Was, wenn nur Frauen abstimmten?
Frauen stimmen anders als Männer. Das ist einer der Gründe, weshalb man sie möglichst lange von der Urne fernhielt. Ein Datenbriefing als Folge 2 der Republik-Serie «Frauenstimmen».
Von Marie-José Kolly und Olivia Kühni, 08.02.2021
Kurz bevor die Schweizer Männer den Frauen vor 50 Jahren endlich den Weg an die Urnen freimachten, musste die Landesregierung noch einen Zweifel ausräumen: Nein, die Frauen bringen nicht den Sozialismus über das Land.
Ganz so direkt sagte das der Bundesrat nicht. Wohl aber fühlte er sich verpflichtet, Zweifeln an der ideologischen Standfestigkeit der Frauen entgegenzuwirken: Frauen seien nicht in Gefahr, «extreme Parteien zu begünstigen» und «kritiklos ideale Zwecke mit untauglichen Mitteln verfolgen zu helfen», wie es 1969 in seiner Botschaft zur Abstimmung heisst.
Mitten im Kalten Krieg fürchteten konservative Parteien und auch einzelne bürgerliche Frauenvereine, die Frauen könnten, kaum hätten sie das Stimmrecht, sozialistischen Anliegen zum Durchbruch verhelfen. Die Angst vor den Bolschewiken war vor allem ab den 1960ern eine der Hauptrechtfertigungen, um den Frauen das Stimmrecht zu verweigern.
Nun, den Sozialismus brachten die Frauen offensichtlich nicht. Aber die Gegner lagen mit ihrer Intuition auch nicht komplett falsch.
Seit gerade mal 50 Jahren haben Schweizerinnen politisches Mitspracherecht. Kein Anlass zum Feiern, sondern für Fragen: Was kann uns der Blick zurück für heute lehren? Wie ist die Lage für die Frauen heute? Zum Auftakt der Serie. Erinnern Sie sich noch daran, als Sie das erste Mal abstimmen konnten? Teilen Sie Ihre Geschichte.
Für mehr Umweltschutz und gegen Waffen
Tatsächlich stimmen Frauen in der Mehrheit deutlich linker und grüner ab als Männer – und prägen so die Politik des Landes massgeblich.
Um das sichtbar zu machen, lassen wir übungshalber einmal die Männerstimmen weg und fragen uns: Wie wären die Abstimmungen ausgegangen, wenn nur die Frauen abgestimmt hätten? (Das bei Volksinitiativen und obligatorischen Referenden notwendige Ständemehr blenden wir für diese Übung aus.)
Dazu arbeiten wir mit Daten aus Nachabstimmungsumfragen, also mit den Angaben, die Politforscher seit 1977 nach jeder eidgenössischen Volksabstimmung telefonisch bei einer soziodemografisch repräsentativen Stichprobe von Bürgerinnen abfragen (siehe «Zu den Daten» am Ende dieses Artikels). Nicht immer berücksichtigten sie dabei das Geschlecht. Und nicht immer wurden die Resultate digitalisiert. Es ist also gut möglich, dass wir die eine oder andere relevante Vorlage verpasst haben.
Umfragen wie diese sind immer mit Unsicherheit behaftet, die Fehlermarge liegt hier meist zwischen +/– 2,5 und +/– 5 Prozentpunkten. Denken Sie sich also bei Vorlagen, die in einer Frauen-only-Schweiz eng ausgegangen wären, jeweils ein «vermutlich» dazu.
Wie also sähen die Resultate aus, in einer Schweiz der Frauen?
Selbst bei Umweltvorlagen, die auch ohne Männerstimmen keine Mehrheit gefunden hätten, stimmten mehr Frauen als Männer für Gewässerschutz, für Tierschutz, gegen Atomstrom, gegen Zersiedelung.
Andere Volksabstimmungen – sie wären ohne Männerstimmen nicht anders ausgegangen – zeigen ebenfalls: Frauen setzen sich vermehrt für die Rechte von Minderheiten ein. Für die Ahndung von Rassismus, gegen die Überwachung von Rentenbezügern, für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Frauen stimmten übrigens 1981 auch bedeutend häufiger für die rechtliche Gleichbehandlung von Mann und Frau. Und stimmten nur sie, hätte die Schweiz weitere Gleichstellungsanliegen angenommen:
Das Militär hätte dagegen wichtige Abstimmungen verloren, hätten nur Frauen abgestimmt.
Betrachtet man weitere Vorlagen, die das Militär oder Waffen betreffen, wiederholt sich das Muster: Sie wurden von Männern eher unterstützt als von Frauen.
Frauen setzen sich vermehrt für den Service public ein. Sie stimmten beispielsweise gegen ein Krankenversicherungsgesetz, das mit dem Argument präsentiert wurde, es bringe mehr Wettbewerb und Eigenverantwortung. Und wenn es nach ihnen ginge, hätte die Schweiz das Bekenntnis zu einem flächendeckenden Poststellennetz in der Verfassung verankert:
Ginge es nur nach den Bürgerinnen, wäre die Schweiz also tatsächlich ein wenig linker und grüner, manchmal bewahrender (wie im Fall der Postdienste), oft progressiver (wenn es um ein flexibles Rentenalter geht).
Damit sind die Schweizerinnen keine Ausnahme. «Frauen sind weltweit linker und grüner», sagte Politikwissenschaftlerin Martina Mousson zur «Annabelle». Eine internationale Studie zeigt: Es sind vor allem die jüngeren Frauen, die solche Werte vertreten. Und deren Einfluss wächst: Junge Frauen nutzen ihr Stimmrecht viel intensiver als vorangehende Generationen.
Nach der Einführung des Frauenstimmrechts sank die Stimmbeteiligung erst einmal, weil die zögerlich neu stimmenden Frauen den Gesamtschnitt drückten. Noch heute stimmen unter den älteren Menschen die Männer deutlich öfter ab als die Frauen. Doch die jüngeren Frauen, die eine Schweiz ohne Frauenstimmrecht nur noch aus Erzählungen kennen, nehmen ihr Recht häufiger wahr.
Trotzdem setzen auch sie sich nur hin und wieder durch.
Nur selten kippt die Waage
Die Schweiz besteht selbstverständlich auch nach 1971 nicht nur aus Frauen. Darum haben sie über die Jahre zwar die politische Landschaft verschoben – aber nur ab und zu haben ihre Stimmen ausgereicht, um einen Entscheid zu kippen.
Insgesamt haben die Frauen in den letzten 50 Jahren an 424 Abstimmungen ihren politischen Willen geäussert. Bei lediglich 11 davon haben sie sich mit der Wucht der weiblichen Stimmen durchgesetzt. Das zeigt auch eine Republik-Analyse von Claude Longchamp, die vor zwei Jahren erschien.
Besonders wichtig war das vehemente Ja der Frauen bei der Revision des Ehe- und Erbrechts von 1985. Es sah vor, dass Ehefrauen ihren Männern nicht mehr untergeordnet wären, sondern Familienangelegenheiten fortan gemeinsam entschieden würden. Zuvor konnten Männer beispielsweise alleine über Kauf oder Verkauf eines Hauses entscheiden. Mehr noch: Das Vermögen der Frau – selbst wenn sie es geerbt oder geschenkt bekommen hatte – verwaltete ebenfalls der Mann, frei bestimmen konnte die Frau lediglich über ihren eigenen Lohn.
Hätten damals an der Urne nur die Stimmen der Schweizer Männer gezählt: Sie hätten die Revision abgelehnt.
Seit 1977 werden nach Schweizer Abstimmungen Nachbefragungen durchgeführt. Meinungsforscher erheben hierfür den Stimmentscheid, die Gründe dafür und die Informationslage dahinter – nach Geschlecht, Alter und politischen Präferenzen. Von 1977 bis 1987 umfasste die Stichprobe 700 Stimmberechtigte, dann 1000, und ab dem Jahr 2010 1500 Personen.
Umfrageresultate sind zwangsläufig unscharf: Man befragt eine Stichprobe, nicht alle, die an den Urnen waren. Je nach Umfragetyp – hier Telefonumfragen – kommen weitere Schwierigkeiten dazu, etwa systematische Verzerrungen dadurch, dass Personen mit bestimmten Profilen eher oder eher nicht auf solche Anfragen eingehen.
Von 1977 bis 2015 und wieder seit November 2020 ist das Meinungsforschungsinstitut GFS Bern für diese Nachbefragungen und die dazugehörigen Vox-Analysen zuständig. Von 2016 bis 2020 führten das Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften in Lausanne und das Zentrum für Demokratie Aarau die Voto-Studien durch, zusammen mit dem Befragungsinstitut Link.