Auf lange Sicht

Die Schönheitsfehler im neuen Klimaplan

Der Bund zeigt in einer Studie erstmals auf, wie die Schweiz das Netto-null-Ziel bis 2050 erreichen kann. Die Berechnungen sind informativ – aber sie gehen noch immer zu wenig weit.

Von Simon Schmid, 30.11.2020

Vor einem Jahr gab Energie­ministerin Simonetta Sommaruga die Devise aus: Bis 2050 solle die Schweiz klimaneutral werden. Nun lässt der Bund diesen Worten zwar noch keine Taten, aber immerhin Zahlen folgen – in Form der «Energie­perspektiven», einer Studie mit Szenarien zur Energieentwicklung.

Diese Szenarien, die letzte Woche veröffentlicht wurden, beschreiben, wie die Netto-null-Zukunft konkret aussehen könnte: woher die Energie kommt, wie viel verbraucht wird und mit welchen Folgen fürs Klima. Mehrere Forschungs­büros waren in die Berechnungen involviert.

Das klimatechnisch wichtigste Ergebnis der Studie ist die folgende Kurve. Sie beschreibt die Treibhausgas­emissionen in der Schweiz, wie sie sich von 2000 bis heute entwickelt haben und bis 2050 entwickeln könnten – unter der Voraussetzung, dass das deklarierte Klimaziel bis dann erreicht ist.

Das Netto-null-Szenario für 2050

Treibhausgas­emissionen in der Schweiz

2000201820302040205003060 Mio. Tonnen CO₂-Äquivalente2018:47 Mio. t2050:0 t

Quelle: BFE

Die Kurve beginnt relativ unspektakulär. Das liegt daran, dass der Ausstoss von Treibhausgasen über die vergangenen zwei Jahrzehnte hinweg nur sehr schwach abgenommen hat. Doch je weiter man in die Zukunft geht, desto mehr Dynamik kommt in die Entwicklung: Ab 2025, 2030, 2040 sinken die jährlichen Emissionen deutlich schneller – bis sie 2050 null erreichen. «Zero Basis» nennen die Autorinnen denn auch das Szenario hinter dieser Kurve.

Über solch ein Szenario zu verfügen, ist für die Klima- und die Energie­politik enorm wichtig. So zeigt die Studie beispiels­weise auf,

  • dass wir Energie in Zukunft effizienter nutzen müssen (ungefähr ein Drittel des Gesamt­verbrauchs muss eingespart werden),

  • dass Autos nur noch elektrisch fahren und Häuser nicht mehr fossil beheizt werden sollten,

  • dass es dazu einen enormen Ausbau der Fotovoltaik braucht (rund 15 Mal so viele Solar­panels wie heute)

  • und dass eine Vielzahl weiterer Technologien (wie Power-to-Gas und negative Emissionen) eine Rolle spielen werden.

Wie gesagt: Dass all dies nun auf dem Tisch liegt, hilft. Nicht nur die Leute beim Bundesamt für Energie, sondern auch Unter­nehmen und nicht zuletzt Journalistinnen können sich am neuen Netto-null-Szenario orientieren.

Und trotzdem gibt es ein paar Probleme mit «Zero Basis».

1. Wir brauchen Klimaneutralität vor 2050

Eines betrifft das Zieljahr – 2050. Dieses spielt in der Klima­kommunikation eine wichtige Rolle: Schafft es die Welt, bis Mitte des Jahrhunderts ihre Treibhausgas­emissionen auf netto null zu senken, so besteht eine gewisse Chance, den Temperatur­anstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen. Angelehnt an diese Faustregel haben diverse Länder Klimaziele für 2050 beschlossen.

Gleichzeitig besteht ein Konsens, dass sich nicht alle Staaten über denselben Kamm scheren lassen. Wer bereits in der Vergangenheit mehr Treibhaus­gas emittiert hat, soll mehr zum Klima­schutz beitragen. Wer mehr finanzielle Mittel hat, ebenfalls. Beide Kriterien laufen darauf hinaus, dass Länder wie die Schweiz schon früher netto null erreichen sollten. Wie viel früher, lässt sich diskutieren – doch rund zehn Jahre sollten es nach einer verbreiteten Ansicht schon sein. Die Klimaallianz Schweiz, ein Bündnis von Organisationen aus der Zivil­gesellschaft, peilt die Klimaneutralität zum Beispiel für 2039 an.

2050 ist eigentlich schon zu spät

Treibhausgas­emissionen in der Schweiz

Energieperspektiven
Klimaallianz
200020182039205003060 Mio. Tonnen CO₂-Äquivalente2018:47 Mio. t2050:0 t2039:0 t

Quelle: BFE, Klimaallianz

Ob die Schweiz 2050 oder 2039 bei netto null Emissionen ankommt, macht einen grossen Unterschied: Im «Zero Basis»-Szenario fallen insgesamt fast doppelt so viele Emissionen an wie im «Masterplan» der Klimaallianz.

Der erste Schönheits­fehler der «Energie­perspektiven» liegt somit auf der Hand: Das Bundesamt für Energie hätte nicht nur für 2050, sondern auch für ein früheres Zieljahr ein Netto-null-Szenario berechnen lassen sollen.

2. Wo bleibt der Fortschritt?

Ein zweiter Makel offenbart sich, wenn man ein paar Jahre zurückgeht – bis 2012, zur vorherigen Edition der «Energieperspektiven». Damals existierte zwar noch kein erklärtes Netto-null-Ziel, aber es wurde ebenfalls eine Reihe von Szenarien erstellt. Das anspruchs­vollste hiess «Neue Energiepolitik».

In den acht Jahren seither hat sich die Energie­landschaft drastisch verändert. Die Kosten für Solar- und Windenergie sind stark gefallen; Kohlestrom ist im Begriff, von der Bildfläche zu verschwinden; Elektroautos starten durch. Trotzdem hat sich der CO2-Ausstoss im neuen «Zero Basis»-Szenario gegenüber der «Neuen Energie­politik» von 2012 nicht merklich verändert.

Das gilt besonders für den Ausstoss in den kommenden zwei Jahrzehnten: Sowohl im alten als auch im neuen Zahlen­werk wird die Menge an CO2, die in Haushalten, in Unter­nehmen und im Verkehr ausgestossen wird, fürs Jahr 2040 mit 12 Millionen Tonnen angegeben. Die neuen «Energie­perspektiven» sind, was die nähere Zukunft anbelangt, also kaum optimistischer als die Vorversion – trotz rapidem technologischem Wandel in der Zwischenzeit.

Viel hat sich nicht verändert seit 2012

Energiebedingte CO2-Emissionen in der Schweiz

Energieperspektiven
Alte Perspektiven (2012)
200020182040205002040 Mio. Tonnen CO₂-Äquivalente2018:31 Mio. t2040:12 Mio. t

Alte Perspektiven: CO2-Emissionen der Industrie, Dienst­leistungen, Haushalte und Verkehr im Szenario «Neue Energiepolitik». Neue Perspektiven: Energiebezogene Treibhausgas­emissionen (ohne Landwirtschaft und Energie­umwandlung) in «Zero Basis». Die energiebedingten CO2-Emissionen sind eine Teilmenge der gesamten Treibhausgas­emissionen. Quelle: BFE, BFE

Man könnte sagen: Toll, dass die Forschung schon vor acht Jahren so gut war, dass sie nicht revidiert werden muss. Doch wenn die «Energie­perspektiven» der Klimapolitik wirklich den Weg weisen wollen, müssen sie ambitionierter werden und Fortschritte bereits in naher Zukunft einkalkulieren – nicht erst im Jahrzehnt von 2040 bis 2050, wenn es fürs Klima schon fast zu spät ist.

3. Netto ist nicht gleich brutto

Dass starke Veränderungen erst kurz vor Mitte des Jahrhunderts eintreten, fällt in den neuen «Energie­perspektiven» auch an einer weiteren Stelle auf: bei den Massnahmen, die helfen, den Restausstoss zu kompensieren, der sich nicht ganz eliminieren lässt – bei den sogenannten negativen Emissionen.

Konkret geht es hier um zwei Verfahren:

  • Die Forscher gehen etwa davon aus, dass Kehricht­verbrennungs­anlagen und Zement­werke mit Carbon-Capture-and-Storage-Modulen aufgerüstet werden, also mit Technologie, die Kohlen­dioxid wieder einfängt. Entsteht dieses aus der Verbrennung nachwachsender Rohstoffe wie Holz oder Bioabfall, so resultiert dadurch eine CO2-Senke.

  • Weiter soll CO2 mit Direct-Air-Capture-Anlagen aus der Luft abgesaugt und anschliessend unter dem Erdboden in geeigneten geologischen Lager­stätten gespeichert werden – teils im Inland, teils im Ausland.

Diese negativen Emissionen schlagen im «Zero Basis»-Szenario im Jahr 2050 mit 12 Millionen Tonnen pro Jahr zu Buche. Das ist eine bedeutende Menge: Sie entspricht einem Viertel des gesamten heutigen Ausstosses.

Netto null dank Kompensierung

Treibhausgasemissionen in der Schweiz

Positive Emissionen
Negative Emissionen
Netto-null-Pfad
2000201820402050−2003060 Mio. Tonnen CO₂-Äquivalente2050:−12 Mio. t2018:47 Mio. t2050:12 Mio. t

Quelle: BFE

Negative Emissionen sind an und für sich nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Sie werden in der weltweiten Klimapolitik in Zukunft eine grosse Rolle spielen. In fast allen globalen 1,5-Grad-Szenarien kommen negative Emissionen vor.

Doch man muss sich bewusst sein, dass negative Emissionen nicht gratis sind. Bei Carbon Capture and Storage sprechen die Studien­autorinnen von künftigen Kosten von 100 Franken pro Tonne CO2 (hinzu kommen noch Transportkosten), bei Direct Air Capture von 270 Franken pro Tonne. Überschlagsmässig gerechnet bedeutet das, dass die Schweiz Mitte des Jahrhunderts 1,5 bis 3 Milliarden Franken für negative Emissionen ausgibt.

Negative Emissionen kaschieren daneben auch eine weitere Tatsache: dass auch in der Netto-null-Welt noch bedeutende positive Emissionen anfallen.

4. Die Landwirtschaft kommt nicht vom Fleck

Analog zu den negativen Emissionen geht es um 12 Millionen Tonnen CO2. Inbegriffen darin sind gewisse Emissionen, die bei der Verbrennung von fossilem Kehricht oder in der Industrie entstehen, etwa durch das Entweichen von Lösungs­mitteln. Und – zu einem bedeutenden Anteil – in der Landwirtschaft.

Hier verfügt die Schweiz – anders als im Verkehr oder fürs Heizen – offenbar nicht über Ideen, wie sie die Treibhausgas­emissionen signifikant senken will. Gemäss den «Energie­perspektiven» sinken diese nur gerade um 20 Prozent: von aktuell 6 auf 4,8 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente im Jahr 2050.

Landwirtschaft als ungelöstes Problem

Treibhausgasemissionen in der Schweiz

Tatsächliche Emissionen
davon: Landwirtschaft
20002018205003060 Mio. Tonnen CO₂-Äquivalente2018:6 Mio. t2050:5 Mio. t

Quelle: BFE

Die Landwirtschaft entwickelt sich in der Schweizer Klimabilanz damit zum grössten Problem­posten. Verantwortlich dafür sind das Methan, das Rinder bei der Verdauung produzieren, und das Lachgas, das aus der Gülle entweicht. Wie sich die Emissionen dieser beiden Treibhaus­gase vermindern lassen, müsste der Bund bald aufzeigen. Die aktuelle Klima­strategie für die Landwirtschaft datiert aus dem Jahr 2011 und braucht eine Überarbeitung.

Ähnliches gilt für den Flugverkehr. Je näher wir dem Jahr 2050 kommen, desto grösser wird sein Stellenwert in der Klima­bilanz werden. Anders als die Landwirtschaft sind die internationalen Flugreisen ab Zürich, Genf und Basel in der nationalen Emissions­buchhaltung aber nicht einmal erfasst.

Sie werden daher auch im Netto-null-Szenario, das der Bund hat ausarbeiten lassen, nicht berücksichtigt. Kommt es in der Luftfahrt nicht bald zu einer eigentlichen Klimarevolution – etwa durch den Einsatz von synthetischen Treibstoffen, die allesamt aus dem Ausland geliefert werden müssten –, so bleibt dies der grösste Schönheits­fehler im Schweizer Klimaplan.