Zürcher Herzkrise – eine Trilogie – III. Aufräumen

Die Spitalleitung hofft auf den Befreiungsschlag: In der Herzmedizin am USZ soll wieder «Ruhe einkehren».

III. Aufräumen

Das Universitätsspital Zürich verkündet einen Neuanfang für die Herzmedizin. Köpfe rollen, Rücktritte folgen. Doch die Aufräum­arbeiten verlaufen nicht reibungslos. Wie sollten sie auch? Zürcher Herzkrise – Abschluss der Trilogie.

Von Philipp Albrecht, Dennis Bühler, Brigitte Hürlimann (Recherche) und Goran Basic (Bilder), 05.03.2021, Update: 02.02.2022

Synthetische Stimme
0:00 / 44:07

Es ist ein milder, frühherbstlicher Donnerstag­vormittag. In der Stadt Zürich sitzen die Menschen in den Strassen­cafés und blinzeln in die Sonne. Blauer, fast wolkenloser Himmel. Die Pandemie lässt sich an diesem Tag noch verdrängen, die zweite Welle zeichnet sich erst entfernt am Horizont ab.

Am Universitätsspital Zürich lässt sich nichts mehr verdrängen. Die mediale Bericht­erstattung über Vorgänge in der Herzmedizin dauert schon seit Monaten an, schier pausenlos, und sie will einfach kein Ende nehmen. Schlag­zeile folgt auf Schlag­zeile. Sogar die für ihre zurück­haltende Tonalität bekannte NZZ schreibt von einer «veritablen Schlammschlacht».

Das soll nun ein Ende haben. 3. September 2020: Die Spital­leitung des USZ plant den Befreiungs­schlag. Auf 10 Uhr hat sie zur Medien­konferenz geladen. Themen: Neustart an der Klinik für Herz­chirurgie, Bewältigung der Krise. Ziele: Zuversicht und Optimismus verbreiten, Vertrauen wieder­herstellen. Über Konsequenzen informieren. Führung demonstrieren. Ein neues Leitungsteam präsentieren – zwei Aufräumer, die das wichtigste Herzzentrum der Schweiz endlich aus dem Trauertal führen sollen.

Im ersten Teil dieser Recherche haben wir dargelegt, wie ein Kampf um Macht und Mittel zwischen Herzchirurgie und Kardiologie das Universitäts­spital lähmt und die Rivalitäten in ein Buhlen um Patientinnen ausarteten.

Im zweiten Teil beleuchteten wir die darauf folgende Eskalation und die katastrophale Rolle einiger Medien. Und deckten auf, dass es neben dem ersten ein zweites, nicht minder brisantes Whistle­blowing gibt am USZ – gegen den leitenden Arzt und Hinweis­geber im «Fall Maisano».

Doch davon weiss die Öffentlichkeit nichts im September 2020, als die USZ-Leitung vor die Medien tritt. Gut zwei Dutzend Journalisten sind angereist und klappen ihre Laptops auf, TV-Teams und Radio­mitarbeiter installieren Kameras und Mikrofone, ein Sicherheits­mann in Schwarz sorgt diskret für einen geordneten Ablauf. Auch die Republik ist vor Ort. Die Veranstaltung wird vom USZ live gestreamt. Vorne am Tisch haben Platz genommen:

  • Cindy Mäder, die Leiterin der USZ-Kommunikations­abteilung.

Die wichtigsten Informationen werden vom Blatt abgelesen, es soll zu keinen Versprechern kommen, die ein juristisches Nachspiel haben könnten; es sind schon genug Rechts­verfahren im Gang. Nachdem Spitalrats­präsident Waser mehrfach betont hat, es müsse nun wieder «Ruhe einkehren» in der Zürcher Herzmedizin, es brauche «geordnete und klare Verhältnisse», lässt Direktor Zünd die Katze aus dem Sack.

Man habe beschlossen, sagt Zünd, sich von «beiden Exponenten des Konflikts» zu trennen: «Nur so kann Ruhe einkehren.» Gemeint sind Klinik­direktor Francesco Maisano und der leitende Arzt André Plass, der den «Fall Maisano» ins Rollen gebracht hatte.

Mit Maisano hat das USZ eine Aufhebungs­vereinbarung getroffen. Die Art der Trennung von Plass hingegen bleibt noch offen.

Die Verblüffung unter den Medien­schaffenden ist gross, vor allem, was den Whistle­blower betrifft. Der Umgang mit ihm war auffallend inkonsequent. Zuerst wollte ihn die USZ-Führung in den Urlaub schicken, dann bekam er ein Operations­verbot. Ende April 2020 wurde ihm ein erstes Mal gekündigt, doch Anfang Juli kehrte er zurück ans USZ. Und nun teilt die Spital­leitung vor versammelter Presse mit, man wolle sich erneut von Plass trennen.

Gregor Zünd erwähnt an der Medien­konferenz nochmals kurz das neue «Führungs­duo», dem der «Neustart» anvertraut wird: Paul Vogt als Klinik­leiter und Peter Matt als Stellvertreter. Den beiden sei es nach ihrem interimistischen Amtsantritt wenige Wochen zuvor gelungen, das System zu stabilisieren. Herzpatienten würden dem USZ wieder vermehrt zugewiesen. Die Fallzahlen stiegen an. Und das ist für die Herz­medizin am grössten Universitäts­spital der Schweiz nicht zuletzt auch ökonomisch wichtig.

Kurz nach der Medien­konferenz wird allerdings bekannt, dass Peter Matt doch keine Lust auf den «Neustart» am USZ hat.

Stattdessen wird er Chefarzt am Kantons­spital Luzern.

Was war geschehen?

Im letzten Teil unserer Trilogie zeigen wir auf, warum die Affäre noch längst nicht ausgestanden ist, wie hoch der Kollateral­schaden für den Medizin- und Wissenschafts­standort Schweiz ist – und was die lessons to learn sind.

Fazit 1: Grobe Verfahrens­fehler

Die beiden Herzchirurgen und potenziellen «Aufräumer» interessieren die Medien an diesem September­morgen nur am Rande. Auch die Mitteilung, das USZ wolle zusammen mit einer externen Firma eine anonyme Whistle­blower-Plattform schaffen, macht keine Schlag­zeilen. Der mediale Fokus richtet sich auf die Trennung von André Plass. «Der Whistle­blower wurde verheizt», schreibt der «Tages-Anzeiger». Man habe ihn ins offene Messer laufen lassen: «Der 3. September ist ein schwarzer Tag für diejenigen (…), die bei Miss­ständen nicht einfach wegschauen mögen und die sich Zivil­courage zutrauen.»

Dass man sich definitiv vom «umstrittenen» Klinik­direktor Maisano trennt, dem ja «schwere Vorwürfe» gemacht wurden, überrascht niemanden.

«Der Vorwurf der Geldgier verletzt mich am meisten. Ich bin Mediziner. Aber als Direktor einer grossen Klinik war ich auch ein CEO, ein Unter­nehmer. Und Lehrer, Forscher, Entwickler. (…) Meine Interessen­bindungen sind ein Teil meiner Karriere. Ich arbeite seit 20 Jahren auf diesem Gebiet, in dem es grosse Entwicklungen gab. Natürlich habe ich in dieser Zeit verschiedene Erfolge gefeiert – auch finanzielle. Ich habe medizinische Produkte erfunden, die heute angewandt werden. Gerade wegen meiner Erfindungen holte man mich ja ans USZ», sagt Francesco Maisano drei Tage nach der Medien­konferenz im Interview mit dem «SonntagsBlick».

Das USZ verschickt noch am Tag der Presse­konferenz zwei separate Medien­mitteilungen. In der einen wird der «Neustart» proklamiert, in der zweiten Maisano verabschiedet. Er verlasse das Spital per 28. Februar 2021 «im gegenseitigen Einvernehmen». Die Parteien seien ungeachtet der noch laufenden Unter­suchungen überein­gekommen, dass «eine Trennung angesichts der andauernd belastenden Situation für beide Seiten die beste Lösung ist». Es folgen ein paar freundliche Worte über den Klinik­direktor. Und das Bedauern über die «gegen ihn gerichtete Medien­kampagne».

Allerdings hat das USZ seinen Klinik­direktor nicht vor der medialen Rufmord­kampagne geschützt, weder rechtlich noch kommunikativ. Es sorgte sich in erster Linie um den Ruf der Institution, um das eigene Image. Der Chefarzt wiederum unterschätzte masslos, was da auf ihn zukam. Er holte sich erst spät und auf eigene Kosten Hilfe, engagierte Rechts­anwälte und PR-Berater der Agentur Farner; zu einem Zeitpunkt, als die öffentliche Meinung über ihn bereits gemacht war: Mit Maisano hat sich das USZ einen «Chirurgen von Weltruf» geholt, der von Neben­einkünften profitiert und seine monetären Interessen über das Patienten­wohl stellt.

Ich will es genauer wissen: Neben­verdienste von Ärzten – was ist erlaubt?

Zwar wurde Francesco Maisano erwiesener­massen auch wegen seiner engen Verbindungen zur Industrie nach Zürich geholt. Doch im Whistle­blowing gegen ihn und in mehreren Medien­berichten wird ihm genau das angelastet. Nur: Wann wird die Kooperation mit der Industrie tatsächlich zum Interessenkonflikt?

Für das Universitätsspital Zürich und die Universität Zürich ist es weder neu noch ungewohnt, dass die Klinik­direktorinnen und Professoren ander­weitig tätig sind – und dabei Geld verdienen. Am USZ sind Nebenjobs grundsätzlich zulässig, dürfen jedoch die Aufgaben am Spital weder beeinträchtigen noch konkurrenzieren oder im Widerspruch zu den Interessen des Spitals stehen. Für Neben­beschäftigungen besteht eine Melde­pflicht. Gemeldet werden muss zudem jedes Referats­honorar ab 1000 Franken. Bewilligungs­pflichtig (und nicht nur melde­pflichtig) wird ein Nebenjob am USZ dann, wenn er Arbeits­zeit, die Infra­struktur oder Leistungen des Personals beansprucht. Ist dies der Fall, muss das Spital zudem entschädigt werden.

Die Anwaltskanzlei Walder Wyss, die im Auftrag des USZ die Vorwürfe gegen Maisano prüfte, konnte bei ihm kein Fehl­verhalten feststellen: Die Tätigkeiten des Direktors seien dem USZ bekannt gewesen und auch nie beanstandet worden. Der Herzchirurg habe weder die Spital­ressourcen für private Zwecke missbraucht noch das Spital als Gütesiegel für seine Erfindungen benutzt. Er habe die von ihm entwickelten Geräte nicht übermässig und auch nicht aus Eigen­interesse eingesetzt und aus deren Einsatz keine direkten ökonomischen Vorteile erlangt.

Maisano wurde zudem vorgeworfen, er habe seine diversen Firmen­beteiligungen und Berater­verträge nicht bei allen relevanten Publikationen angegeben. Zudem sei nicht dokumentiert, wie und ob er die Patienten darüber aufgeklärt hat, dass er bei der Verwendung eines Geräts allenfalls wirtschaftlich profitiert. Walder Wyss stellt jedoch fest, dass es USZ-intern keine konkreten Vorgaben zur Offen­legung von Interessen­bindungen gegenüber Patienten gibt. Mit anderen Worten: Maisano hat nicht gegen interne Regeln verstossen.

Transparenz und Dokumentation werden vor allem von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) gefordert. Sie hat zum Thema «Zusammenarbeit Ärzteschaft und Industrie» Richt­linien festgelegt, die derzeit überarbeitet werden. Es gehe dabei nicht nur um Rechts­fragen, so die Akademie, sondern auch um die Berufs­ethik. Die SAMW betont die Bedeutung der Zusammen­arbeit zwischen Arzt und Industrie: Sie liege im Interesse einer guten Gesundheits­versorgung.

Noch deutlicher formuliert es uns gegenüber Daniel Delfosse, Geschäfts­leitungs­mitglied des Verbands Swiss Medtech: «Die Zusammen­arbeit zwischen Ärzteschaft und Industrie ist unabdingbar. Nur auf diese Weise können gute Produkte für Patienten entwickelt werden.» Im Vorder­grund stehe dabei die Transparenz gegenüber dem Arbeit­geber und den Patientinnen. Dass Ärzte finanziell profitierten, sei keineswegs verwerflich: «Vor allem im angelsächsischen Raum ist es ein gängiges Modell, dass Unter­nehmen die Ärzte mit Aktien oder Aktien­optionen bezahlen.» Ob daraus letztlich auch tatsächlich ein finanzieller Erfolg entsteht, hängt jedoch davon ab, ob sich das gemeinsam entwickelte Produkt am Markt durchsetzt. Delfosse: «Für jeden Arzt, der Erfolg hat, gibt es fünf andere, die leer ausgehen.»

Bei der ersten und längsten Befragung durch die Walder-Wyss-Anwältinnen kannte Maisano die konkreten Vorwürfe noch nicht und liess sich zwar von einer Vertrauens­person begleiten, nicht aber von einem Anwalt. Das USZ, sagt Maisano, habe ihm mitgeteilt, das sei nicht nötig. Erst im Nachhinein erfuhr er von seinen Anwälten, dass verfahrens­rechtlich einiges schief­gelaufen ist. Von Fairness, Transparenz oder gleichen Spiessen für alle kann keine Rede sein – obwohl es sich dabei um grund­legende Rechte handelt, die allen zustehen; in jedem Verfahren, egal, ob man Kritiker oder Kritisierte ist.

Allem voran muss offen auf den Tisch gelegt werden, was die konkreten Vorwürfe sind. Rudimentäre Angaben genügen nicht, erst recht nicht, wenn die Ereignisse Jahre zurück­liegen. Stützen sich die Unter­sucherinnen auf Dokumente, so sind diese vorzulegen; und zwar lückenlos, nicht handverlesen. Falls die Vorwürfe schwer­wiegend sind, muss dem Kritisierten von Anfang an ein Rechts­beistand zur Seite gestellt werden.

Der Zürcher Rechts­anwalt Kurt Meier ist seit Jahrzehnten im Medizin­bereich tätig und vertritt vor allem Patientinnen, die ihren Ärzten Kunst­fehler vorwerfen. Strafverfahren gegen Ärztinnen, sagt er, führten selten zu Verurteilungen: «Die Ärzte schulden kein Resultat, sondern ein sorgfältiges Vorgehen nach allen Regeln der Kunst. Sie dürfen keine groben Fehler machen, keine nicht nach­vollziehbaren Entscheide treffen; auch dann nicht, wenn sie im Operations­saal unter grösstem Zeitdruck urteilen müssen.»

Nun hat Meier die Seiten gewechselt und unterstützt den Herz­chirurgen Maisano, und zwar in einem Dutzend Fällen, die erst Monate nach dem Whistle­blowing vom Dezember 2019 nachgereicht worden waren. Themen: Verletzung der ärztlichen Sorgfalts­pflicht, falsche Indikationen. Das Fazit der unter­suchenden Anwalts­kanzlei: Die Vorwürfe haben sich nicht erhärtet.

Maisano hätte zu diesen neuen Vorwürfen gegenüber Walder Wyss erneut Rede und Antwort stehen sollen – Rechts­anwalt Meier hat ihm davon abgeraten. Er stelle bei den Unter­suchungen gegen den Mailänder Chirurgen grobe Verfahrens­fehler fest, sagt er. Es sei nicht einmal klar, um welche Art von Verfahren es sich handle. Absolut unzulässig sei, dass sich Maisano mit einer ungenügenden Vorbereitung den Fragen hätte stellen müssen; so, wie das bei der ersten Befragung geschehen war.

Besonders stossend sei, wie mit den Patienten­dokumenten umgegangen werde. «Ich habe nirgends eine Einwilligung der betroffenen Patienten gesehen, dass ihre Kranken­akten herum­gereicht werden dürfen», sagt Kurt Meier. «Ich vermute, sie wissen bis heute nichts davon. Dabei geht es um höchst persönliche und vertrauliche Daten. Nur sie können entscheiden, ob sie dies wollen oder nicht.»

Die Anwaltskanzlei Walder Wyss wehrt sich in ihrem Schluss­bericht gegen diese Vorwürfe und betont, es sei alles korrekt verlaufen, Maisano habe sich genügend vorbereiten können. Eine letzte Befragung von ihm sei wegen «mangelnder Kooperations­bereitschaft» nicht zustande gekommen. Und was die vertraulichen Patienten­akten betreffe, sei Walder Wyss von der Gesundheits­direktion ins Patienten­geheimnis eingebunden worden.

Verfahrensfehler leistete sich das USZ auch im Umgang mit dem Whistle­blower und inzwischen gekündigten leitenden Arzt André Plass. Einmal abgesehen vom unwürdigen Hin und Her mit der ersten Kündigung Ende April 2020 und der Wieder­einstellung Anfang Juli lief auch nach der zweiten Kündigung vieles schief. Der zweite Rauswurf erfolgte am 29. September 2020, und bis zum Ablauf der Kündigungs­frist Ende März bleibt der Arzt suspendiert; so, wie es zuvor auch bei Klinik­chef Maisano geschehen war.

Plass akzeptiert seine Kündigung nicht, was sein gutes Recht ist. Das Verfahren ist derzeit am Zürcher Verwaltungs­gericht hängig. In einem Zwischenentscheid macht das Gericht Mitte Dezember 2020 auf grobe Mängel im Umgang mit dem Gekündigten aufmerksam. So hat sich der Spitalrat mit dieser Personalie befasst, obwohl er erste Rekurs­instanz ist, wenn sich ein Gekündigter mit rechtlichen Schritten wehrt. Mit anderen Worten: Der Spitalrat hat die Aufgaben­teilung nicht respektiert. Statt sich auf strategische Fragen zu konzentrieren und seine Funktion als Rekurs­instanz zu respektieren, hat er der Spital­direktion dazwischen­gefunkt.

Dass dies nicht zulässig ist, weiss der Spitalrat spätestens seit Juni 2016. Das Verwaltungs­gericht hatte damals über eine ähnliche Sache zu befinden, und es richtete dem Spitalrat aus, er solle dafür sorgen, dass er als Rekurs­instanz beschluss­fähig bleibe. Durch sein Einmischen verliert der gekündigte leitende Arzt nämlich eine Rechts­mittel­instanz, was gegen die Zürcher Kantons­verfassung verstösst.

Trotz des Verlusts einer Rechts­mittel­instanz will das Verwaltungs­gericht den Rekurs gegen die Kündigung behandeln. Mit Blick auf die Rechtsweg­garantie und den Anspruch auf ein faires Verfahren könne nicht gewartet werden, bis der Spitalrat wieder eine Besetzung aufweise, die ihn beschluss­fähig mache. Der Entscheid des Gerichts, ob die Kündigung des leitenden Arztes zulässig war, steht noch aus.

Fazit 2: Milde für den Chef­kardiologen

Maisano ist definitiv weg. Plass zumindest bis zum Gerichts­entscheid. Wer hingegen unbehelligt weiter­arbeiten und sich seit Anfang 2021 sogar Leiter des USZ-Herz­zentrums nennen darf, ist: Kardiologie-Chef Frank Ruschitzka.

Diese Personalie ist ein paar weitere Überlegungen wert. Ruschitzkas Ernennung zum Klinik­direktor der Kardiologie verlief USZ-intern nicht reibungslos, und nach seinem Amtsantritt Anfang 2018 ging die Kooperation mit der Herz­chirurgie stark zurück. Dennoch hat es Ruschitzka geschafft, in der öffentlichen Auseinander­setzung um die «Causa Maisano» im Hinter­grund zu bleiben. Daran ändert sich auch im Sommer 2020 nichts, als er eine beeindruckende Blamage erlebt.

Zunächst schreibt das USZ in einer Medien­mitteilung, Ruschitzka sei an einer epochalen weltweiten Beobachtungs­studie beteiligt gewesen: mit 96’000 Covid-19-Patienten in 671 Spitälern auf allen Kontinenten. Einer Studie, die in der renommierten Fachzeitschrift «The Lancet» veröffentlicht wurde. Das Unispital zitiert seinen Kardiologie-Chef mit Worten, die klingen, als seien sie direkt an den damaligen US-Präsidenten Donald Trump oder den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro gerichtet, die in der Corona-Bekämpfung in jener Zeit öffentlichkeits­wirksam auf umstrittene Malaria­medikamente setzen: «Für die Wirksamkeit von Hydroxy­chloroquin und Chloroquin bei Covid-19 gibt es keine wissenschaft­lichen Belege», sagt Ruschitzka. Vielmehr seien schwere Neben­wirkungen beobachtet worden, «vor allem lebens­gefährliche Herzrhythmusstörungen».

Unverzüglich ziehen Organisationen und Regierungen Konsequenzen: Die Weltgesundheits­organisation (WHO) sistiert eine gross angelegte Studie zur Wirkung der beiden Malaria­medikamente, mehrere Länder stoppen ähnliche nationale Studien.

Zwei Wochen später aber ist alles anders: «The Lancet» zieht die Studie, die weltweit für Furore gesorgt hat, zurück – ein beispielloser Vorgang.

Der Chefredaktor der Fachzeitschrift zeigt sich erschüttert: «This is a shocking example of research misconduct in the middle of a global health emergency», sagt er dem «Guardian», in der «New York Times» spricht er von einer «Fälschung» und einem «monumentalen Betrug». Die «Süddeutsche Zeitung» schreibt von einem «Paukenschlag für die Wissenschaft», die NZZ von einem «handfesten Skandal». Und der Präsident der schweizerischen Medizin­akademie sagt in einem Interview: «Die Autoren haben sich blamiert, weil sie zu schnell publizieren wollten.»

Und Frank Ruschitzka? Schweigt. Und duckt sich weg.

Der Zürcher Chefkardiologe lässt Medien­anfragen unbeantwortet und vertraut darauf, dass ihn sein Arbeit­geber vor Unbill schützt. Was die Spital­leitung auch tut: Kaum ist der Skandal aufgeflogen, schreibt sie in einem Update zur ursprünglichen Medien­mitteilung, dass weder Ruschitzka noch die von ihm geleitete Klinik für Kardiologie an der Bereit­stellung der Daten für die Studie beteiligt gewesen seien.

Während der Sommer­ferien wird Ruschitzka zusätzlich entlastet: Am 16. Juli endet eine von der Universität Zürich eingeleitete Voruntersuchung betreffend den Verdacht auf wissenschaftliche Unlauterkeit mit einer Ermahnung; auf eine eigentliche Unter­suchung des Falls wird verzichtet. Die Universität hält Ruschitzka einzig an, bei wissenschaftlichen Publikationen in Zukunft sorgfältiger zu verfahren und sämtliche Aspekte rigoros auf ihre wissenschaftliche Integrität zu prüfen. Zudem muss er 30 Stunden Gratisarbeit für ein Uni-Kompetenz­zentrum leisten.

Härter wird einer seiner drei Co-Autoren angefasst: Amit Patel wird von der Universität von Utah entlassen. Sapan Desai, der mit seiner Daten­firma Surgisphere am Anfang des Debakels stand, ist bis heute abgetaucht; und wie die Harvard Medical School ihren Professor Mandeep Mehra sanktioniert, bleibt offen. Auf Nachfrage schreibt uns die renommierte US-Universität, sie kommentiere zwar keine Einzel­fälle, habe sich aber voll und ganz verpflichtet, die höchsten ethischen Standards einzuhalten; bei Vorwürfen gegen einen ihrer Wissenschaftler prüfe sie gründlich, ob er gegen die Richtlinien zur Integrität der Forschung verstossen habe.

Nun spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass das Unispital und die Universität Zürich ihren Klinik­direktor und Professor Ruschitzka schützen, bevor sie die Schuld­frage und die Schwere des Vergehens einwandfrei geklärt haben. Auch ist es richtig, dass sich die beiden Institutionen nicht an einer öffentlichen Vorverurteilung beteiligten.

Was allerdings seltsam anmutet, ist die offenkundig ungleiche Behandlung von Vorwürfen. Während das USZ Ruschitzka schützte, liess es sowohl Francesco Maisano als auch André Plass fallen. Zur Erinnerung: Den Herzchirurgie-Chef schickte die Spital­leitung zuerst in den Zwangs­urlaub, bevor sie ihn auf unbestimmte Zeit suspendierte und sich dann von ihm trennte; dem leitenden Arzt sprach sie zunächst die Kündigung aus, bevor sie ihn wieder einstellte, bloss um sich dann doch wieder von ihm zu trennen.

Am USZ, dem schweizweit führenden Spital, scheint mit unter­schiedlichen Ellen gemessen zu werden.

Fazit 3: Die alte Garde übernimmt

«Ich gehe von ein paar Monaten aus, in denen ich aufräumen kann. Meine Bedingung war, dass ich hierfür auch die Kompetenzen erhalte.» Paul Vogt in der NZZ am 20. Juni 2020.

«Paul Vogt redet schnell, aber präzise. Präzision ist eine Eigenschaft, die zu guten Herzchirurgen gehört. Und Paul Vogt, 63, ist in der Schweiz einer der besten. (…) Vogt muss jetzt den Ruf der Zürcher Herzklinik retten.» Auftakt zu einem Interview mit Paul Vogt in der «SonntagsZeitung» am 5. Juli 2020.

Es gibt keine Zweifel an Paul Vogts Funktion: Die Spital­leitung hat den kurz vor der Pensionierung stehenden, erfahrenen Herz­chirurgen ins Haus geholt, damit er für Ruhe sorgt. Als sich abzeichnet, dass Maisano für längere Zeit beurlaubt bleiben würde, wird Vogt Mitte Juni 2020 als temporärer Klinik­chef angekündigt.

Es ist nicht mehr attraktiv, im Herzzentrum des Universitäts­spitals Zürich zu arbeiten.

Schon an seinem dritten Arbeitstag macht er in einer E-Mail an eine Bewerberin deutlich, dass er Klinik­direktor bleiben will. Er schreibt ihr: «Der aktuelle Direktor der Herz­chirurgie wurde in die Ferien geschickt – und wird wohl kaum mehr zurückkehren.»

Rasch verbucht Vogt am USZ einen ersten Erfolg: Es gelangen weniger Interna an die Presse. Mitgeholfen hat ein von ihm mitunter­zeichneter Brief, der Ende Juli an die Angestellten verschickt wird und der uns vorliegt. Im Schreiben heisst es, die Weitergabe von Interna habe «personal­rechtliche Konsequenzen», könne gar mit einer «Straftat» in Verbindung gebracht werden.

Die Drohung wirkt. Doch für den Chef gilt die Aufforderung nicht.

Im Gegenteil. Vogt lässt in den Medien seiner Abneigung gegen neue Therapie­möglichkeiten und die Kooperation zwischen Ärztinnen und der Medizinal­technik-Industrie freien Lauf.

«Den Anspruch, wir seien die Welt­besten, können wir jetzt einmal zur Seite legen», sagt Vogt am 20. Juni 2020 gegenüber der NZZ.

«Es geht vermehrt um gewinn­strebende Aktionäre, um den Aufbau von möglichst profitablen Start-ups – schlussendlich um sehr viel Geld. Die Patienten, so scheint mir, werden in zu vielen Bereichen nur noch als Werkbank gesehen, an der man Geld generiert», sagt Paul Vogt am 5. Juli 2020 zur «SonntagsZeitung».

Wir wollten von Klinik­direktor Vogt wissen, warum er von Innovationen in der Herzmedizin wenig hält. Wie seiner Meinung nach medizinische Fortschritte erzielt werden können. Oder wie mit Patientinnen umzugehen ist, bei denen sämtliche herkömmlichen Methoden bereits ausgeschöpft wurden oder zu risikoreich wären – Stichwort: compassionate use. Doch der Chefarzt mochte sich nicht äussern und verwies auf die Medien­stelle des USZ, die wiederum die Interview­aussagen Vogts nicht kommentieren wollte. Spital­interne Quellen berichten uns, die USZ-Leitung habe wenig Gefallen an den Äusserungen des neuen Klinik­chefs gefunden.

Am 3. September erreicht Paul Vogt schliesslich, was er bereits Monate zuvor verkündet hat: Das USZ und Maisano trennen sich endgültig, er selbst wird definitiv Klinikdirektor.

Doch kaum ist er auf diesem Posten angelangt, rollt eine Kündigungs­welle an: Mehrere Mitarbeitende der Herzchirurgie – der «Tages-Anzeiger» spricht von gegen 10 – verlassen das USZ. Darunter auch Maurizio Taramasso, der ein paar Monate zuvor zusammen mit Maisano zu den weltbesten Klappen­experten erkoren worden ist. Besonders hart für Vogt ist aber die Tatsache, dass sich sein Stellvertreter Peter Matt gegen eine Zusammen­arbeit mit ihm entscheidet. Der 45-Jährige wurde noch von Maisano angestellt und zählt zur Generation von Herzchirurgen, die offen sind für moderne Methoden. Für die es selbst­verständlich ist, dass Kardiologie und Herzchirurgie kooperieren.

Es wird November, bis Vogt einen neuen Stellvertreter findet: Thierry Carrel. Mit dieser Personalie bestätigt sich ein Trend, der sich bereits mit der Inthronisierung Vogts abgezeichnet hat: In Zürich übernimmt die alte Garde.

Carrel ist der bekannteste lebende Schweizer Herzchirurg. Auch weil er die Öffentlichkeit, das Schein­werfer­licht und den Glamour nie gescheut hat. Ans USZ kommt der bald 61-Jährige über Umwege. Im Juni 2020 kündigt er nach einem Viertel­jahrhundert seine Stelle am Inselspital Bern, um in die Zürcher Privat­klinik­gruppe Hirslanden zu wechseln und einen neu geschaffenen Bereich für Weiter­bildung und Forschung in der Herzchirurgie zu leiten.

Die «Berner Zeitung», die ausführlich über Carrels Kündigung berichtet, zitiert Insider, die den Abgang des Star­chirurgen mit der «wachsenden Hierarchisierung» innerhalb der Insel-Gruppe in Verbindung bringen; die Klinik­direktoren würden zunehmend als «Angestellte» statt als «Partner» behandelt. In diesem Lichte betrachtet, wirkt Carrels Abgang wie eine Protest­kündigung. Auf jeden Fall zögert er nicht lange, als ihm Vogt wenige Wochen später anbietet, sein Stell­vertreter zu werden. Dafür lässt Carrel seine Hirslanden-Pläne fallen.

Etwa zur gleichen Zeit kündigt Carrel zudem seine langjährige Mitgliedschaft im Herzchirurgen-Verband SGHC, dessen Präsident er vorüber­gehend war. Aus seinem Umfeld heisst es, er habe sich mit anderen Verbands­mitgliedern überworfen, nachdem diese ihm vorgehalten hätten, er habe zu wenig für die Weiter­bildung getan. Präsidiert wird der Verband heute von Peter Matt, dem neuen Chefarzt am Kantons­spital Luzern und «Beinahe-Aufräumer» am USZ. Weder Matt noch Carrel wollten sich uns gegenüber dazu äussern.

Dass Carrel zur alten Garde zählt, die Innovationen und neuen Methoden in der Herz­chirurgie skeptisch gegenüber­steht, machte er schon 2018 deutlich. Damals bezeichnete er in einem «Flashlight»-Artikel im «European Heart Journal» das von Maisano mitentwickelte Cardio­band – ein Herzklappen-Implantat – als zu teuer und möglicher­weise wirkungslos. Dies, nachdem Carrel einen Patienten reoperiert hatte, der zuvor von Maisano ein Cardio­band implantiert bekam und mit dem Ergebnis nicht zufrieden war.

André Plass benutzte diesen Artikel später in seinem Whistle­blowing, um seinen Vorwurf zu stützen, Maisanos Entwicklungen seien wirkungslos. Zudem verwies Plass auf Carrels Behauptung, Maisano habe das Band beim Patienten am falschen Ort befestigt. Laut Plass soll Maisano dies später im Operations­bericht verschwiegen haben. Ein schwerer Vorwurf, mit dem sich in der Folge auch das Anwalts­trio von Walder Wyss beschäftigen musste. In ihrem Bericht entlastet die Kanzlei Maisano, der mittels Video­beweis belegen konnte, dass das Cardio­band korrekt eingesetzt worden war. Das wiederum schien Carrel zu irritieren. Via PR-Berater liess er den «Tages-Anzeiger» wissen, dass er in dieser Sache nie angehört worden sei.

Auch zu dieser Episode wollte sich Carrel uns gegenüber nicht äussern.

Fazit 4: «Gelogen und betrogen»?

Mitte Juni 2020 also hat Paul Vogt seinen Job als interimistischer Klinik­direktor am USZ aufgenommen und will fortan für Ruhe und weniger Leaks sorgen. Doch bereits wenige Wochen später kommt es erneut zu einem Vorwurf gegen den immer noch angestellten, aber abwesenden Francesco Maisano. Und auch dieser Vorwurf gelangt unverzüglich in die Medien. Er löst fast noch mehr Empörung aus als sein angeblich unkorrekter Umgang mit Patientinnen und wissenschaftlichen Publikationen. Unter der Ägide Maisanos sollen die Kranken­versicherungen um über eine Million Franken geprellt worden sein. Es geht um sogenannte inter­disziplinäre Arzt­gespräche, die bei privat und halbprivat versicherten Patienten zusätzlich verrechnet werden dürfen. Diese seien den Kranken­kassen zu Unrecht und vor allem im Übermass in Rechnung gestellt worden.

«Die Fakten liegen auf dem Tisch», sagt Paul Vogt der «NZZ am Sonntag». «Es wurde gelogen und betrogen.»

Was sind interdisziplinäre Arztgespräche?

Damit ist der Austausch unter Ärztinnen verschiedener Fach­richtungen gemeint, der über die täglichen Gespräche zwischen Tür und Angel hinaus­geht und zusätzlich zu den normalen Visiten stattfindet. Solche inter­disziplinären Gespräche dürfen nur dann in Rechnung gestellt werden, wenn sich mehrere Ärzte zu spezifischen Beratungen über einen Einzelfall treffen, wenn es um eine komplexe Gesundheits­situation geht – und die Beratung nicht schon anderweitig abgegolten wurde. Es ist unbestritten, dass es in der Herzmedizin regelmässig zu inter­disziplinären Arzt­gesprächen kommt und kommen muss; etwa zum Austausch zwischen dem Herz­chirurgen, der Kardiologin, dem Anästhesisten und dem Infektiologen.

Vogt spricht nun aber in der «NZZ am Sonntag» – in aller Öffentlichkeit – von «Lug und Betrug», und zwar bevor irgend­etwas untersucht worden wäre, geschweige denn Resultate vorliegen. Erst Anfang Oktober 2020 tut das Unispital, was es in der aufgeheizten Stimmung der letzten Monate immer getan hat: Es beauftragt eine Anwalts­kanzlei mit Abklärungen.

Der Bericht dieser Anwalts­kanzlei ist bisher nicht veröffentlicht worden. Dafür hat der «Tages-Anzeiger» ausführlich über die neuen Vorwürfe berichtet. Die Zeitung bezieht sich auf «Dokumente», die sie habe einsehen können, und nennt Mitte November einen Schaden in Höhe von 1,29 Millionen Franken. Das USZ selber schreibt einen Monat später in einer Medien­mitteilung: Die Administration der Klinik für Herz­chirurgie habe die Position der «inter­disziplinären Arztgespräche» über die letzten rund drei Jahre hinweg systematisch für alle zusatz­versicherten Patientinnen erfasst, ohne sie im Klinik­informations­system zu dokumentieren. Die Erfassung und Abrechnung sei sofort eingestellt worden, die «unrecht­mässig in Rechnung gestellten Kosten» würden den Kassen vollumfänglich zurück­erstattet. Das USZ habe bei der Staats­anwaltschaft Straf­anzeige eingereicht.

Aber gegen wen bloss? Wer wird verdächtigt, unsauber gearbeitet, in den Worten Vogts sogar «gelogen und betrogen» zu haben? Das wird vom USZ nicht kommuniziert. Doch im Kontext der Medien­bericht­erstattung liegt nahe, auf wen der Haupt­verdacht zumindest in der Öffentlichkeit fallen wird: Klinikchef Francesco Maisano.

Was einmal mehr auffällt: kein Wort davon, dass im fraglichen Zeitraum mit Michele Genoni ein stellvertretender Klinik­direktor in der Herz­chirurgie tätig war, der von der Spital­leitung explizit für die Administration, Organisation und fürs Qualitäts­management geholt worden war. Der die Funktion eines klinischen Geschäfts­führers innehatte. Der Name Genoni fällt auch in der öffentlichen Auseinander­setzung rund um die inter­disziplinären Arzt­gespräche und den mutmasslichen Versicherungs­betrug nicht ein einziges Mal.

Aus Gesprächen mit USZ-Insidern und aufgrund von Dokumenten, die uns vorliegen, ergibt sich in der «Causa Versicherungs­betrug» folgendes Bild:

  1. Es war die USZ-Finanz­direktion, die im Frühling 2017 die Klinik für Herz­chirurgie aufforderte, künftig sämtliche Leistungen vollständig zu erfassen und abzurechnen. Sie war einverstanden damit, dass ein neuer Honorar­posten für die inter­disziplinären Arzt­gespräche erfasst wird, und passte das interne Informations­system entsprechend an.

  2. Die inter­disziplinären Arzt­gespräche wurden pauschalisiert von der Administration erfasst und verrechnet (also nicht von den Ärzten, die die Leistung erbracht hatten); ein solches Vorgehen ist im Spital nicht unüblich. Pauschalisiert heisst in diesem Fall: Pro zusatz­versicherter Patientin wird eine bestimmte Anzahl an inter­disziplinären Arztgesprächen verrechnet – am Tag vor der Operation sowie für jeden Tag in der Intensiv­station und der sogenannten Intermediate-Care-Station.

  3. Es wurden keine Leistungen verrechnet, die nicht erbracht worden waren. Wegen der fehlenden Dokumentation steht allerdings nicht fest, um welche konkreten Gespräche es sich handelte und ob diese nicht schon ander­weitig abgegolten worden waren. Oder ob es um Gespräche zwischen Ärztinnen ging, für die der spezifische Honorar­posten nicht konzipiert war.

Als Vorwurf an den damaligen Klinik­direktor Maisano bleibt hängen, dass er als oberster Chef für alles gerade­stehen muss, was in der Herz­chirurgie geschah; unabhängig von den Zuständigkeiten des damaligen klinischen Geschäfts­führers, seines Stellvertreters. Die Rüge lautet einmal mehr: lückenhafte Dokumentation.

Noch hat die Zürcher Staats­anwaltschaft nicht entschieden, was mit der Anzeige bezüglich der inter­disziplinären Arzt­gespräche geschieht: ob das Verfahren eingestellt wird, ob es zu Straf­befehlen oder Anklage­erhebungen kommt – gegen wen auch immer. Der frühere klinische Geschäfts­führer, Michele Genoni, will sich zu diesem Thema gegenüber der Republik nicht äussern. Maisanos Anwalt Thomas Sprecher hingegen sagt: Es sei irritierend, dass das USZ von der Rückzahlung eines Schadens spreche, der von den Kranken­kassen noch gar nicht beziffert worden sei. Und einmal mehr halte die vom USZ beauftragte Unter­suchung durch die externe Anwalts­kanzlei die verfahrens­rechtlichen Standards nicht ein.

Klar ist nicht erst seit der Diskussion rund um die inter­disziplinären Arzt­gespräche: Der Kanton Zürich muss die Spital­finanzierung reformieren. Das weiss auch das USZ: Es verweist in der Medien­mitteilung vom Dezember auf die anstehende Revision des Spital­planungs- und -finanzierungs­gesetzes, um «Fehlanreize» bezüglich ärztlicher Zusatz­honorare «zu eliminieren».

Dass eine solche Revision dringend nötig ist: Zu diesem Schluss kommt kurz zuvor auch ein Bericht im Auftrag von Gesundheits­direktorin Natalie Rickli.

Fazit 5: Köpfe­rollen auf höchster Ebene

Vielleicht war die mediale Skandalisierung des mutmasslichen Versicherungs­betrugs das Tröpfchen, das das Fass zum Überlaufen brachte. Vielleicht war ihr Schicksal auch schon vorher besiegelt. Jedenfalls: Am 16. November geben 3 der 9 Mitglieder des Spitalrats ihren Rücktritt per Sommer 2021 bekannt – unter ihnen Präsident Martin Waser.

Zwar versucht der frühere Zürcher SP-Stadtrat Waser den Anschein zu erwecken, seine Mitstreiter und er träten aus freien Stücken zurück. Glauben aber tut ihm das zu jenem Zeitpunkt längst niemand mehr; zu gross ist der politische Druck geworden, weil es dem Spitalrat seit mehr als einem halben Jahr nie gelang, die Situation am Unispital zu beruhigen.

Seit dem Frühjahr habe die USZ-Führung den Eindruck hinterlassen, zum Spielball von Öffentlichkeit und Politik geworden zu sein, analysiert die NZZ. Ein Neuanfang sei notwendig. Auch der «Tages-Anzeiger» begrüsst die Rücktritte: «Die Krisen­bewältigung der Spital­leitung war, gelinde gesagt, unzureichend. Statt voraus­schauend zu agieren, reagierte sie erst, wenn es nicht mehr anders ging.» Das sehen auch Kantons­rätinnen von links bis rechts so; weit und breit niemand, der den Abgang der Spitalräte bedauerte.

Vier Tage später bricht auch die Zürcher Gesundheits­direktion den Stab über Martin Waser und dem von ihm seit 2014 geleiteten Spitalrat. Ein Bericht, den Regierungs­rätin Natalie Rickli bei einer Berner Beratungs­firma in Auftrag gegeben hat, lässt kaum ein gutes Haar an der USZ-Führung, stellt aber auch Mängel in der Kompetenz­verteilung zwischen Gesundheits­direktion, Spitalrat und Spital­direktion fest.

Die Beraterinnen listen 29 Verfehlungen und Empfehlungen für eine bessere Zukunft auf, wobei sich ein grosser Teil davon ans kantonale Parlament, den Zürcher Kantonsrat, richtet. Ein wichtiger Hinweis der Berater betrifft das Lohngefüge am USZ – und damit ein Geschäft, das derzeit im kantonalen Parlament hängig ist.

In den kommenden Monaten wird sich der Kantonsrat mit dem vom Regierungs­rat ausgearbeiteten neuen Spital­gesetz befassen, das in die empfohlene Richtung geht: Es schlägt für Kader­ärzte an kantonalen Spitälern neu eine Lohn­obergrenze von einer Million Franken pro Jahr vor; zudem sollen Honorare aus der Behandlung zusatz­versicherter Patientinnen künftig vollumfänglich in die Kasse des Spitals fliessen.

Bisher kommt dem Spital bloss die Hälfte solcher Zusatz­honorare zugute. 5 Prozent gehen in einen Spitalpool, der unter den verschiedenen Kliniken aufgeteilt wird. Über die restlichen 45 Prozent können die Klinik­direktoren in Eigen­regie entscheiden. Manche von ihnen behalten den Gross­teil für sich, andere verteilen ihn unter allen Angestellten, wieder andere belohnen damit ausser­ordentliche Leistungen – oder missbrauchen das Instrument, um ihnen treu ergebene Assistenz­ärztinnen und Sekretäre zu bevorzugen.

Ein weiteres Problem des bisher geltenden Honorar­gesetzes, das schon Natalie Ricklis Vorgänger abschaffen wollte: Verdient eine Ärztin an zusatz­versicherten Patienten, kann sie versucht sein, sie länger als nötig zu behandeln oder sie vorschnell zu operieren; tatsächlich zeigen Studien, dass Zusatzversicherte häufiger operiert werden als Grundversicherte. Der damalige Gesundheits­direktor Thomas Heiniger scheiterte im Kantonsrat unter anderem an der Gegenwehr seiner eigenen Partei, der FDP. Jetzt deuten alle Zeichen darauf hin, dass die Reform beim neuen Anlauf gelingen könnte.

Nicht zuletzt wegen der Skandale, die das USZ erschüttern.

Gesetzes­änderungen sind aufgegleist, im obersten Aufsichts­gremium, dem Spitalrat, kommt es zu personellen Rochaden. Es bewegt sich etwas. Nur einer scheint sich seiner Stelle sicher zu sein: Spital­direktor Gregor Zünd.

In einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» weist er im November jede Schuld von sich. «Ein Neuanfang bei der operativen Führung ist nicht nötig», sagt er. «Wir gewähr­leisten qualitativ hoch­stehende Medizin für Zürichs Bevölkerung.» Zudem seien die in die Kritik geratenen Klinik­direktoren nicht ihm, sondern dem Spitalrat unterstellt. «Bei schönem Wetter läuft das gut. Zieht ein Gewitter auf, bin ich machtlos.»

Fazit 6: Kein Stein soll auf dem anderen bleiben

Es müsse nun wieder Ruhe einkehren in der Herz­medizin: So lautete der eindringliche Appell von Noch-Spitalrats­präsident Martin Waser an der Medien­konferenz von Anfang September 2020. Ein frommer Wunsch.

Das wird spätestens ein halbes Jahr später klar. Am Nachmittag des 4. März präsentiert eine Subkommission des kantonal­zürcherischen Parlaments den Medien die Resultate ihrer Untersuchung. Die Medien­konferenz wurde am Abend zuvor, am Tag der Publikation von Teil eins dieser Recherche-Trilogie, kurzfristig und überraschend anberaumt.

Das Fazit der Parlamentarierinnen, kurz zusammen­gefasst: Das Unispital Zürich ist ein verkrusteter, komplizierter, altertümlich und intransparent organisierter und geführter Grossbetrieb mit unklaren Kompetenzen, einer dürftigen Compliance und mangelnden Fähigkeiten im höchsten strategischen Führungs­gremium – dem Spitalrat.

Kurzfristig anberaumt: Zu den Vorgängen am Unispital wird ein vernichtender kantonalrätlicher Bericht präsentiert.

Die Subkommission unterbreitet 75 Empfehlungen. Kantonsrätin Arianne Moser, die das Gremium leitete, macht an der Medien­konferenz klar, dass man eine zügige Umsetzung der Empfehlungen erwarte.

Die Kantonsrätinnen verwenden deutliche Worte in ihrem Bericht:

  • Es brauche einen «umfassenden Kultur­wandel». Eine Vertrauens­basis, die eine Fehler­kultur erst ermögliche, ein Ende der herrschenden «Angstkultur».

  • Der leitende Arzt André Plass hätte seine Beobachtungen nicht an die Öffentlichkeit tragen dürfen, schliesslich habe das USZ umgehend eine Unter­suchung eingeleitet.

  • Der Spitalrat hätte den Zwischen­bericht der Kanzlei Walder Wyss zum Fall Maisano nicht publizieren dürfen, bevor der Klinik­direktor dazu Stellung nehmen konnte.

  • «Journalistische Sorgfaltspflicht verletzt», «Vorverurteilungen», «Hetzjagd», den Gegen­spieler zum Opfer stilisiert – die Medien­kritik der Subkommission im «Fall Maisano» ist vernichtend: Einzelne Medien hätten Anschuldigungen gegen den Klinik­direktor selbst dann nicht zurückgenommen, wenn sie widerlegt wurden. Und weiter: «Es ist nicht auszuschliessen, dass indirekt durch den medialen Druck auf das Personal das Patientenwohl tangiert wurde.»

Die Parlamentarier stützen damit die Recherche-Ergebnisse der Republik.

Doch noch sind nicht alle Unter­suchungen der Affäre abgeschlossen. Demnächst wird die Universität Zürich darüber entscheiden, wie sie das wissenschaftliche Verhalten ihres Professors für Herz­chirurgie beurteilt. Das Anstellungs­verhältnis von Francesco Maisano mit der Universität dauert bisher noch an, auch wenn er den Lehrstuhl nicht mehr innehat.

Unsere Recherchen zeigen: Die Universität verhält sich wider­sprüchlich, was die Trennung von Maisano betrifft. Insgesamt vier Unter­suchungen gegen ihren Medizin­professor sind in Auftrag gegeben worden. Zwei davon entlasteten ihn. Zwei weitere Expertisen, die der Universität seit Monaten vorliegen, kommen zum Schluss: Bei einzelnen «Flashlight»-Publikationen hätten Maisano und sein Team nicht den gesamten Operations­verlauf geschildert und Komplikationen verschwiegen. Genau diesen Vorwurf hatte bereits die Anwalts­kanzlei Walder Wyss erhoben. Maisano sagte gegenüber den Anwälten aus, bei diesen «Flashlights» handle es sich nicht um wissenschaftliche Publikationen; was später auch der Chefredaktor des «European Heart Journal», in dem die Artikel publiziert wurden, bestätigte.

Die Universität verhandelt seit Ende 2020 mit Maisano über eine Aufhebungs­vereinbarung, im Wissen um die zwei belastenden Gutachten. Anfang Februar ändert sich die Taktik plötzlich: Seither ist die Rede von einem drohenden Kündigungs­verfahren – weil der Professor ein schweres wissenschaftliches Verschulden zu verantworten habe.

Falls Maisano von der Universität Zürich eine Kündigungs­verfügung erhält, könnte er diese gerichtlich anfechten. Oder der Professor und seine Arbeit­geberin einigen sich doch noch auf eine einvernehmliche Trennung.

Unabhängig von diesem Entscheid ist am Universitäts­spital Zürich mit dem Abgang Maisanos der Schritt in die Zukunft der Schweizer Herzmedizin zumindest gebremst, wenn nicht um Jahre zurück­geworfen worden. Er war ein innovativer Chirurg und offen für neue Methoden. Seit er nicht mehr am USZ operiert, kam es zu einem Exodus von Chirurgen und Kardiologen, die vom Mailänder Dottore lernen wollten.

Auch der Zuwachs an neuen Talenten ist ins Stocken geraten. Wer will schon an einem Ort arbeiten, wo Machtgier, Neid und Missgunst das Streben nach neuen Lösungen im Keim ersticken – und jede Fehler­kultur zunichte­machen. Niemand kann es der jungen Generation übel nehmen, wenn sie sich anderswo, im europäischen Ausland, umschaut.

Fazit 7: Das Ende einer Ära

Am 15. März 2021 beginnt für Francesco Maisano ein neues Kapitel: Er wird Chefarzt in der Herzchirurgie des Mailänder Spitals San Raffaele – als Nachfolger des berühmten Mediziners Ottavio Alfieri. Er hat den Auftrag erhalten, «eine integrierte Herzklappen­klinik nach modernen patienten­orientierten Konzepten» aufzubauen, wie er uns per Mail mitteilt.

«Auf Wiedersehen USZ», schreibt er. «Ich habe dir gedient, doch nun konzentriere ich mich auf mein neues Kapitel. Ich bin aufgeregt und glücklich.»

Zu den Updates

Zürcher Herzkrise – eine Trilogie

Sie lesen: III. Aufräumen

Wie das Unispital Zürich einen Neuanfang für die Herz­me­di­zin ankündigt. Und warum dieser nicht rei­bungs­los verläuft

Interview

«Mir fällt nur ein Wort ein: Ka­ta­stro­phal»