Impfstreit in Europa eskaliert, Korruption in der Schweiz, Google unter Druck und Reddit hebelt die Börse aus
Woche 04/2021 – das Kurzbriefing aus der Republik-Redaktion.
Von Christian Andiel, Ronja Beck, Oliver Fuchs, Simon Schmid, Cinzia Venafro und Florian Wüstholz, 29.01.2021
Der Bundesrat macht beim Klima ernst(er)
Darum geht es: Der Bundesrat hat am Donnerstag eine «langfristige Klimastrategie» verabschiedet. Darin konkretisiert er ein Ziel, welches er bereits 2019 beschlossen hat: netto null Emissionen bis 2050. Die Strategie baut auf den sogenannten Energieperspektiven 2050+ auf, einem im vergangenen November publizierten Bericht, und versteht sich auch als Antwort auf die Gletscherinitiative, welcher der Bundesrat einen direkten Gegenvorschlag entgegenhalten will.
Warum das wichtig ist: Das vergangene Jahrzehnt war das wärmste seit Messbeginn. Um eine weitere, übermässige Erwärmung zu verhindern, müssen die Treibhausgasemissionen in nützlicher Frist auf netto null gesenkt werden. Der Bundesrat hat nun im Detail aufgezeigt, wie er das erreichen will: In den Gebäuden und im Verkehr sollen bis 2050 gar keine Treibhausgase mehr ausgestossen werden; in der Industrie sollen die Emissionen gegenüber 1990 um 90 Prozent sinken und in der Landwirtschaft um 40 Prozent. Der verbleibende Ausstoss soll mit negativen Emissionstechnologien kompensiert werden. Erstmals adressiert der Bundesrat nun auch den internationalen Luftverkehr, der von der Schweiz ausgeht: Dieser soll dank synthetischen Treibstoffen und alternativen Antriebsformen ebenfalls klimaneutral werden.
Was als Nächstes geschieht: Umweltorganisationen und grüne Parteien begrüssen den Beschluss, fordern aber zugleich ein forscheres Tempo (warum das nötig ist, lesen Sie hier). Die Grünen verweisen dabei auf ihren eigenen Klimaplan, die Grünliberalen auf ihre eigene Klimastrategie. Beide Parteien streben netto null Emissionen bis 2040 an. Bevor über eine Beschleunigung diskutiert werden kann, muss die Klimapolitik dieses Jahr jedoch eine erste Hürde nehmen: Das Volk muss das CO2-Gesetz an der Urne annehmen.
Europa und Grossbritannien streiten um Impfdosen
Darum geht es: In Grossbritannien wird der Impfstoff der Firma Astra Zeneca bereits verimpft, heute Freitag wird er auch von der Europäischen Arzneimittel-Agentur zugelassen. Doch die Herstellerin kann ihre Lieferversprechen an die EU nicht einhalten. Weil die Briten gleichzeitig alle ihre bestellten Dosen bekommen sollen, ist ein heftiger diplomatischer Konflikt ausgebrochen.
Warum das wichtig ist: Der Januar 2021 weckt Erinnerungen an die chaotischen ersten Wochen der Pandemie. Damals standen die Regierungen Europas extrem unter Druck, sie schotteten sich unkoordiniert voneinander ab und horteten Schutzmaterial. Nun, da die Impfdosen knapp sind, steigt die Anspannung erneut. Diese Woche hat sich der Frust an Astra Zeneca entladen, einer britisch-schwedischen Pharmafirma, die ihre Impfung gemeinsam mit der Universität Oxford entwickelt hat. Vor einer Woche gab das Unternehmen bekannt, im ersten Quartal nur 31 Millionen statt der vereinbarten 80 Millionen Dosen an die EU liefern zu können. Seither jagt eine Krisensitzung die andere. Die Europäische Union vermutet, dass der Konzern Dosen von seinem Standort in Belgien nach Grossbritannien geliefert hat. Am Mittwoch sagte die zuständige EU-Kommissarin, alle Pharmafirmen hätten eine «moralische, gesellschaftliche und vertragliche Verpflichtung» – man akzeptiere keine Ausreden. Und die EU droht, alle Exporte von Impfstoff aus ihrem Territorium zu blockieren. Die Schweiz hat 5,3 Millionen Dosen bestellt – und es ist absehbar, dass es auch hier zu Verzögerungen kommt.
Was als Nächstes geschieht: Der Impfstreit dürfte die nach dem Brexit entstandenen diplomatischen Verwerfungen noch vertiefen. Grossbritannien wirft Brüssel vor, Astra Zeneca zu erpressen. Und eine europäische Exportblockade wäre ein Novum.
Ein Forum lässt die Börse verrückt spielen
Darum geht es: Im Verlauf der Woche gingen die Aktien mehrerer Unternehmen durch die Decke – allen voran jene der Videospiel-Kette Gamestop. Zeitweise vervielfachte sich ihr Kurs von etwa 60 Dollar auf weit über 300. Zumindest teilweise ist dafür eine koordinierte Aktion von Kleinstinvestoren verantwortlich, die sich im Internetforum Reddit zum Sturm auf die Wall Street verabredet hatten. Ein grosser Hedgefonds, Melvin Capital, fuhr durch die Aktion Milliardenverluste ein und musste notfallmässig Geld aufnehmen.
Warum das wichtig ist: Ist die Börse kaputt? Ist das legal? Erlebt die Wall Street gerade eine Revolution von unten oder ist alles in Wirklichkeit eine raffinierte Marktmanipulation? Was sich gerade in den USA abspielt, ist auf jeden Fall historisch. Die Kurzversion: Die Nutzerinnen eines Internetforums erkennen, dass sie durch eine Angebotsknappheit reich werden und professionellen Investoren gigantische Verluste bescheren können. Vereinfacht gesagt: Leerverkäufer – sogenannte short seller, oft grosse Hedgefonds – wetten darauf, dass eine Aktie an Wert verlieren wird. Also leihen sie tonnenweise Aktien und verkaufen sie zum aktuellen Preis. Verfällt der Preis, kauft der Leerkäufer vorher verkaufte Aktien günstiger wieder und gibt sie zurück. Doch nun hat ein Flashmob von Kleininvestoren in kurzer Zeit so viele Aktien gekauft, dass der Preis stieg. Viele dieser jungen Hobby-Traderinnen sehen die Aktion als Rache an den Grossen, die 2008 die Finanzkrise ausgelöst haben und dann vom Staat gerettet wurden. Mindestens ein Teil des Handels scheint aber auch von Profis angeheizt zu werden – und es ist völlig offen, wer am Schluss gewinnt. Die Börsenaufsicht ist jedenfalls beunruhigt.
Was als Nächstes geschieht: Wenige dürften Sympathien für die Hedgefonds haben, die nun panisch ihre Wetten abbrechen. Short seller erfüllen aber auch eine wichtige Funktion an der Börse: Sie verhindern, dass sie komplett überhitzt. Beobachterinnen gehen davon aus, dass die Ereignisse dieser Woche den Börsenhandel nachhaltig verändern werden – es ist unklar, ob zum Guten oder zum Schlechten.
Google bekommt Grenzen gesetzt – von innen
Darum geht es: Ende 2020 gründeten Google-Angestellte aus den USA und Kanada nach jahrelangem Kampf die Gewerkschaft «Alphabet Workers Union». Nun haben sich 13 Gewerkschaften aus 10 Ländern zusammengeschlossen – auch aus der Schweiz. Die neue Gewerkschaftskoalition «Alpha Global» fordert «fundamentale Menschenrechte für alle Arbeitenden in allen Betrieben von Alphabet». Vor allem pochen die Mitglieder auf das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren und kollektiv zu verhandeln.
Warum das wichtig ist: US-Techfirmen wie Google, Amazon oder Tesla versuchen seit Jahren, die Bildung von Gewerkschaften zu unterdrücken. Auch bei Google in Zürich sollte ein Informationsanlass für die Gründung einer Personalvertretung verhindert werden. Denn die Firmen wissen um die Macht ihrer Angestellten. Diese machten in der Vergangenheit wiederholt auf ihre Anliegen aufmerksam und zwangen die Unternehmen zu Veränderungen. So erreichten sie bei Google, dass die Zusammenarbeit mit dem US-Verteidigungsministerium im Bereich künstliche Intelligenz eingestellt wurde. Und im November 2018 protestierten weltweit 20’000 Angestellte bei einem walkout gegen Sexismus und Rassismus am Arbeitsplatz. Bei Amazon bewegten 4000 Angestellte das Management dazu, einen effizienten Klimaplan aufzugleisen.
Was als Nächstes geschieht: Die neue Gewerkschaftskoalition ist in den USA bisher noch nicht vom National Labor Relations Board anerkannt und kann Google deswegen nicht zu Verhandlungen zwingen. Der langfristige Erfolg wird nicht zuletzt an den Mitgliederzahlen zu messen sein.
Korruption: Schweiz weist «erhebliche Mängel» auf
Darum geht es: Die Nichtregierungsorganisation Transparency International vergleicht, wie korrupt Staaten und ihre Institutionen sind. Auf ihrem neuesten Index landet die Schweiz zwar gemeinsam mit Finnland, Schweden und Singapur auf Platz drei. Die NGO prangert trotzdem an: «Das gute Abschneiden der Schweiz (…) darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Schweiz die Anti-Korruptions-Bestwerte deutlich verfehlt.»
Warum das wichtig ist: Den Korruptionsindex kann man als Gradmesser der Aufrichtigkeit der Institutionen in diesen Ländern lesen. Am korruptesten sind demzufolge der Südsudan, Syrien und Somalia. Doch gemäss Martin Hilti von Transparency Schweiz weist auch die Schweiz «erhebliche Mängel» auf in Bereichen, die der Korruptionsindex gar nicht misst: insbesondere bei der Bekämpfung der Geldwäscherei, beim Schutz von Whistleblowern sowie bei der Korruption in der Privatwirtschaft und im Sport.
Was als Nächstes geschieht: Nichts. Aber Sie können den ganzen Sumpf der weltweiten Korruption hier nachlesen.
Zum Schluss: Schlagt den Embolo!
Marcel Reif war mal ein guter Fussballkommentator im deutschen Fernsehen. Manchmal fast schon originell, durchaus mit einem gewissen Fachwissen versehen (das freilich zumeist von bezahlten Experten eingeflüstert wurde), bekam Reif völlig zu Recht Preise. Das war im vergangenen Jahrhundert. Jetzt ist er 71 Jahre alt, hat den Schweizer Pass, lebt in der Nähe von Zürich und ist allgegenwärtig auf den Bildschirmen vertreten: ob Fussball, Quizshows oder anderes – gerne erklärt er uns in allen möglichen Rollen die Welt. Also seine Welt. Und in dieser ist kein Platz für Verfehlungen. Zu spüren bekam dies jüngst der Schweizer Fussballer Breel Embolo, der vermutlich an einer Party mit vielen anderen teilgenommen hat. Das ist in Pandemiezeiten – milde formuliert – dumm, unverantwortlich, riskant. Und hatte wohl auch schon entsprechende Konsequenzen in Form einer hohen Geldstrafe. Doch Reif reicht das nicht: Er fordert in einem Gespräch bei «Bild» die Prügelstrafe für Embolo. So sei das bei ihm als Fussballer früher gewesen: In der Kabine habe es eine «innere Hygiene» gegeben, bei welcher der Trainer aus der Kabine geschickt und das Radio lauter gedreht wurde. «Und dann», sagt Reif, «wurde demjenigen mitgeteilt mit relativ klaren, auch nonverbalen Mitteln, was geht und was nicht geht.» Nonverbal, oder wie Reif schelmisch sagt: «Körpersprache.» Seine Generation weiss schliesslich, dass so ein harter Schlag zur rechten Zeit aufs richtige Haupt noch niemandem geschadet hat. So hiess das damals. Immerhin ist nun gerade Reif das beste Beispiel dafür, dass die Langzeitschäden nie unterschätzt werden dürfen.
Was sonst noch wichtig war
Schweiz: Eine Recherche des «Economist» wirft neue Fragen zur Zusammenarbeit zwischen der Bundesanwaltschaft und den russischen Behörden im Fall Magnitski auf. Der Wirtschaftsprüfer, der gegen korrupte Behörden ermittelt hatte, starb 2009 im Gefängnis.
Liechtenstein: Im Fürstentum hat diese Woche der Strafprozess gegen die ehemalige Aussenministerin begonnen. Aurelia Frick wird Amtsmissbrauch vorgeworfen. Sie soll Rechnungen für Beraterdienste bezahlt haben, ohne die erforderlichen Regierungsbeschlüsse eingeholt zu haben.
Italien: Die italienische Regierung ist offiziell zerbrochen. Giuseppe Conte ist als Ministerpräsident zurückgetreten. Zunächst als Puppe der beiden Koalitionsparteien verschrien, gewann er in der Pandemie an Profil.
Deutschland: Der Verfassungsschutz prüft derzeit, ob er die gesamte AfD unter Beobachtung stellt. Diese Woche verlor die Partei eine Klage vor Gericht. Es ging darum, ob sich die Behörde vor Ende des Verfahrens über die Einstufung äussern darf.
Niederlande: Der Frust über den Lockdown und die Pandemie hat sich in den letzten Tagen in mehreren Städten auf den Strassen entladen. Unterdessen gilt eine abendliche Ausgangssperre ab 21 Uhr.
Estland: Das baltische Land wird seit dieser Woche von einer weiblichen Doppelspitze aus einer Ministerpräsidentin (Kaja Kallas) und einer Präsidentin (Kersti Kaljulaid) regiert – weltweit als einziges demokratisches Land, wenn man Monarchinnen als Staatsoberhäupter nicht mitzählt.
Uganda: Ein Gericht hat die Freilassung von Oppositionsführer Bobi Wine verfügt. Wine war nach der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Yoweri Museveni unter Hausarrest gestellt worden.
USA I: Die bekannteste afroamerikanische Fluchthelferin der Hilfsorganisation Underground Railroad soll bald einen Geldschein zieren. Harriet Tubman wird den US-Präsidenten Andrew Jackson auf der 20-Dollar-Note ersetzen.
USA II: Die meisten republikanischen Senatoren stimmten diese Woche dafür, das Impeachment-Verfahren gegen Donald Trump gar nicht erst durchzuführen. Darunter auch Minderheitenführer Mitch McConnell, der zuvor öffentlich mit der Amtsenthebung geflirtet hatte. Damit ist die Sache so gut wie erledigt.
Die Top-Storys
Der kranke Osten Keinen Kanton traf die Pandemie diesen Herbst und Winter so heftig wie St. Gallen. Der «Tages-Anzeiger» wollte wissen, warum. Entstanden ist die Geschichte einer verzahnten Kette von Verharmlosungen durch Entscheider und Meinungsmacherinnen. Harter Stoff.
Der lange Weg zurück Man gilt als genesen, aber was, wenn man sich noch immer krank fühlt? In der Höhenklinik in Davos werden Menschen behandelt, die an Long Covid leiden. Sie sind an Covid-19 erkrankt und wurden nie wirklich gesund. Sie haben Schlafstörungen, Ausschläge, können kaum mehr gehen. Die «NZZ am Sonntag» berichtet über den Kampf aus der Krankheit.
Feuer im Darm Der SRF-Moderator Robin Rehmann leidet sieben Jahre lang an der chronischen Darmerkrankung Colitis ulcerosa. 2018 entscheidet er sich, seinen entzündeten Dickdarm entfernen zu lassen. Der Entscheid birgt grosse Risiken: Einem Fünftel der Colitis-ulcerosa-Patienten geht es nach einer Operation noch schlechter als davor. Das SRF hat Robin durch einen lebensverändernden Prozess begleitet.
Illustration: Till Lauer