Die Welt von morgen
Welche Lehren werden wir aus der Pandemie ziehen? Sicher ist nur: Mit dem Lehrenziehen haben wir unsere Schwierigkeiten.
Von Daniel Binswanger, 02.01.2021
Was kommt nach Corona? Leider ist das nur bedingt die Frage, die wir uns bereits zu diesem Jahreswechsel stellen sollten. Die Schweiz hat die Schwelle von 7000 Toten überschritten. Shoppingcenter und die offenen Skigebiete erleben einen Massenansturm, der Bundesrat jedoch ergreift keine weiteren Massnahmen. Die dritte Welle, die uns nicht mit Sicherheit, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Wochen erfassen wird, birgt das Risiko, dass die ohnehin schon viel zu hohen Infektions- und Todeszahlen noch einmal nach oben gehen. Der Albtraum ist nicht vorüber. Offensichtlich gehen unsere Behörden den «Schweizer Weg» bis zum bitteren Ende.
Fragen wir dennoch: Was wird kommen im nächsten Herbst, wenn grössere Teile der Bevölkerung geimpft sein dürften? Der Tunnel ist noch lang und rabenschwarz. Aber wie präsentiert sich die Welt im Licht an seinem Ende?
In einem gewissen Sinn ist die Corona-Pandemie weniger eine äussere Katastrophe, die über die Menschheit hereingebrochen ist, als ein Brandbeschleuniger ihrer selbst verschuldeten Miseren. Dafür, schwere Krisen zu nutzen, um strukturelle Kurskorrekturen vorzunehmen, zeigt der heutige Spätkapitalismus bisher leider wenig Talent.
Jedenfalls ist das der Schluss, den wir aus der letzten globalen Krise ziehen müssen, der sogenannten Finanzkrise, die im Jahr 2008 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Das Schlimmste, nämlich eine globale Depression, konnte zwar vermieden werden, aber der wirtschaftliche Einbruch war heftig und längerfristig nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch (Trump, Brexit) von enormer destruktiver Kraft.
Der zentrale Fehler der damaligen Krisenbewältigung lag darin, dass er geldpolitisch und nicht durch Staatsausgaben vollzogen wurde. Die Staatsschulden sind zwar in den meisten Ländern gestiegen, aber die Steuerlast wurde eher gesenkt und die öffentlichen Haushalte wurden mit brutalen Austeritätsmassnahmen stabilisiert. Gleichzeitig profitierte das Finanzsystem von einer nie da gewesenen Geldschwemme und wurde die Erholung durch endlose Kreditexpansion gefördert.
Wenigstens eine partielle Ausnahme zu dieser Bewältigungsstrategie bildete China: Es hat damals das mit Abstand grösste staatliche Stimulus-Programm aufgelegt und hat sich anstatt mit blossem Notenbankgeld mit massiven Infrastrukturinvestitionen über den Wirtschaftseinbruch hinweggeholfen. China hat die Finanzkrise schneller überwunden als die westlichen Industriestaaten. Schon mit der letzten Krise hat sich das globale Gleichgewicht zugunsten von Asien verschoben. Die Corona-Krise wird diese Entwicklung noch einmal spektakulär verstärken.
Der Ökonom Branko Milanović hat in einem Republik-Gespräch darauf hingewiesen, dass der westliche Führungsanspruch angesichts seiner gegenüber dem autoritären chinesischen Kapitalismus so katastrophalen Pandemiebilanz massiv beschädigt wird. Die «Financial Times» hat inzwischen eindrückliche Zahlen veröffentlicht, die zeigen, wie weit der westliche Prestigeverlust in den Augen der Weltbevölkerung schon heute geht. Wie stark sind die politischen Kräfte überhaupt noch, welche die Vormacht des liberalen Verfassungsstaates gegenüber autoritären Regierungssystemen entschieden verteidigen werden? Welche in einer Pandemiesituation das staatliche Handeln durchsetzen, das Bevölkerung und Wirtschaft wirkungsvoll schützt? In der Post-Corona-Welt wird sich diese Frage noch dringlicher stellen als zuvor.
Zwar werden in dieser Krise deutlich höhere Staatsausgaben getätigt, um die Lage in den Griff zu bekommen. Gegen 25 Milliarden Franken oder rund 4 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) dürfte die Pandemie im Jahr 2020 den Schweizer Staat gekostet haben: eine grosse, aber unter dem Strich immer noch überschaubare Summe. Dem steht die Bilanzausweitung der Schweizerischen Nationalbank gegenüber, die sich mittlerweile auf rund 1000 Milliarden oder rund 140 Prozent des BIP beläuft. Der Löwenanteil dieses riesigen Betrags wurde für Devisenkäufe eingesetzt und nicht, wie in anderen Ländern, zur Monetarisierung der Staatsschulden. Wir bleiben auch in dieser Krise auf einem zerstörerischen Weg der staatlichen Askese und des geldpolitischen Überschwangs.
Das ist besonders deshalb fatal, weil die Mischung von expansiver Geldpolitik und staatlicher Austerität die Ungleichheit immer mehr verstärkt. Die Ungleichheit hat seit Jahrzehnten weltweit zugenommen und wird sich durch Corona noch einmal verschärfen. Es ist auch die Ungleichheit, die einen massiven Beitrag dazu leistet, dass die Todeszahlen in vielen Ländern so hoch sind. Es sind die unteren Einkommensschichten, die besonders hohen Risiken ausgesetzt werden, besonders häufig erkranken und besonders häufig sterben. Auf Kosteneffizienz gepolte Gesundheitssysteme und Altersheime tun ein Übriges, um die Krisenbewältigung zu erschweren. Die Ungleichheit ist eine der fundamentalen Herausforderungen für die heutigen Demokratien. Corona hat diesen Missstand auf dramatische Weise bestätigt – und weiter verschärft.
Etwas Ähnliches gilt für die Globalisierung. Sie führt zu freiem Warenverkehr und offenen Grenzen, aber auch zu einer Schwächung der staatlichen Kontrolle und Handlungsmöglichkeiten. Die Globalisierung hat uns die blitzschnelle Ausbreitung eines Krankheitserregers rund um den Globus beschert, während zugleich die Defizite der internationalen Kooperation und die Unfähigkeit zu koordiniertem solidarischem Handeln schmerzlicher denn je bemerkbar geworden sind.
Corona wird ohne Zweifel zu einer gewissen Entflechtung der Volkswirtschaften führen. Zur Repatriierung bestimmter Produktionszweige, zur Verkürzung essenzieller Lieferketten, zu einer Reaffirmierung nationalstaatlicher Interventionsmöglichkeiten. Viel wichtiger wäre allerdings das Gegenteil: gemeinschaftliche Eindämmungsstrategien (etwa in Europa), verstärkte Solidarität (etwa bei der internationalen Zuteilung von Impfstoffen), verstärkter suprastaatlicher Informationsaustausch. Ein globales Virus müsste die Weltgemeinschaft zusammenwachsen lassen. Die Antwort aber dürfte verstärkte Deglobalisierung sein.
Schliesslich und endlich lässt die Pandemie nicht den geringsten Zweifel daran, dass die wichtigste politische Herausforderung der Zukunft nicht mehr darin liegen wird, wie die Menschheit mit sich selbst ins Reine kommt. Das Virus ist eine exogene Macht. Oder anders gesagt: ein Umweltproblem.
Die Parallelen zur Klimapolitik sind offenkundig. In der Pandemiebekämpfung wie in der Klimapolitik muss die Politik aufgrund von wissenschaftlichen Prognosen weitreichende Entscheidungen treffen, in der Gegenwart handeln, um künftige Schäden abzuwenden, wirtschaftlich extrem kostspielige Massnahmen ergreifen, die sich rechnen, aber erst auf lange Sicht. Nur dass in der Klimapolitik die Zeithorizonte viel länger und die Einsätze viel höher sind. Die westlichen Demokratien sind in der Corona-Krise mehrheitlich daran gescheitert, zwei, drei Monate vorauszublicken. Das stimmt einen nicht optimistisch bezüglich ihrer Fähigkeit, in den nächsten zwei, drei Jahrzehnten die Klimakrise effektiv zu meistern.
Sitzt uns diese Katastrophe tief genug in den Knochen, dass wir aus ihr wirklich lernen? Dass wir die Verteilungsprobleme, welche die heutigen Demokratien bedrohen, entschiedener angehen? Dass wir den Staaten die nötige Handlungsfähigkeit restituieren? Dass wir mit der Umwelt und mit epidemiologischen Externalitäten einen rationalen Umgang finden? Oder werden wir auch diese Krise aussitzen und warten, bis die nächste kommt? Bis autoritäre Regierungsformen dem liberalen Verfassungsstaat den Rang schliesslich abgelaufen haben?
Das sind die Fragen, die sich nun stellen. Die Antwort liegt in unserer Hand. Zu überzogenem Optimismus besteht kein Anlass.
Illustration: Alex Solman