Frauen machen den Unterschied
In der Bundesversammlung und in der Regierung entscheiden die Männer. Anders bei Volksabstimmungen: Da bestimmen öfter die Frauen, wo es langgeht.
Von Claude Longchamp, 18.02.2019
Frauen und Männer verhalten sich politisch unterschiedlich. Diese These wird von neuen Erkenntnissen der britischen Sozialwissenschaftlerin Rosalind Shorrocks gestützt. 2018 veröffentlichte sie eine breit angelegte Studie zum gendertypischen Wahlverhalten über 25 Jahre in westlichen Gesellschaften.
Sie stellte fest, dass vor allem junge Frauen linken Parteien näher stehen als Männer. Den grössten Unterschied fand Shorrocks in Island. Auch in Italien und Österreich wählen die Frauen eher links, während sich die Männer mehrheitlich für die rechten Parteien entscheiden.
Die Schweiz ist keine Ausnahme. Bei den Wahlen 2015 wählten deutlich mehr Frauen die Grünen und die Sozialdemokraten als Männer. Derweil ist die Mehrzahl der SVP-Wähler männlich; bei den bürgerlichen Mitteparteien war der Geschlechterunterschied bislang geringfügig.
Ganz anders sieht die Situation bei Volksabstimmungen aus. Eine Analyse der letzten 30 Jahre zeigt, dass sich Frauen bei Abstimmungen viel öfter durchgesetzt haben als Männer. Unterschieden sich die Mehrheiten nach Geschlechtern, beeinflussten die Frauen elfmal das Resultat entscheidend, die Männer konnten sich nur dreimal durchsetzen. Vor allem bei genderspezifischen, gesellschafts- und sozialpolitischen Vorlagen stimmten die Frauen geschlossener ab und gaben so den Kurs vor.
Frauen verhinderten den Gripen-Kauf
Das erste Mal berichteten Vox-Analysen 1985 im Nachgang zu einer Volksabstimmung von unterschiedlichen Geschlechtermehrheiten. Damals wurde über das neue, heute noch geltende Ehe- und Erbrecht entschieden. Die Mehrheit von 52 Prozent der stimmenden Männer lehnte dessen Einführung ab; 61 Prozent der Frauen sagten Ja. Das führte gesamthaft zu einer Zustimmung von 55 Prozent. Erstmals nach der Einführung des nationalen Frauenstimmrechts im Jahr 1971 entschieden die Frauen damit eine Volksabstimmung zu ihren Gunsten – gegen den Willen der Männer.
Eine ähnliche Konstellation gab es insgesamt elfmal. Die folgende Grafik zeigt, bei welchen Abstimmungen die Frauen das Ergebnis bestimmten. Angegeben ist jeweils die Differenz des Ja-Stimmen-Anteils zur 50-Prozent-Marke – in Braun bei den Männern, in Grün bei den Frauen. Je grösser die grünen Balken im Vergleich zu den braunen Balken sind, desto stärker wurde das Ergebnis vom Verhalten der Frauen geprägt.
Wie die Grafik zeigt, ist der Unterschied zwischen den Männer- und den Frauenstimmen beim Ehe- und Erbrecht mit 13 Prozentpunkten bis heute die zweitgrösste geblieben. Nur 1994, bei der Abstimmung zur Rassismus-Strafreform, war der Geschlechterunterschied noch grösser. Damals votierten 64 Prozent der Frauen für die Vorlage, 53 Prozent der Männer dagegen.
Das letzte Mal stimmten Frauen und Männer 2014 unterschiedlich ab. Beim Referendum zum neuen Kampfflugzeug setzten sich die Frauen mit einem Nein-Stimmen-Anteil von 58 Prozent gegen die Männer durch und verhinderten so den Gripen-Kauf.
Weit seltener als die Frauen entschieden die Männer mit einem eindeutigen Stimmverhalten eine Abstimmung. Die letzte solche Entscheidung datiert von 2011, damals setzten sich die Männer bei der Volksinitiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» durch und gaben mit ihren Stimmen den entscheidenden Ausschlag. Entgegen dem mehrheitlichen Willen der Frauen durfte die Ordonnanzwaffe weiterhin zu Hause aufbewahrt werden.
Am häufigsten waren sich Männer und Frauen bei gesellschafts- und sozialpolitischen Vorlagen uneinig. Weitere Differenzen ergaben sich vereinzelt bei Infrastrukturprojekten mit Service-public-Charakter oder bei Entscheiden zur staatlichen Kulturförderung. Armeevorlagen sind dagegen im Normalfall nicht besonders anfällig für unterschiedliche Geschlechtervoten.
Korrektiv bei gesellschaftspolitischen Fragen
Wie solche Differenzen zustande kommen, haben die Politikwissenschaftlerinnen Pippa Norris und Ronald Inglehart in ihrem neuen Buch mit dem Titel «Cultural Backlash» skizziert. Norris und Inglehart zeigen auf, wie die stille Revolution hin zu sozialliberalen Wertehaltungen, ausgelöst durch die Bildungsrevolution seit den 1960er-Jahren, Frauen mehr Vorteile als den Männern brachte, die zunehmend Privilegien verloren. Gebrochen wurde diese stille Revolution durch die ökonomischen Krisen ab 2008, aber auch durch die Kritik an der Zuwanderungs- und der Diversitätspolitik. Das hat sozialkonservative Einstellungen verstärkt und insbesondere bei Männern einen autoritär geprägten Backlash ausgelöst.
Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in der Schweiz beobachten – wenn auch etwas zeitversetzt. So gab es bis 1985 kein Beispiel für gegensätzliches, geschlechterspezifisches Verhalten bei Volksabstimmungen. Danach trat solches zuerst nur ausnahmsweise auf, erst nach 1994 häufte es sich deutlich. Elf von vierzehn Volksabstimmungen mit unterschiedlichen Geschlechtervoten fanden zwischen 1994 und 2014 statt. Seither gewannen Frauen nicht mehr an Entscheidungsmacht hinzu.
Ganz so still wie von Norris und Inglehart beschrieben verlief die Entwicklung in der Schweiz allerdings nicht. Zwei krasse Einschnitte in der Schweizer Politik leiteten die Neuerung im Stimmverhalten der Frauen ein: zuerst die Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen in den Bundesrat 1983, dann der Frauenstreik von 1991 mit dem unrühmlichen Nachspiel, dass die Streikführerin Christiane Brunner nicht in den Bundesrat gewählt wurde.
Beide Ereignisse brachten tiefe Brüche in die politische Kultur der Schweiz. Sie führten zur starken politischen Mobilisierung von Frauen und hatten zur Folge, dass sich bei bisher männlich geprägten Gesellschaftsfragen, aber auch in der Umwelt- und Sozialpolitik die höhere Frauenbeteiligung auf die Abstimmungsresultate auswirkten.
Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn nicht wenige Männer plädierten bei den Entscheidungen zur Einführung des Frauenstimm- und des Frauenwahlrechts 1959 und 1971 für Zurückhaltung. Nirgends auf der Welt brächten die politischen Rechte so viel Entscheidungsmacht mit sich wie in der Schweiz, argumentierten die Gegner.
Sie hatten recht. Nur führte das Frauenstimmrecht nicht dazu, dass es der Schweiz fortan schlechter ging, stattdessen förderte es die Entwicklung hin zu einer fortschrittlichen Gesellschaft mit Gesetzen gegen Rassismus und zu Sexualvergehen. Denn hätten in den letzten 34 Jahren nur Männer abgestimmt, hätte die Schweiz nicht nur ein neues Kampfflugzeug gekauft, sondern würde wohl immer noch auf einem patriarchalen Ehe- und Erbrecht sitzen, und schwerer sexueller Missbrauch von Kindern wäre weiterhin verjährbar.
Für die politische Verhaltensforschung ist die Schweiz ein Glücksfall. Seit 1977 werden alle Volksabstimmungen auf Befragungsbasis nachanalysiert. Es werden Beweggründe für die Teilnahme und die Entscheide der Schweizer Stimmbürgerinnen erfasst. Das lässt differenziertere Schlüsse zu gendertypischen Aspekten in der politischen Entscheidungsfindung zu, als es allein aus der Wahlforschung ersichtlich wird.
Claude Longchamp ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er ist Lehrbeauftragter der Universitäten Bern und Zürich, Gründer und Verwaltungsratspräsident des Forschungsinstituts GFS Bern. Während dreissig Jahren analysierte er Volksabstimmungen für das Schweizer Fernsehen. Für die Republik analysierte er zuletzt den Mythos des abgehobenen Politikers.
Was verändert sich auf die lange Sicht?
Haben Sie Anregungen zu unseren Datenbeiträgen? Wünschen Sie sich bestimmte Themen? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «Auf lange Sicht».