Nachbeben in der Zürcher Herzkrise
Neue Untersuchungen, alte Vorwürfe: Die Turbulenzen in der Herzmedizin im Universitätsspital Zürich gehen weiter.
Von Philipp Albrecht, Dennis Bühler und Brigitte Hürlimann, 18.03.2021
In der ersten Märzwoche hat die Republik in einer Recherche-Trilogie dargelegt, warum es in der Herzmedizin am Universitätsspital Zürich (USZ) kracht und rumort. Ursächlich für den Konflikt ist einerseits der Fortschritt in der Herzmedizin – weltweit legen minimalinvasiv operierende Kardiologen zu, während am offenen Herzen operierende Chirurginnen an Boden verlieren. Andererseits geht es am USZ auch um Neid, Macht und persönliche Animositäten – sowie um eine Spitalleitung, die den Querelen zunächst tatenlos zusah, dann höchst unterschiedlich mit zwei Whistleblowings umging und sich bei der Aufarbeitung der Krise Verfahrensfehler und Führungsversagen leistete.
Zur Recherche «Zürcher Herzkrise»
Die Öffentlichkeit kennt im Skandal um die Herzmedizin am Universitätsspital Zürich nur die halbe Wahrheit. Die Aufarbeitung überfordert die Spitalleitung. Und auch Medien spielen eine unrühmliche Rolle. Zum Auftakt der Trilogie.
Ist seither Ruhe eingekehrt? Mitnichten. Auch in den vergangenen zwei Wochen blieb das Unispital im Sturmwind.
Alte, längst widerlegte Vorwürfe wurden wiederholt, neue Untersuchungsergebnisse publik gemacht (und einige der Gutachten unter Verschluss gehalten), Anwältinnen in Stellung gebracht. Und während der Zürcher Kantonsrat den mächtigsten Verlag des Landes aufforderte, sich zu fragen, ob er «die journalistischen Sorgfaltspflichten wirklich gegenüber allen Protagonisten und Institutionen redlich und sorgfältig wahrgenommen hat», beharrte das Tamedia-Recherchedesk darauf, adäquat, ausgewogen und fehlerfrei berichtet zu haben.
Wir bringen Sie auf den neuesten Stand.
1. Eine überparteiliche Fraktionserklärung aus dem Zürcher Kantonsrat
Am 8. März publizierte die Republik ein Interview mit Thomas Lüscher, dem ehemaligen USZ-Klinikdirektor für Kardiologie, der die Krisenkommunikation des USZ-Spitalrats genauso harsch kritisierte wie die Berichterstattung der Tamedia. Wenige Stunden danach veröffentlichen sechs Parteien des Zürcher Kantonsrats eine gemeinsame Erklärung. Ihr Titel: «Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen».
Die SVP, die EDU, die SP, die FDP, die GLP und die Grünen äussern ihr Missfallen über die Berichterstattung des «Tages-Anzeigers». Zwar habe die Redaktion mit der Veröffentlichung von Missständen unbestrittenermassen wichtige Aufklärungsarbeit geleistet, heisst es in der gemeinsamen Erklärung. «Mehr und mehr aber hat die personalisierte, zunehmend einseitige Berichterstattung irritiert. Ebenso befremdend ist, dass der ‹Tages-Anzeiger› der sachlichen und fundierten Darlegung der wichtigen Erkenntnisse und Empfehlungen des Untersuchungsberichts deutlich weniger Platz einräumt als der Verteidigung eigener Thesen.»
Tatsächlich fällt auf, dass die reichweitenstärkste Redaktion der Schweiz in den Tagen zuvor nicht von ihrer ursprünglichen These abgerückt ist. Diese lautet seit Mai 2020 unverändert: Francesco Maisano, der Direktor der Klinik für Herzchirurgie, hat Publikationen geschönt und Komplikationen verschwiegen, um seinen eigenen finanziellen Nutzen zu maximieren, und er hat das Patientenwohl gefährdet; «Whistleblower» André Plass hat diese gravierenden Missstände aus ehrenwerten Motiven publik gemacht.
Dass eine vom Kantonsrat eigens eingesetzte Subkommission in einer monatelangen Untersuchung zu völlig anderen Schlüssen gelangt ist, ficht die Tamedia-Redaktion nicht an. Die Parlamentarierinnen formulierten in ihrem am 4. März veröffentlichten Bericht insgesamt 75 Empfehlungen für eine bessere Spitalzukunft.
Und sie kritisierten die Medien: Mit Blick auf die Berichterstattung der Tamedia-Zeitungen schrieben sie von einer Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht, einer «Hetzjagd» und fehlenden Berichtigungen – und bilanzierten, es könne nicht ausgeschlossen werden, «dass indirekt durch den medialen Druck auf das Personal das Patientenwohl tangiert wurde». Für Plass habe die Tamedia-Redaktion «eine Opferrolle konstruiert, welche aufgrund der vorliegenden Tatsachen (…) nicht nachvollziehbar» sei; auch das Ausmass der Vorverurteilung Maisanos sei «unstatthaft».
Das Tamedia-Recherchedesk reagierte mit einem Gegenangriff: Die kantonsrätliche Kommission habe den Whistleblower blossgestellt und geoutet, was einem «beispiellosen Tabubruch» gleichkomme. (Dass der leitende Arzt André Plass im Sommer 2020 bereits von der «Weltwoche» namentlich genannt wurde, dass er im Januar 2021 erkennbar in der SRF-Sendung «10 vor 10» auftrat und sich nicht nur USZ-intern über seinen Chef Francesco Maisano beschwerte, sondern sich unter anderem auch an Bundesrat Alain Berset, die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli und den damaligen Corona-Delegierten des Bundes, Daniel Koch, wandte – und somit an ein grösseres Publikum –, liess Tamedia unerwähnt.)
Sind im Anschluss an die Medienschelte aller bedeutenden Kantonsratsparteien bei Tamedia Ansätze von Selbstkritik zu erkennen? Nein. Die Redaktion hält an ihrer Stossrichtung fest. «Ist es richtig, dass sich das Zürcher Universitätsspital von Herzchirurg Francesco Maisano getrennt hat?», fragt die für Gesundheitsthemen zuständige Redaktorin in einem Kommentar. Und antwortet gleich selbst: Ja. Denn der Chefarzt habe «Regeln ausser Acht gelassen, die letztlich dem Schutz der Patientinnen und Patienten dienen. Ein Universitätsspital kann dies nicht tolerieren.»
Der Appell der Politik, die medienethischen Grundsätze des Presserats zu beachten: Er verhallt ungehört.
2. Der Schlussbericht von Walder Wyss und die Untersuchung gegen Plass
Am 9. März verschickt das Universitätsspital Zürich eine Medienmitteilung und schreibt, was die Republik bereits in der Woche zuvor berichtet hat: Der Abschlussbericht von Walder Wyss zu den Vorwürfen gegenüber Maisano liege vor. Er wird, anders als ein erster Zwischenbericht, nicht publiziert. Von den vielen und teilweise massiven Anschuldigungen bleiben nach Auffassung des USZ drei hängen:
Mängel in der schriftlichen Patientendokumentation.
Einzelne Publikationen seien inhaltlich «unvollständig bzw. unrichtig» gewesen, die Interessenbindungen des Autors nicht überall ersichtlich.
Die Kommunikation mit der Bewilligungsbehörde Swissmedic sei nicht immer mit der «erforderlichen Sorgfalt vorgenommen worden».
Der kritisierte Herzchirurg wehrt sich erneut gegen die übrig gebliebenen Vorwürfe, die er als unzutreffend bezeichnet. Wir haben in unserer Trilogie ausführlich darüber berichtet – übrigens auch darüber, dass Swissmedic keine Verletzung der Meldepflichten festgestellt hat. Der Vorwurf wird dennoch weiter kolportiert. Und was in der Medienmitteilung des Unispitals ebenfalls fehlt: der Hinweis darauf, dass für die administrativen und organisatorischen Aufgaben in der Klinik für Herzchirurgie sowie fürs Qualitätsmanagement extra ein stellvertretender Chef eingestellt worden war – Michele Genoni.
In der gleichen Mitteilung erwähnt das Unispital in bloss drei Sätzen, dass die externe Untersuchung gegen den leitenden Arzt André Plass abgeschlossen worden sei; auch dieses Gutachten wird nicht publiziert. Plass hatte zunächst als Whistleblower die Vorwürfe gegen seinen Vorgesetzten Maisano erhoben und auch USZ-extern verbreitet, geriet Monate später jedoch selber ins Visier eines zweiten, anonym eingereichten Whistleblowings. Das USZ schreibt nun, die medizinischen Vorwürfe gegen Plass hätten sich nicht bestätigt: «Aus der Untersuchung ergibt sich jedoch, dass es sich bei der Person des Hinweisgebers um eine stark polarisierende Persönlichkeit handelt, die auf einige Mitarbeitende stark einschüchternd wirkte.»
Wortreicher als das USZ berichtet der «Tages-Anzeiger» am 6. März über das unter Verschluss gehaltene Gutachten: Bei den drei Operationen, die zum vorübergehenden Operationsverbot gegen André Plass geführt hatten, sei der Herzchirurg in einem Fall «sachgerecht» vorgegangen, im zweiten Fall «im Rahmen seines Ermessensspielraums» und im dritten Fall gebe es «keine Hinweise auf eine chirurgische Fehlleistung». In einem von weiteren neun untersuchten Fällen habe Plass «an der Grenze der anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst» gehandelt.
3. Die Universität Zürich trennt sich von Maisano
Am 12. März kommuniziert die Universität Zürich die Trennung von Francesco Maisano – diese war unvermeidlich, denn die Professur für Herzchirurgie ist mit dem Anstellungsverhältnis am Unispital verbunden, das bereits per Ende Februar aufgelöst wurde. Die Universität informierte gleichzeitig über zwei weitere Untersuchungen gegen den Herzchirurgen. Eine befasste sich mit dem Vorwurf des wissenschaftlichen Fehlverhaltens, bei der zweiten ging es um ein Administrationsverfahren: wegen fehlender Meldungen oder Bewilligungen für Nebenbeschäftigungen sowie wegen lückenhafter Meldung von Interessenbindungen.
Was das wissenschaftliche Verhalten des Mailänder Arztes betrifft, haben drei externe Gutachter 7 von knapp 570 Publikationen Maisanos geprüft – und rügen bei 4 Kurzpublikationen (sogenannten «Flashlights») Unvollständigkeit oder eine beschönigte Darstellung. Was auffällt: Einer dieser 4 Vorwürfe wurde bereits letzten Sommer entkräftet (die NZZ hat darüber berichtet), es geht um eine angebliche Reanimation während einer Operation, die nachweislich nicht stattgefunden hatte. Eine zweite Rüge betrifft einen Drahtbruch an einem Implantat: Ihn hat Maisano in der Beschreibung eines Operationsbilds zwar tatsächlich nicht erwähnt, aber mehrfach an darauffolgenden Fachkongressen offengelegt, was der Universität aus dem In- und Ausland mitgeteilt wurde. Bei den zwei weiteren Beanstandungen wehrt sich der Herzchirurg nach wie vor gegen den Vorwurf, er habe das Resultat der Operationen falsch oder beschönigend dargestellt. Er habe eine Momentaufnahme geschildert, und dies korrekt.
Generell hält Maisano den drei Gutachtern entgegen, dass sie nicht in seinem Fachgebiet – der katheterbasierten Klappenintervention – tätig seien und ein angebliches wissenschaftliches Fehlverhalten allein aufgrund von 4 Kurzberichten à je 250 bis 500 Wörter feststellten. Bei solchen Berichten gehe es um eine Bildbeschreibung und nicht um einen wissenschaftlichen Beitrag oder gar um eine klinische Fallstudie.
Dennoch sei er froh, dass die Universität ihre Untersuchungsberichte öffentlich gemacht habe, sagt Maisano gegenüber der Republik. So könne die wissenschaftliche Community seinen Fall besser beurteilen. Und die Kompetenz der drei Gutachter.
Bleiben die Vorwürfe im universitären Administrativverfahren: In einzelnen Fällen hat Maisano eine Interessenbindung oder eine Nebenbeschäftigung tatsächlich erst mit Verspätung gemeldet, einzelne Nebenjobs gar nicht (etwa dann, wenn er nichts verdiente). Wenn es hingegen zu einem Verdienst kam, lieferte er vorschriftsgemäss 10 Prozent davon ab – auch bei einer fehlenden Meldung. Die Universität nahm das Geld an.
4. Verspäteter erster Arbeitstag in Mailand
Offiziell ist Francesco Maisano noch bis Ende März bei der Universität Zürich angestellt. Deshalb war es ihm nicht möglich – wie ursprünglich geplant – seine neue Chefarzt-Stelle am Mailänder Universitätsspital San Raffaele bereits am 15. März anzutreten.
Maisano schreibt der Republik, die Kollegen in Mailand seien glücklich darüber, dass er zurückkomme. «Ich werde hart arbeiten, wie immer. Ich werde weiterhin Leben retten und bessere Lösungen entwickeln. Und ich werde der neuen Generation helfen, gute Ärzte zu werden. Bye-bye Zürich.»