der Corona-Bekämpfung in jener Zeit öffentlichkeitswirksam auf umstrittene Malariamedikamente setzen: «Für die Wirksamkeit von Hydroxychloroquin und Chloroquin bei Covid-19 gibt es keine wissenschaftlichen Belege», sagt Ruschitzka. Vielmehr seien schwere Nebenwirkungen beobachtet worden, «vor allem lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen».
Unverzüglich ziehen Organisationen und Regierungen Konsequenzen: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sistiert eine gross angelegte Studie zur Wirkung der beiden Malariamedikamente, mehrere Länder stoppen ähnliche nationale Studien.
Zwei Wochen später aber ist alles anders: «The Lancet» zieht die Studie, die weltweit für Furore gesorgt hat, zurück – ein beispielloser Vorgang.
Der Chefredaktor der Fachzeitschrift zeigt sich erschüttert: «This is a shocking example of research misconduct in the middle of a global health emergency», sagt er dem «Guardian», in der «New York Times» spricht er von einer «Fälschung» und einem «monumentalen Betrug». Die «Süddeutsche Zeitung» schreibt von einem «Paukenschlag für die Wissenschaft», die NZZ von einem «handfesten Skandal». Und der Präsident der schweizerischen Medizinakademie sagt in einem Interview: «Die Autoren haben sich blamiert, weil sie zu schnell publizieren wollten.»
Und Frank Ruschitzka? Schweigt. Und duckt sich weg.
Der Zürcher Chefkardiologe lässt Medienanfragen unbeantwortet und vertraut darauf, dass ihn sein Arbeitgeber vor Unbill schützt. Was die Spitalleitung auch tut: Kaum ist der Skandal aufgeflogen, schreibt sie in einem Update zur ursprünglichen Medienmitteilung, dass weder Ruschitzka noch die von ihm geleitete Klinik für Kardiologie an der Bereitstellung der Daten für die Studie beteiligt gewesen seien.
Während der Sommerferien wird Ruschitzka zusätzlich entlastet: Am 16. Juli endet eine von der Universität Zürich eingeleitete Voruntersuchung betreffend den Verdacht auf wissenschaftliche Unlauterkeit mit einer Ermahnung; auf eine eigentliche Untersuchung des Falls wird verzichtet. Die Universität hält Ruschitzka einzig an, bei wissenschaftlichen Publikationen in Zukunft sorgfältiger zu verfahren und sämtliche Aspekte rigoros auf ihre wissenschaftliche Integrität zu prüfen. Zudem muss er 30 Stunden Gratisarbeit für ein Uni-Kompetenzzentrum leisten.
Härter wird einer seiner drei Co-Autoren angefasst: Amit Patel wird von der Universität von Utah entlassen. Sapan Desai, der mit seiner Datenfirma Surgisphere am Anfang des Debakels stand, ist bis heute abgetaucht; und wie die Harvard Medical School ihren Professor Mandeep Mehra sanktioniert, bleibt offen. Auf Nachfrage schreibt uns die renommierte US-Universität, sie kommentiere zwar keine Einzelfälle, habe sich aber voll und ganz verpflichtet, die höchsten ethischen Standards einzuhalten; bei Vorwürfen gegen einen ihrer Wissenschaftler prüfe sie gründlich, ob er gegen die Richtlinien zur Integrität der Forschung verstossen habe.
Nun spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass das Unispital und die Universität Zürich ihren Klinikdirektor und Professor Ruschitzka schützen, bevor sie die Schuldfrage und die Schwere des Vergehens einwandfrei geklärt haben. Auch ist es richtig, dass sich die beiden Institutionen nicht an einer öffentlichen Vorverurteilung beteiligten.
Was allerdings seltsam anmutet, ist die offenkundig ungleiche Behandlung von Vorwürfen. Während das USZ Ruschitzka schützte, liess es sowohl Francesco Maisano als auch André Plass fallen. Zur Erinnerung: Den Herzchirurgie-Chef schickte die Spitalleitung zuerst in den Zwangsurlaub, bevor sie ihn auf unbestimmte Zeit suspendierte und sich dann von ihm trennte; dem leitenden Arzt sprach sie zunächst die Kündigung aus, bevor sie ihn wieder einstellte, bloss um sich dann doch wieder von ihm zu trennen.
Am USZ, dem schweizweit führenden Spital, scheint mit unterschiedlichen Ellen gemessen zu werden.
Fazit 3: Die alte Garde übernimmt
«Ich gehe von ein paar Monaten aus, in denen ich aufräumen kann. Meine Bedingung war, dass ich hierfür auch die Kompetenzen erhalte.» Paul Vogt in der NZZ am 20. Juni 2020.
«Paul Vogt redet schnell, aber präzise. Präzision ist eine Eigenschaft, die zu guten Herzchirurgen gehört. Und Paul Vogt, 63, ist in der Schweiz einer der besten. (…) Vogt muss jetzt den Ruf der Zürcher Herzklinik retten.» Auftakt zu einem Interview mit Paul Vogt in der «SonntagsZeitung» am 5. Juli 2020.
Es gibt keine Zweifel an Paul Vogts Funktion: Die Spitalleitung hat den kurz vor der Pensionierung stehenden, erfahrenen Herzchirurgen ins Haus geholt, damit er für Ruhe sorgt. Als sich abzeichnet, dass Maisano für längere Zeit beurlaubt bleiben würde, wird Vogt Mitte Juni 2020 als temporärer Klinikchef angekündigt.
Schon an seinem dritten Arbeitstag macht er in einer E-Mail an eine Bewerberin deutlich, dass er Klinikdirektor bleiben will. Er schreibt ihr: «Der aktuelle Direktor der Herzchirurgie wurde in die Ferien geschickt – und wird wohl kaum mehr zurückkehren.»
Rasch verbucht Vogt am USZ einen ersten Erfolg: Es gelangen weniger Interna an die Presse. Mitgeholfen hat ein von ihm mitunterzeichneter Brief, der Ende Juli an die Angestellten verschickt wird und der uns vorliegt. Im Schreiben heisst es, die Weitergabe von Interna habe «personalrechtliche Konsequenzen», könne gar mit einer «Straftat» in Verbindung gebracht werden.
Die Drohung wirkt. Doch für den Chef gilt die Aufforderung nicht.
Im Gegenteil. Vogt lässt in den Medien seiner Abneigung gegen neue Therapiemöglichkeiten und die Kooperation zwischen Ärztinnen und der Medizinaltechnik-Industrie freien Lauf.
«Den Anspruch, wir seien die Weltbesten, können wir jetzt einmal zur Seite legen», sagt Vogt am 20. Juni 2020 gegenüber der NZZ.
«Es geht vermehrt um gewinnstrebende Aktionäre, um den Aufbau von möglichst profitablen Start-ups – schlussendlich um sehr viel Geld. Die Patienten, so scheint mir, werden in zu vielen Bereichen nur noch als Werkbank gesehen, an der man Geld generiert», sagt Paul Vogt am 5. Juli 2020 zur «SonntagsZeitung».
Wir wollten von Klinikdirektor Vogt wissen, warum er von Innovationen in der Herzmedizin wenig hält. Wie seiner Meinung nach medizinische Fortschritte erzielt werden können. Oder wie mit Patientinnen umzugehen ist, bei denen sämtliche herkömmlichen Methoden bereits ausgeschöpft wurden oder zu risikoreich wären – Stichwort: compassionate use. Doch der Chefarzt mochte sich nicht äussern und verwies auf die Medienstelle des USZ, die wiederum die Interviewaussagen Vogts nicht kommentieren wollte. Spitalinterne Quellen berichten uns, die USZ-Leitung habe wenig Gefallen an den Äusserungen des neuen Klinikchefs gefunden.
Am 3. September erreicht Paul Vogt schliesslich, was er bereits Monate zuvor verkündet hat: Das USZ und Maisano trennen sich endgültig, er selbst wird definitiv Klinikdirektor.
Doch kaum ist er auf diesem Posten angelangt, rollt eine Kündigungswelle an: Mehrere Mitarbeitende der Herzchirurgie – der «Tages-Anzeiger» spricht von gegen 10 – verlassen das USZ. Darunter auch Maurizio Taramasso, der ein paar Monate zuvor zusammen mit Maisano zu den weltbesten Klappenexperten erkoren worden ist. Besonders hart für Vogt ist aber die Tatsache, dass sich sein Stellvertreter Peter Matt gegen eine Zusammenarbeit mit ihm entscheidet. Der 45-Jährige wurde noch von Maisano angestellt und zählt zur Generation von Herzchirurgen, die offen sind für moderne Methoden. Für die es selbstverständlich ist, dass Kardiologie und Herzchirurgie kooperieren.
Es wird November, bis Vogt einen neuen Stellvertreter findet: Thierry Carrel. Mit dieser Personalie bestätigt sich ein Trend, der sich bereits mit der Inthronisierung Vogts abgezeichnet hat: In Zürich übernimmt die alte Garde.
Carrel ist der bekannteste lebende Schweizer Herzchirurg. Auch weil er die Öffentlichkeit, das Scheinwerferlicht und den Glamour nie gescheut hat. Ans USZ kommt der bald 61-Jährige über Umwege. Im Juni 2020 kündigt er nach einem Vierteljahrhundert seine Stelle am Inselspital Bern, um in die Zürcher Privatklinikgruppe Hirslanden zu wechseln und einen neu geschaffenen Bereich für Weiterbildung und Forschung in der Herzchirurgie zu leiten.
Die «Berner Zeitung», die ausführlich über Carrels Kündigung berichtet, zitiert Insider, die den Abgang des Starchirurgen mit der «wachsenden Hierarchisierung» innerhalb der Insel-Gruppe in Verbindung bringen; die Klinikdirektoren würden zunehmend als «Angestellte» statt als «Partner» behandelt. In diesem Lichte betrachtet, wirkt Carrels Abgang wie eine Protestkündigung. Auf jeden Fall zögert er nicht lange, als ihm Vogt wenige Wochen später anbietet, sein Stellvertreter zu werden. Dafür lässt Carrel seine Hirslanden-Pläne fallen.
Etwa zur gleichen Zeit kündigt Carrel zudem seine langjährige Mitgliedschaft im Herzchirurgen-Verband SGHC, dessen Präsident er vorübergehend war. Aus seinem Umfeld heisst es, er habe sich mit anderen Verbandsmitgliedern überworfen, nachdem diese ihm vorgehalten hätten, er habe zu wenig für die Weiterbildung getan. Präsidiert wird der Verband heute von Peter Matt, dem neuen Chefarzt am Kantonsspital Luzern und «Beinahe-Aufräumer» am USZ. Weder Matt noch Carrel wollten sich uns gegenüber dazu äussern.
Dass Carrel zur alten Garde zählt, die Innovationen und neuen Methoden in der Herzchirurgie skeptisch gegenübersteht, machte er schon 2018 deutlich. Damals bezeichnete er in einem «Flashlight»-Artikel im «European Heart Journal» das von Maisano mitentwickelte Cardioband – ein Herzklappen-Implantat – als zu teuer und möglicherweise wirkungslos. Dies, nachdem Carrel einen Patienten reoperiert hatte, der zuvor von Maisano ein Cardioband implantiert bekam und mit dem Ergebnis nicht zufrieden war.
André Plass benutzte diesen Artikel später in seinem Whistleblowing, um seinen Vorwurf zu stützen, Maisanos Entwicklungen seien wirkungslos. Zudem verwies Plass auf Carrels Behauptung, Maisano habe das Band beim Patienten am falschen Ort befestigt. Laut Plass soll Maisano dies später im Operationsbericht verschwiegen haben. Ein schwerer Vorwurf, mit dem sich in der Folge auch das Anwaltstrio von Walder Wyss beschäftigen musste. In ihrem Bericht entlastet die Kanzlei Maisano, der mittels Videobeweis belegen konnte, dass das Cardioband korrekt eingesetzt worden war. Das wiederum schien Carrel zu irritieren. Via PR-Berater liess er den «Tages-Anzeiger» wissen, dass er in dieser Sache nie angehört worden sei.
Auch zu dieser Episode wollte sich Carrel uns gegenüber nicht äussern.
Fazit 4: «Gelogen und betrogen»?
Mitte Juni 2020 also hat Paul Vogt seinen Job als interimistischer Klinikdirektor am USZ aufgenommen und will fortan für Ruhe und weniger Leaks sorgen. Doch bereits wenige Wochen später kommt es erneut zu einem Vorwurf gegen den immer noch angestellten, aber abwesenden Francesco Maisano. Und auch dieser Vorwurf gelangt unverzüglich in die Medien. Er löst fast noch mehr Empörung aus als sein angeblich unkorrekter Umgang mit Patientinnen und wissenschaftlichen Publikationen. Unter der Ägide Maisanos sollen die Krankenversicherungen um über eine Million Franken geprellt worden sein. Es geht um sogenannte interdisziplinäre Arztgespräche, die bei privat und halbprivat versicherten Patienten zusätzlich verrechnet werden dürfen. Diese seien den Krankenkassen zu Unrecht und vor allem im Übermass in Rechnung gestellt worden.
«Die Fakten liegen auf dem Tisch», sagt Paul Vogt der «NZZ am Sonntag». «Es wurde gelogen und betrogen.»
Was sind interdisziplinäre Arztgespräche?
Damit ist der Austausch unter Ärztinnen verschiedener Fachrichtungen gemeint, der über die täglichen Gespräche zwischen Tür und Angel hinausgeht und zusätzlich zu den normalen Visiten stattfindet. Solche interdisziplinären Gespräche dürfen nur dann in Rechnung gestellt werden, wenn sich mehrere Ärzte zu spezifischen Beratungen über einen Einzelfall treffen, wenn es um eine komplexe Gesundheitssituation geht – und die Beratung nicht schon anderweitig abgegolten wurde. Es ist unbestritten, dass es in der Herzmedizin regelmässig zu interdisziplinären Arztgesprächen kommt und kommen muss; etwa zum Austausch zwischen dem Herzchirurgen, der Kardiologin, dem Anästhesisten und dem Infektiologen.
Vogt spricht nun aber in der «NZZ am Sonntag» – in aller Öffentlichkeit – von «Lug und Betrug», und zwar bevor irgendetwas untersucht worden wäre, geschweige denn Resultate vorliegen. Erst Anfang Oktober 2020 tut das Unispital, was es in der aufgeheizten Stimmung der letzten Monate immer getan hat: Es beauftragt eine Anwaltskanzlei mit Abklärungen.
Der Bericht dieser Anwaltskanzlei ist bisher nicht veröffentlicht worden. Dafür hat der «Tages-Anzeiger» ausführlich über die neuen Vorwürfe berichtet. Die Zeitung bezieht sich auf «Dokumente», die sie habe einsehen können, und nennt Mitte November einen Schaden in Höhe von 1,29 Millionen Franken. Das USZ selber schreibt einen Monat später in einer Medienmitteilung: Die Administration der Klinik für Herzchirurgie habe die Position der «interdisziplinären Arztgespräche» über die letzten rund drei Jahre hinweg systematisch für alle zusatzversicherten Patientinnen erfasst, ohne sie im Klinikinformationssystem zu dokumentieren. Die Erfassung und Abrechnung sei sofort eingestellt worden, die «unrechtmässig in Rechnung gestellten Kosten» würden den Kassen vollumfänglich zurückerstattet. Das USZ habe bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige eingereicht.
Aber gegen wen bloss? Wer wird verdächtigt, unsauber gearbeitet, in den Worten Vogts sogar «gelogen und betrogen» zu haben? Das wird vom USZ nicht kommuniziert. Doch im Kontext der Medienberichterstattung liegt nahe, auf wen der Hauptverdacht zumindest in der Öffentlichkeit fallen wird: Klinikchef Francesco Maisano.
Was einmal mehr auffällt: kein Wort davon, dass im fraglichen Zeitraum mit Michele Genoni ein stellvertretender Klinikdirektor in der Herzchirurgie tätig war, der von der Spitalleitung explizit für die Administration, Organisation und fürs Qualitätsmanagement geholt worden war. Der die Funktion eines klinischen Geschäftsführers innehatte. Der Name Genoni fällt auch in der öffentlichen Auseinandersetzung rund um die interdisziplinären Arztgespräche und den mutmasslichen Versicherungsbetrug nicht ein einziges Mal.
Aus Gesprächen mit USZ-Insidern und aufgrund von Dokumenten, die uns vorliegen, ergibt sich in der «Causa Versicherungsbetrug» folgendes Bild:
Es war die USZ-Finanzdirektion, die im Frühling 2017 die Klinik für Herzchirurgie aufforderte, künftig sämtliche Leistungen vollständig zu erfassen und abzurechnen. Sie war einverstanden damit, dass ein neuer Honorarposten für die interdisziplinären Arztgespräche erfasst wird, und passte das interne Informationssystem entsprechend an.
Die interdisziplinären Arztgespräche wurden pauschalisiert von der Administration erfasst und verrechnet (also nicht von den Ärzten, die die Leistung erbracht hatten); ein solches Vorgehen ist im Spital nicht unüblich. Pauschalisiert heisst in diesem Fall: Pro zusatzversicherter Patientin wird eine bestimmte Anzahl an interdisziplinären Arztgesprächen verrechnet – am Tag vor der Operation sowie für jeden Tag in der Intensivstation und der sogenannten Intermediate-Care-Station.
Es wurden keine Leistungen verrechnet, die nicht erbracht worden waren. Wegen der fehlenden Dokumentation steht allerdings nicht fest, um welche konkreten Gespräche es sich handelte und ob diese nicht schon anderweitig abgegolten worden waren. Oder ob es um Gespräche zwischen Ärztinnen ging, für die der spezifische Honorarposten nicht konzipiert war.
Als Vorwurf an den damaligen Klinikdirektor Maisano bleibt hängen, dass er als oberster Chef für alles geradestehen muss, was in der Herzchirurgie geschah; unabhängig von den Zuständigkeiten des damaligen klinischen Geschäftsführers, seines Stellvertreters. Die Rüge lautet einmal mehr: lückenhafte Dokumentation.
Noch hat die Zürcher Staatsanwaltschaft nicht entschieden, was mit der Anzeige bezüglich der interdisziplinären Arztgespräche geschieht: ob das Verfahren eingestellt wird, ob es zu Strafbefehlen oder Anklageerhebungen kommt – gegen wen auch immer. Der frühere klinische Geschäftsführer, Michele Genoni, will sich zu diesem Thema gegenüber der Republik nicht äussern. Maisanos Anwalt Thomas Sprecher hingegen sagt: Es sei irritierend, dass das USZ von der Rückzahlung eines Schadens spreche, der von den Krankenkassen noch gar nicht beziffert worden sei. Und einmal mehr halte die vom USZ beauftragte Untersuchung durch die externe Anwaltskanzlei die verfahrensrechtlichen Standards nicht ein.
Klar ist nicht erst seit der Diskussion rund um die interdisziplinären Arztgespräche: Der Kanton Zürich muss die Spitalfinanzierung reformieren. Das weiss auch das USZ: Es verweist in der Medienmitteilung vom Dezember auf die anstehende Revision des Spitalplanungs- und -finanzierungsgesetzes, um «Fehlanreize» bezüglich ärztlicher Zusatzhonorare «zu eliminieren».
Dass eine solche Revision dringend nötig ist: Zu diesem Schluss kommt kurz zuvor auch ein Bericht im Auftrag von Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli.
Fazit 5: Köpferollen auf höchster Ebene
Vielleicht war die mediale Skandalisierung des mutmasslichen Versicherungsbetrugs das Tröpfchen, das das Fass zum Überlaufen brachte. Vielleicht war ihr Schicksal auch schon vorher besiegelt. Jedenfalls: Am 16. November geben 3 der 9 Mitglieder des Spitalrats ihren Rücktritt per Sommer 2021 bekannt – unter ihnen Präsident Martin Waser.
Zwar versucht der frühere Zürcher SP-Stadtrat Waser den Anschein zu erwecken, seine Mitstreiter und er träten aus freien Stücken zurück. Glauben aber tut ihm das zu jenem Zeitpunkt längst niemand mehr; zu gross ist der politische Druck geworden, weil es dem Spitalrat seit mehr als einem halben Jahr nie gelang, die Situation am Unispital zu beruhigen.
Seit dem Frühjahr habe die USZ-Führung den Eindruck hinterlassen, zum Spielball von Öffentlichkeit und Politik geworden zu sein, analysiert die NZZ. Ein Neuanfang sei notwendig. Auch der «Tages-Anzeiger» begrüsst die Rücktritte: «Die Krisenbewältigung der Spitalleitung war, gelinde gesagt, unzureichend. Statt vorausschauend zu agieren, reagierte sie erst, wenn es nicht mehr anders ging.» Das sehen auch Kantonsrätinnen von links bis rechts so; weit und breit niemand, der den Abgang der Spitalräte bedauerte.
Vier Tage später bricht auch die Zürcher Gesundheitsdirektion den Stab über Martin Waser und dem von ihm seit 2014 geleiteten Spitalrat. Ein Bericht, den Regierungsrätin Natalie Rickli bei einer Berner Beratungsfirma in Auftrag gegeben hat, lässt kaum ein gutes Haar an der USZ-Führung, stellt aber auch Mängel in der Kompetenzverteilung zwischen Gesundheitsdirektion, Spitalrat und Spitaldirektion fest.
Die Beraterinnen listen 29 Verfehlungen und Empfehlungen für eine bessere Zukunft auf, wobei sich ein grosser Teil davon ans kantonale Parlament, den Zürcher Kantonsrat, richtet. Ein wichtiger Hinweis der Berater betrifft das Lohngefüge am USZ – und damit ein Geschäft, das derzeit im kantonalen Parlament hängig ist.
In den kommenden Monaten wird sich der Kantonsrat mit dem vom Regierungsrat ausgearbeiteten neuen Spitalgesetz befassen, das in die empfohlene Richtung geht: Es schlägt für Kaderärzte an kantonalen Spitälern neu eine Lohnobergrenze von einer Million Franken pro Jahr vor; zudem sollen Honorare aus der Behandlung zusatzversicherter Patientinnen künftig vollumfänglich in die Kasse des Spitals fliessen.
Bisher kommt dem Spital bloss die Hälfte solcher Zusatzhonorare zugute. 5 Prozent gehen in einen Spitalpool, der unter den verschiedenen Kliniken aufgeteilt wird. Über die restlichen 45 Prozent können die Klinikdirektoren in Eigenregie entscheiden. Manche von ihnen behalten den Grossteil für sich, andere verteilen ihn unter allen Angestellten, wieder andere belohnen damit ausserordentliche Leistungen – oder missbrauchen das Instrument, um ihnen treu ergebene Assistenzärztinnen und Sekretäre zu bevorzugen.
Ein weiteres Problem des bisher geltenden Honorargesetzes, das schon Natalie Ricklis Vorgänger abschaffen wollte: Verdient eine Ärztin an zusatzversicherten Patienten, kann sie versucht sein, sie länger als nötig zu behandeln oder sie vorschnell zu operieren; tatsächlich zeigen Studien, dass Zusatzversicherte häufiger operiert werden als Grundversicherte. Der damalige Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger scheiterte im Kantonsrat unter anderem an der Gegenwehr seiner eigenen Partei, der FDP. Jetzt deuten alle Zeichen darauf hin, dass die Reform beim neuen Anlauf gelingen könnte.
Nicht zuletzt wegen der Skandale, die das USZ erschüttern.
Gesetzesänderungen sind aufgegleist, im obersten Aufsichtsgremium, dem Spitalrat, kommt es zu personellen Rochaden. Es bewegt sich etwas. Nur einer scheint sich seiner Stelle sicher zu sein: Spitaldirektor Gregor Zünd.
In einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» weist er im November jede Schuld von sich. «Ein Neuanfang bei der operativen Führung ist nicht nötig», sagt er. «Wir gewährleisten qualitativ hochstehende Medizin für Zürichs Bevölkerung.» Zudem seien die in die Kritik geratenen Klinikdirektoren nicht ihm, sondern dem Spitalrat unterstellt. «Bei schönem Wetter läuft das gut. Zieht ein Gewitter auf, bin ich machtlos.»
Fazit 6: Kein Stein soll auf dem anderen bleiben
Es müsse nun wieder Ruhe einkehren in der Herzmedizin: So lautete der eindringliche Appell von Noch-Spitalratspräsident Martin Waser an der Medienkonferenz von Anfang September 2020. Ein frommer Wunsch.
Das wird spätestens ein halbes Jahr später klar. Am Nachmittag des 4. März präsentiert eine Subkommission des kantonalzürcherischen Parlaments den Medien die Resultate ihrer Untersuchung. Die Medienkonferenz wurde am Abend zuvor, am Tag der Publikation von Teil eins dieser Recherche-Trilogie, kurzfristig und überraschend anberaumt.
Das Fazit der Parlamentarierinnen, kurz zusammengefasst: Das Unispital Zürich ist ein verkrusteter, komplizierter, altertümlich und intransparent organisierter und geführter Grossbetrieb mit unklaren Kompetenzen, einer dürftigen Compliance und mangelnden Fähigkeiten im höchsten strategischen Führungsgremium – dem Spitalrat.
Die Subkommission unterbreitet 75 Empfehlungen. Kantonsrätin Arianne Moser, die das Gremium leitete, macht an der Medienkonferenz klar, dass man eine zügige Umsetzung der Empfehlungen erwarte.
Die Kantonsrätinnen verwenden deutliche Worte in ihrem Bericht:
Es brauche einen «umfassenden Kulturwandel». Eine Vertrauensbasis, die eine Fehlerkultur erst ermögliche, ein Ende der herrschenden «Angstkultur».
Der leitende Arzt André Plass hätte seine Beobachtungen nicht an die Öffentlichkeit tragen dürfen, schliesslich habe das USZ umgehend eine Untersuchung eingeleitet.
Der Spitalrat hätte den Zwischenbericht der Kanzlei Walder Wyss zum Fall Maisano nicht publizieren dürfen, bevor der Klinikdirektor dazu Stellung nehmen konnte.
«Journalistische Sorgfaltspflicht verletzt», «Vorverurteilungen», «Hetzjagd», den Gegenspieler zum Opfer stilisiert – die Medienkritik der Subkommission im «Fall Maisano» ist vernichtend: Einzelne Medien hätten Anschuldigungen gegen den Klinikdirektor selbst dann nicht zurückgenommen, wenn sie widerlegt wurden. Und weiter: «Es ist nicht auszuschliessen, dass indirekt durch den medialen Druck auf das Personal das Patientenwohl tangiert wurde.»
Die Parlamentarier stützen damit die Recherche-Ergebnisse der Republik.
Doch noch sind nicht alle Untersuchungen der Affäre abgeschlossen. Demnächst wird die Universität Zürich darüber entscheiden, wie sie das wissenschaftliche Verhalten ihres Professors für Herzchirurgie beurteilt. Das Anstellungsverhältnis von Francesco Maisano mit der Universität dauert bisher noch an, auch wenn er den Lehrstuhl nicht mehr innehat.
Unsere Recherchen zeigen: Die Universität verhält sich widersprüchlich, was die Trennung von Maisano betrifft. Insgesamt vier Untersuchungen gegen ihren Medizinprofessor sind in Auftrag gegeben worden. Zwei davon entlasteten ihn. Zwei weitere Expertisen, die der Universität seit Monaten vorliegen, kommen zum Schluss: Bei einzelnen «Flashlight»-Publikationen hätten Maisano und sein Team nicht den gesamten Operationsverlauf geschildert und Komplikationen verschwiegen. Genau diesen Vorwurf hatte bereits die Anwaltskanzlei Walder Wyss erhoben. Maisano sagte gegenüber den Anwälten aus, bei diesen «Flashlights» handle es sich nicht um wissenschaftliche Publikationen; was später auch der Chefredaktor des «European Heart Journal», in dem die Artikel publiziert wurden, bestätigte.
Die Universität verhandelt seit Ende 2020 mit Maisano über eine Aufhebungsvereinbarung, im Wissen um die zwei belastenden Gutachten. Anfang Februar ändert sich die Taktik plötzlich: Seither ist die Rede von einem drohenden Kündigungsverfahren – weil der Professor ein schweres wissenschaftliches Verschulden zu verantworten habe.
Falls Maisano von der Universität Zürich eine Kündigungsverfügung erhält, könnte er diese gerichtlich anfechten. Oder der Professor und seine Arbeitgeberin einigen sich doch noch auf eine einvernehmliche Trennung.
Unabhängig von diesem Entscheid ist am Universitätsspital Zürich mit dem Abgang Maisanos der Schritt in die Zukunft der Schweizer Herzmedizin zumindest gebremst, wenn nicht um Jahre zurückgeworfen worden. Er war ein innovativer Chirurg und offen für neue Methoden. Seit er nicht mehr am USZ operiert, kam es zu einem Exodus von Chirurgen und Kardiologen, die vom Mailänder Dottore lernen wollten.
Auch der Zuwachs an neuen Talenten ist ins Stocken geraten. Wer will schon an einem Ort arbeiten, wo Machtgier, Neid und Missgunst das Streben nach neuen Lösungen im Keim ersticken – und jede Fehlerkultur zunichtemachen. Niemand kann es der jungen Generation übel nehmen, wenn sie sich anderswo, im europäischen Ausland, umschaut.
Fazit 7: Das Ende einer Ära
Am 15. März 2021 beginnt für Francesco Maisano ein neues Kapitel: Er wird Chefarzt in der Herzchirurgie des Mailänder Spitals San Raffaele – als Nachfolger des berühmten Mediziners Ottavio Alfieri. Er hat den Auftrag erhalten, «eine integrierte Herzklappenklinik nach modernen patientenorientierten Konzepten» aufzubauen, wie er uns per Mail mitteilt.
«Auf Wiedersehen USZ», schreibt er. «Ich habe dir gedient, doch nun konzentriere ich mich auf mein neues Kapitel. Ich bin aufgeregt und glücklich.»
Neue Untersuchungen, alte Vorwürfe: Die Turbulenzen in der Zürcher Herzmedizin sind noch längst nicht beendet (18. März 2021).
Urteil des Zürcher Verwaltungsgerichts: Das Universitätsspital hat den leitenden Arzt André Plass rechtmässig entlassen (23. November 2021).
Stellungnahme des Presserats: Das Ethikgremium rügt die Recherche der Republik in zwei von fünf Punkten (2. Februar 2022).