«Es ist wie in einer Kriegssituation: Zählt man Tausende von Corona-Toten, werden sie zu einer indifferenten statistischen Grösse», sagt Branko Milanović. Apu Gomez/AFP/Getty Images

«Unsere Weltsicht müsste eigentlich in ihren Grund­festen erschüttert werden»

Warum Peking in dieser Pandemie schafft, woran Washington kläglich scheitert, was Chinas Kapitalismus vom westlich-amerikanischen Modell unterscheidet, und wohin die Rivalität der beiden Systeme führen könnte: ein Gespräch mit dem Ökonomen und Ungleichheits-Experten Branko Milanović.

Von Daniel Binswanger, 03.10.2020

Er ist der Erfinder der «Elefanten­kurve», der weltweit führende Experte für Ungleichheit im globalen Mass­stab, ein knochen­trockener Statistiker. Vor allem aber ist Branko Milanović ein Mann mit einem nüchternen Blick. Er will die Welt beschreiben, wie sie ist – inklusive ihrer dunklen Seite.

Das hat der Spezialist für globale Ungleichheit zum Beispiel mit der Elefanten­kurve getan. Sie bildet ab, welche Wohlfahrts­fortschritte die verschiedenen Einkommens­kategorien rund um die Welt gemacht haben. Die gute Nachricht: Die untersten Einkommen haben in der Globalisierung im Durch­schnitt stark zugelegt. In China und Indien sind Hunderte Millionen Menschen aus bitterster Armut zu relativem Wohlstand aufgestiegen.

Die schlechte Nachricht: Die Unter­schichten in den Industrie­ländern haben stagniert. In Japan, Deutschland oder den USA haben die niedrigen Einkommens­klassen von der Globalisierung praktisch gar nicht profitiert. Die äusserst ambivalente Nachricht: Der Rüssel des Elefanten geht steil nach oben. Die obersten Einkommens­kategorien haben in den westlichen Ländern sehr stark profitiert und alle andern abgehängt. Ist diese Entwicklung nachhaltig? Was macht sie mit der Gesellschaft? Im globalen Massstab? In den westlichen Demokratien und in den Schwellenländern?

Diesen Fragen geht Milanović in seinem neuen Buch «Kapitalismus global» auf den Grund. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, so die Ausgangs­hypothese, wird der ganze Globus von einem einzigen Wirtschafts­system dominiert: dem Kapitalismus. Er bildet heute den Rahmen für die gesellschaftliche Entwicklung, im Guten wie im Bösen. Ist das wünschens­wert? Ist es nachhaltig? Und ist es wirklich alternativlos? Die Republik hat Milanović zum Gespräch getroffen.

Herr Milanović, Sie gehen von zwei Typen des Kapitalismus aus: dem amerikanisch-westlichen und dem chinesischen. Kann man denn davon reden, dass China ein kapitalistisches Land ist? Muss man nicht von einem autoritären Regime sprechen?
China ist kapitalistisch, da gibt es gar keinen Zweifel. Ich gehe von der klassischen Definition des Kapitalismus aus, die drei Merkmale umfasst: Die Produktions­mittel sind mehrheitlich in Privat­besitz, der grösste Teil der Arbeit wird als bezahlte Lohn­arbeit verrichtet, und die Steuerung der Wirtschaft erfolgt dezentral. China erfüllt alle diese drei Kriterien, nicht zu 100 Prozent, aber relativ weitgehend. Wenn man die Kenn­zahlen anschaut, ist China heute in etwa so kapitalistisch wie die Türkei oder Frankreich in den 1980er-Jahren. Natürlich hat China einen starken Staat, der ins Wirtschafts­leben eingreift. Wir sollten aber nicht vergessen, dass die meisten kapitalistischen Länder bis vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls wirtschafts­politisch eine viel aktivere Rolle spielten.

«Bis zu ein Drittel der Zunahme von Ungleichheit erklärt sich aus einem veränderten Paarungs­verhalten»: Branko Milanović. Cristofari/Contrasto/laif

Zum Beispiel?
Nehmen Sie die Niederlande, die über eine staatliche Wirtschafts­planungs­kommission verfügten. Oder Frankreich mit seinem für die Wirtschafts­politik ganz zentralen Commissariat général du Plan, das vorwiegend «indikative Planung» betrieb, also Ziele definierte, die durch die richtige Lenkung privat­wirtschaftlicher Initiativen erreicht werden sollten. Seit der Reagan/Thatcher-Wende neigen wir dazu, diese Spielart des Kapitalismus zu vergessen, aber niemand würde bestreiten, dass die Staaten West­europas in der Nachkriegs­zeit kapitalistisch waren. Allerdings betrifft der Unterschied zwischen China und den westlichen Staaten nicht nur die wirtschaftliche Ebene.

Der Unterschied ist politischer Natur?
Das chinesische System ist autoritär. Oder anders gesagt: Sein Kapitalismus ist nicht liberal, sondern, wie ich das in meinem Buch nenne, ein «politischer Kapitalismus». Hier liegt ein grundsätzlicher Unter­schied zum westlichen demokratischen System. Und das hat auch wirtschaftliche Folgen: In China gibt es zum Beispiel keine Rechts­sicherheit, darf es auch gar keine Rechts­sicherheit geben, weil Rechts­staatlichkeit die Macht der staatlichen Verwaltung einschränken würde. Die Rechts­unsicherheit richtet zwar wirtschaftlichen Schaden an, weil sie zu endemischer Korruption führt, aber das hat China nicht daran gehindert, eine extrem leistungs­fähige Form des Kapitalismus auszuprägen. Eines politischen, autoritären Kapitalismus – oder wie immer Sie es nennen wollen.

Geschichtsstunde in der Provinz Jiangsu: «China braucht ein ideologisches Package. Sonst kann es seine Rolle als Grossmacht nicht spielen.» STR/AFP/Getty Images

Was ist mit dem kommunistischen Erbe?
Ein wichtiger Grund, weshalb man zögert, China als kapitalistisch zu bezeichnen, liegt darin, dass es von einer Partei beherrscht wird, die sich aus historischen Gründen «kommunistisch» nennt. Aber die chinesische KP hat im Lauf ihrer Geschichte so einige Namen getragen – und das heutige China hat mit dem real existierenden Sozialismus etwa sowjetischer Prägung oder gar einem kommunistischen Regime rein gar nichts zu tun. Allerdings ist es frappierend, wie die amerikanische Presse in den letzten Monaten versucht hat, den Handels­konflikt zwischen den USA und China wieder zu einem welt­anschaulichen Konflikt zu stilisieren. Die Kommunistische Partei Chinas ist plötzlich zu einem dominanten Thema in der Bericht­erstattung geworden. Es heisst jetzt häufig «Die Kommunistische Partei hat beschlossen» und nicht «China hat beschlossen». Natürlich kommt es schon seit längerem zu ernst­haften Spannungen, aufgrund der Auseinander­setzung um Hongkong oder der brutalen Unter­drückung der Uiguren. Doch die Ideologisierung des Konfliktes hat sich in jüngster Zeit stark intensiviert.

Wird nicht auch China selbst­bewusster und aggressiver gegenüber dem Westen?
Das lässt sich schon länger feststellen. Nur schon die «Belt and Road»-Initiative, mit der China seine Handels­routen nach Europa und Afrika ausbaut, ist ein Symptom dieses neuen Sendungs­bewusstseins. Aber es handelt sich um ein präventives Sendungs­bewusstsein. China hat begriffen, dass es nur dann seine Rolle als führende Grossmacht spielen kann, wenn es dem Rest der Welt ein ideologisches Programm vermittelt, für das es steht. Sonst wird es gegenüber den USA permanent in der Defensive bleiben.

Und was ist das für ein Programm?
Das ist unklar – und für China ein Problem. Das chinesische System ist eine wilde Kombination aus der sehr besonderen, lokalen Zivilisations­geschichte, der Macht­eroberung durch die Kommunistische Partei und dem Jahrhundert-Reform­programm von Deng Xiaoping. Das lässt sich schlecht exportieren. China wird aber dennoch in diese Richtung gedrängt, weil es sonst nicht aus seiner Defensiv­position herauskommt gegenüber den USA, die ein ideologisches Package anbieten können, das überall auf der Welt verstanden wird und an den Mann gebracht werden kann. Deshalb wird sich der ideologische Konflikt zwischen den beiden führenden Mächten wohl weiter verschärfen. Auch China braucht ein ideologisches Package. Sonst kann es seine Rolle als Grossmacht nicht spielen.

Im Vorwort Ihres Buches weisen Sie auf eine verstörende Tatsache hin, die nicht ohne Folgen bleiben dürfte für die System­rivalität zwischen China und den USA. Die autoritäre Volks­republik ist bisher insgesamt erfolgreich im Umgang mit der Pandemie. Die demokratischen USA hingegen sind nicht willens oder unfähig, die Bevölkerung zu schützen.
Das ist bemerkenswert. Man muss jedoch hinzufügen, dass die Bilanz der Corona-Bewältigung durch demokratische Systeme verglichen mit autoritären nicht eindeutig ist. Taiwan und Südkorea haben sich ebenfalls sehr gut geschlagen. Auf der Seite nicht demokratischer, aber erfolg­reicher Länder kann man auch Vietnam oder Singapur verbuchen. China war insgesamt extrem erfolgreich, obwohl die Vertuschungs­versuche in der ersten Phase der Epidemie grossen Schaden angerichtet haben. Unsere Weltsicht müsste eigentlich in ihren Grund­festen erschüttert werden: Das Regime in Peking hätte sich nach unseren traditionellen Erwartungen an strategischen Zielen ausrichten, dem Vermeiden von Toten eine untergeordnete Wichtigkeit beimessen, alles daransetzen sollen, dass die Wirtschafts­tätigkeit nicht behindert wird. Man hätte davon ausgehen können, dass Peking die Krise ohne Rücksicht auf Verluste einfach abwettert. Die amerikanische Gross­macht hingegen, die auf freien Wahlen, Rechts­staatlichkeit und dem Mehrheits­prinzip beruht, würde – so die plausible Prognose – grösst­mögliche Anstrengungen unternehmen, um die breite Bevölkerung so weit als möglich zu schützen. Aber es hat sich gezeigt, dass die USA völlig unfähig sind, mit dieser Krise umzugehen. Nicht nur unfähig, sondern auch unwillig.

Woran machen Sie das fest?
Die Anti-Corona-Strategie der US-Regierung ist eigentlich auf dem Niveau der Vorkehrungen gegen die Spanische Grippe im Jahr 1918. Vielerorts sind zentrale Massnahmen wie das Masken­tragen freiwillig, die Reise­freiheit innerhalb der USA ist nach wie vor uneingeschränkt. Zwar gibt es Tests, aber die Test­infrastruktur ist ungenügend und viel zu langsam. Contact-Tracing ist quasi inexistent. Jeden Tag sterben 1000 Menschen – das Äquivalent von vier abgestürzten Jumbojets –, derzeit eher etwas weniger.

Kundin und Angestellte vor einem Supermarkt in Pennsylvania: «Die Anti-Corona-Strategie der US-Regierung ist eigentlich auf dem Niveau der Vorkehrungen gegen die Spanische Grippe im Jahr 1918.» Michael Bryant/The Philadelphia Inquirer via AP/Keystone

Wie beurteilen Sie die Reaktion der Bevölkerung auf den Unwillen der US-Regierung, sie zu schützen?
Die horrende Situation wird mit erstaunlicher Gleich­gültigkeit hingenommen, die Bevölkerung ist abgestumpft. Jeden Morgen schaue ich mir die neue Opfer­zahl an. Wenn sie vierstellig ist, ist es ein schlechter Tag. Liegt sie tiefer, fühlt es sich inzwischen okay an. Es ist wie in einer Kriegs­situation: Zählt man Tausende von Toten, werden sie zu einer indifferenten statistischen Grösse. Diese verblüffende Gleich­gültigkeit gegenüber so viel Leid und Tod sollten wir jedoch von einem demokratischen Land nicht erwarten. Das chinesische System hingegen zeichnet sich zwar nicht unbedingt durch Humanismus und Empathie, dafür aber durch den Kult der Effizienz aus. Und die Chinesinnen wollen nicht nur hohe Wachstums­raten, sondern auch niedrige Todes­zahlen. Das Resultat wird geliefert.

Was hat die amerikanische Demokratie daran gehindert, zu liefern?
Dafür gibt es natürlich eine Vielzahl von Gründen, aber primär ist es Regierungs­versagen. Die Trump-Administration hat bekanntlich fast alles falsch gemacht, was sie falsch machen konnte. Das ist nicht gänzlich überraschend, aber das Regierungs­versagen geht viel weiter.

Über das Versagen der Trump-Regierung hinaus?
Nehmen wir das Beispiel des Bundes­staates Kalifornien. Kalifornien wird demokratisch regiert, ist wohl der linkste Staat der USA und kann in vielerlei Hinsicht als wegweisend gelten. Es gibt eine drakonische Regulierung der Müll­trennung, und auch bei der korrekten amtlichen Sprach­regelung für LGBT People ist Kalifornien sehr progressiv. Als die Corona-Krise ausbrach, reagierte Kalifornien zunächst proaktiv und vernünftig. Die Todes­zahlen blieben tief. Aber dann setzte der Druck der Wirtschaft für eine schnelle Lockerung der Massnahmen ein. Die Regierung gab nach, und die Zahl der Toten schoss nach oben. Die entscheidende Frage ist: Wer stirbt? Sehr stark konzentrieren sich die Todes­fälle in Kalifornien unter den Latinos, den sogenannten essential workers, die häufig illegal im Land sind, kein Englisch sprechen, das Stimm­recht nicht besitzen und schlecht bezahlte, prekäre Jobs machen. Die Mehrheit der Bevölkerung kümmert sich nicht um die hohen Todes­zahlen, ganz einfach, weil sie davon wenig betroffen ist. Das dürfte auch die Erklärung sein für die Gleich­gültigkeit des politischen Systems – auch in einem progressiven Staat wie Kalifornien.

Der politische Kapitalismus erweist sich gegenüber dem demokratischen Kapitalismus also als überlegen bei der Bewältigung der Pandemie, jedenfalls im Fall von China und den USA. Aber auch im chinesischen System stellen Sie bedrohliche Defizite fest: Sie sagten vorhin, die Korruption sei keine punktuelle Schwäche, sondern – ein Wesenszug.
China ist kein Rechts­staat und kann das auch nicht sein. Die chinesischen Behörden müssen, wie ich bereits ausführte, jederzeit die Möglichkeit haben, diskretionäre Entscheide zu treffen, nach freiem Ermessen ins Wirtschafts­leben einzugreifen. Sie müssen sich die Möglichkeit vorbehalten, gewisse Akteurinnen zu bestrafen und andere zu bevorzugen, bestimmte Firmen zu fördern und andere zur Aufgabe zu zwingen. Das Handeln der Behörden unterliegt einem Imperativ der Effizienz – es soll das Wachstum fördern –, aber nicht der Rechts­staatlichkeit. Und wo es keine Rechts­staatlichkeit gibt, sind der Korruption Tür und Tor geöffnet.

Disneyland-Vergnügungs­park in Shanghai: «China ist heute in etwa so kapitalistisch wie die Türkei oder Frankreich in den 1980er-Jahren.» Hector Retamal/AFP/Getty Images

Wie bedrohlich ist die Korruption für Chinas Erfolg?
Natürlich ist die Korruption eine Bedrohung für das politische System und für die wirtschaftliche Prosperität, aber solange sie ein bestimmtes Mass nicht übersteigt, kann man sich damit arrangieren. Periodisch lanciert das Regime Anti-Korruptions-Kampagnen, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen, aber das bedeutet nicht, dass die Korruption verschwinden wird. Die chinesische Führung ist sich bewusst, dass die Korruption eine ihrer grossen Verwundbarkeiten darstellt und dass das Regime durch sie auch zu Fall kommen könnte, so wie die Kuomintang-Herrschaft in den 1930er-Jahren. Es ist schwer vorauszusagen, ob die Regierung das Problem der Korruption langfristig im Griff behalten wird oder nicht. Und es gibt eine zweite, existenziell bedrohliche Heraus­forderung für das Regime in Peking: die Ungleichheit.

Sie gehen davon aus, dass die Nachhaltigkeit des Kapitalismus von der Entwicklung der Ungleichheit abhängen wird.
Aus meiner Sicht spielt die Ungleichheit die entscheidende Rolle. Man mag mir vorwerfen, dass das auch damit zu tun hat, dass Ungleichheit das makro­ökonomische Gebiet ist, auf dem ich mich am besten auskenne. Aber ich bin überzeugt, dass die Ungleichheit tatsächlich die Schlüssel­frage ist für die Haltbarkeit eines Wirtschafts­systems. In Zentrum steht dabei nicht das Problem der Korruption, welche Ungleichheit anheizt und gleichzeitig durch sie favorisiert wird, sondern dass hohe Ungleichheit, sowohl im politischen Kapitalismus als auch im liberalen Kapitalismus, sich über die Generationen hinweg reproduzieren kann. Sie führt zur Heraus­bildung einer quasi-aristokratischen Oberschicht, die sich von Generation zu Generation weiter konsolidiert. Ungleichheit erschöpft sich nicht darin, dass ein kleiner Teil der Bevölkerung sehr viel Geld hat. Sie charakterisiert sich dadurch, dass sich die Privilegien auf Kinder und auf Kindes­kinder ausdehnen. Wenn dieser Zustand zu lange anhält, wird das Versprechen von Chancen­gleichheit und demokratischer politischer Gestaltungs­macht hinfällig. Dann wird das Fundament des politischen Systems bedroht.

Sie sagen, damit der chinesische Staat gegenüber den ökonomischen Eliten die Oberhand behält, muss er die Prinzipien der Rechts­staatlichkeit unterlaufen. Kann man das Argument nicht umdrehen und sagen: Weil die USA ein Rechts­staat sind, ist das politische System gegenüber den ökonomischen Eliten zu machtlos geworden?
Was wir auch in den USA beobachten können, ist, dass die Reichtums­eliten zunehmende politische Macht erobern, häufig, indem sie das Medien­system kontrollieren. Rufen wir uns in Erinnerung, dass der reichste Mann der Welt, Jeff Bezos, die wohl prestige­trächtigste und wichtigste Zeitung der Welt, die «Washington Post», einfach schnell mal gekauft hat. Wirtschaftliche Macht lässt sich in politische Macht umsetzen, dafür gibt es in den USA immer mehr Beispiele. Parallel dazu werden politische Dynastien wichtiger: die Clintons, die Bushs und bald ja vielleicht die Trumps.

Aber auch in China wird politische Macht vermehrt über die Generationen hinweg vererbt.
In China gibt es zunehmend das Phänomen der princelings, der Söhne und Töchter wichtiger Verantwortungs­träger, die zu riesigem Reichtum oder auch zu politischer Macht kommen. Der Vater von Xi Jinping war ein einfluss­reiches Regierungs­mitglied, das Gleiche gilt beim einstigen Hoffnungs­träger Bo Xilai. Auch das chinesische System prägt aristokratische Züge aus.

Chinas Präsident Xi Jinping und US-Präsident Donald Trump auf einem Mauerbild in Berlin. Omer Messinger/EPA/Keystone

Das heisst, es gibt so etwas wie eine Konvergenz zwischen dem amerikanischen und dem chinesischen Kapitalismus?
In dieser Hinsicht – der Konsolidierung einer immer konkurrenz­freieren Ober­schicht – vielleicht schon. Grundsätzlich sollten wir uns aber von der Vorstellung einer System­konvergenz zwischen China und dem Westen, die in den 1990er-Jahren so populär war, definitiv verabschieden. Die Vorstellung, dass die liberalen Demokratien auf einem unaufhaltsamen welt­historischen Sieges­kurs sind, hat sich als naiv erwiesen. Ich glaube allerdings auch nicht, dass die Konvergenz mit dem gegenteiligen Richtungs­sinn stattfinden wird und sich die USA der Volks­republik annähern werden. Im Gegenteil: Wir werden auch in Zukunft eine Pluralität kapitalistischer Systeme haben, demokratische und autoritäre Systeme und hybride Zwischenstufen.

Sie weisen allerdings auf eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der post­kommunistischen und der westlichen Gross­macht hin. Sie sagen: Beide haben keine überzeugende Theorie der geschichtlichen Entwicklung. Das liberale Weltbild ist ausserstande zu erklären, weshalb der globalisierte Kapitalismus Anfang des 20. Jahr­hunderts zusammen­brach und in den Ersten Weltkrieg führte. Umgekehrt hat das kommunistische Geschichts­bild keine Erklärung dafür, weshalb 1989 die Sowjet­union unterging und der Kapitalismus triumphierte. Und Sie sagen: Sowohl das liberale als auch das kommunistische Geschichts­bild sind falsch, weil sie die Rolle des Kolonialismus und der Entwicklungs­länder nicht adäquat würdigen.
Deshalb ist der Fall von China so bedeutsam. Die chinesische Entwicklung ist paradigmatisch für ein Entwicklungs­land, in dem die kommunistische Revolution die Funktion übernahm, die im Westen über hundert Jahre früher das Bürgertum erfüllt hatte. China war zwar nicht de jure, aber de facto eine westliche Kolonie. Die Revolutions­bewegung hatte deshalb eine doppelte Rolle: einerseits das Land modernisieren, also Entwicklungs­behinderungen wie das Analphabetentum, die Leib­eigenschaft überwinden, das Bildungs- und das Gesundheits­system, die Stellung der Frauen verbessern, eine Agrar­reform durchsetzen. Es ging weniger um die Kollektivierung der Produktions­mittel als um eine grund­sätzliche gesellschaftliche Modernisierung. Andererseits musste das Land von den Kolonial­herren befreit werden. Im ursprünglichen Marxismus war diese antiimperialistische Rolle des Kommunismus überhaupt nicht vorgesehen, im Gegenteil.

Was heisst das konkret?
Marx stand der englischen Kolonisierung Indiens ambivalent gegenüber, befürwortete sie in einem gewissen Sinn, weil sie dem Subkontinent den Kapitalismus und in einem weiteren historischen Schritt dann auch den Sozialismus bringen würde. De facto – eine ironische List der Geschichte – ist dann das exakte Gegenteil geschehen: Die kommunistischen und sozialistischen Bewegungen modernisierten die ehemals kolonisierten Länder, überwanden die feudalen Strukturen und übernahmen in der dritten Welt genau die Rolle, die in Europa im 19. Jahr­hundert die Bourgeoisie spielte. In einem zweiten Schritt erlaubten sie es diesen Ländern dann, Anschluss an den globalen Kapitalismus zu finden. Nicht der Kapitalismus hat den Sozialismus vorbereitet, sondern der Sozialismus den Kapitalismus.

Was ist mit der offenen Frage, weshalb die erste Globalisierung am Anfang des 20. Jahr­hunderts in den Ersten Weltkrieg führte?
Das ist ein ungelöstes Rätsel. In der liberalen westlichen Welt­anschauung findet es eigentlich keinen Platz. Wir verdrängen es, weil wir letztlich keine Antwort haben. Die Entwicklung hätte friedlich verlaufen müssen: Die westlichen Mächte entwickelten sich prächtig, investierten rund um den Globus, die wirtschaftlichen Verflechtungen waren eng. Französisches Kapital floss nach Russland, englisches nach Argentinien, die europäischen Länder engagierten sich in Afrika und in Asien, natürlich unter Bedingungen eines massiven Macht­gefälles. Die zwischen­staatlichen ökonomischen Beziehungen waren so eng und wohlfahrts­fördernd, dass Fachleute wie der Bankier Ivan Bloch oder der Financier Norman Angell in einfluss­reichen Texten den Krieg als unmöglich, weil zu kostspielig auswiesen. Laut ihrer Theorie musste Kapitalismus plus Liberalismus Frieden garantieren, weil der zwischen­staatliche Handel für alle so profitabel war. Wenn es dennoch Krieg gäbe, so würde er höchstens ein reinigendes Gewitter sein und nicht länger als drei Monate dauern.

Es kam ganz anders.
Ja, unerklärlicher­weise sollte der Krieg, der dann tatsächlich ausbrach, vier Jahre dauern und das grösste Gemetzel darstellen, das die Menschheit jemals gesehen hatte. Letztlich haben wir dafür bis heute keine Erklärung – weshalb Historiker die Sache auf einzelne Entscheidungen individueller Staats­männer zurück­führen. Oder auf unglückliche Umstände wie den, dass Poincaré auf dem Schiff, das ihn von Sankt Petersburg zurück­brachte, nicht erreicht werden konnte, oder den, dass Kaiser Wilhelm der Spielball seiner eigenen Launen war. Das alles mag zutreffen, hat aber keine Erklärungskraft.

Dann könnte sich heute wieder dasselbe ereignen? Auch heute leben wir in einer hyper­globalisierten Welt, in der keine Macht ein Interesse haben kann an einem grossen Krieg.
Das ist die Frage. Ein Unterschied zu damals liegt darin, dass wir in der Zwischen­zeit die historische Erfahrung der Welt­kriege gemacht haben. Vielleicht sind wir ja etwas klüger geworden. Zudem verfügen wir heute über Waffen, die praktisch unsere Zivilisation auslöschen würden. Dennoch kann die sich verschärfende Konfrontation zwischen den USA und China in einem Krieg enden, obwohl den eigentlich niemand wollen würde. Die Situation könnte entgleisen und ausser Kontrolle geraten, obwohl gar keine der Parteien ein Interesse daran hat, genau wie 1914. Was schon damals vollkommen irrational erschien, kann auch heute wieder passieren.

Zur Person

Der serbisch-amerikanische Ökonom Branko Milanović ist einer der international führenden Spezialisten für Einkommens­verteilung und Ungleichheit. Er war Forschungs­direktor der Welt­bank und unterrichtet heute an der New York University, der London School of Economics und dem Barcelona Institute of International Studies. 2016 kam seine bahn­brechende Studie «Die ungleiche Welt» auf Deutsch heraus. Jetzt ist «Kapitalismus global» erschienen.

Reden wir nochmals über die USA. Sie bezeichnen den Kapitalismus der USA in seinen Grund­zügen als liberal und merito­kratisch. Aber Sie führen auch zahlreiche Gründe auf, weshalb der Liberalismus bedroht ist.
Die Definition des liberalen, merito­kratischen Liberalismus übernehme ich eins zu eins vom politischen Philosophen John Rawls. Nach Rawls’ Definition besagt «merito­kratisch» lediglich, dass es keine gesetzlichen Hürden gibt, die es bestimmten Kategorien der Bevölkerung verbieten würden, bestimmte Ämter innezuhaben oder bestimmte Karrieren einzuschlagen. Es besagt, dass wir nicht mehr in einem Feudal­system leben, in dem der Erbadel und der Klerus besondere Privilegien haben, die dem Rest der Gesellschaft nicht zugänglich sind. Die meisten heutigen Gesellschaften sind nach diesem Verständnis merito­kratisch. «Liberal» im Sinn von Rawls bedeutet, dass der Reichtum der obersten Vermögens­kategorien nicht völlig ungehindert an die nachfolgende Generation weiter­gegeben werden kann. Rawls glaubt, dass dazu zwei Dinge nötig sind: Erstens muss durch eine Erbschafts­steuer die Bevorzugung der Nachkommen reicher Familien reduziert werden. Zweitens müssen die öffentlichen Schulen so gut und attraktiv sein, dass sie besser sind als private Schulen oder mit diesen mindestens mithalten können. Unter diesen Voraus­setzungen wird der Start­vorteil von Kindern aus privilegierten Milieus zwar nicht aufgehoben, aber doch reduziert.

Sie nennen den amerikanischen Kapitalismus liberal. Entspricht das noch den Realitäten?
Sowohl was das Steuer­system als auch was das Bildungs­system betrifft, werden die USA immer weniger liberal. Wie in vielen anderen Ländern auch sind die Erbschafts­steuer­sätze laufend reduziert und die Frei­beträge erhöht worden, weshalb Einnahmen aus Erbschafts­steuern immer unbedeutender werden. Caroline Freund hat kalkuliert, dass im Jahr 2001 das gesamte amerikanische Erbschafts­steuer­aufkommen vierzehnmal so hoch war wie die Kosten des Lebensmittel­marken-Programms für Sozialhilfe­empfänger. Im Jahr 2011 hätte es nur noch zwei Drittel der Lebensmittel­marken decken können. Hinzu kommt, dass die Steuer­sätze generell gesunken sind, wodurch Vermögens­bildung einfacher geworden ist und Erbschaften sich vergrössern. Ausserdem kann Vermögen immer einfacher über Stiftungen weiter­gegeben werden, was dazu führt, dass nicht nur das Erben als solches, sondern auch die mit dem vermachten Kapital erzielten Gewinne steuerfrei bleiben.

Anhängerinnen des Präsidenten demonstrieren gegen die Corona-Massnahmen in Ohio: «Die Trump-Administration hat bekanntlich fast alles falsch gemacht, was sie falsch machen konnte.» Joshua A. Bickel/The Columbus Dispatch via AP/Keystone

Und das Bildungssystem?
Es ist keine neue Erkenntnis, dass das öffentliche US-Bildungs­system mit dem privaten nicht in Konkurrenz treten kann. Was ich neu heraus­zuarbeiten versuche, ist Folgendes: Die extrem hohen Kosten der privaten Bildung in den USA sind für die oberen Einkommens­kategorien weniger eine finanzielle Belastung als ein substanzieller Vorteil. Sie erlangen ein Monopol, weil es nur relativ wenig Leute gibt, die so viel bezahlen können, und weil dadurch für ihre Nachkommen die Konkurrenz stark reduziert wird. 60 bis 90 Prozent der Bevölkerung haben zu diesem Wettbewerb keinen Zugang mehr. Kinder aus reichen Familien hingegen haben umso grössere Chancen, an einer Top-Universität zu studieren.

Aber man muss ja auch etwas leisten, um eine gute Universität abzuschliessen.
Sicherlich. Trotzdem amüsiert es mich immer, wenn die Leute sagen: «Ich habe einen Harvard-Abschluss.» Das ist nicht die relevante Information. Sie müssten sagen: «Ich habe einen Studien­platz in Harvard bekommen.» 99 Prozent der Studenten, die in einer Elite-Universität aufgenommen werden, machen auch einen Abschluss. Sofern Sie nicht Ihre Professorin ermorden oder die Sache aus freien Stücken sausen lassen, erhalten Sie ein Diplom. Die ganze Schwierigkeit liegt darin, in eine Elite-Universität hineinzukommen. Deshalb sind Privat­schulen, die einen darauf vorbereiten, ein so lohnendes Investment, denn ein Abschluss von einer prestige­trächtigen Universität garantiert später ein hohes Einkommen.

Und wie müsste das System reformiert werden, damit das antiliberale Monopol durchbrochen wird?
Dafür gibt es nur eine Lösung: Das ganze System muss so reformiert werden, dass die öffentliche Bildung besser wird als die private. Sonst kann die Verbindung zwischen dem Einkommen der Eltern und dem Erfolg der Kinder nicht durch­brochen werden. Doch wenn man die reale Entwicklung in den USA anschaut, kann man nur feststellen, dass sowohl die Bildungs­politik als auch die Steuer­politik immer weniger liberal im Sinn von Rawls werden.

Man könnte es auch so formulieren: Die Chancen­gleichheit nimmt ab.
Natürlich gibt es keine vollständige Chancen­gleichheit – dazu beeinflusst einen das Umfeld, in dem man aufwächst, auf zu vielfältige Weise. Aber ein nachhaltiges, erfolg­reiches Gesellschafts­modell muss ein Mindest­mass an Chancen­gleichheit erreichen und ein Mindest­mass an sozialer Mobilität garantieren. Sonst bildet sich über kurz oder lang eine De-facto-Aristokratie heraus. Schon Marx und Schumpeter beschäftigten sich mit dem Problem, dass eine Gesellschaft die Fähigkeit haben muss, Talente auch aus ihren unteren Schichten zu rekrutieren. Wenn das nicht mehr klappt, hat sie ein bedrohliches Problem.

In Ihrem Buch beschreiben Sie mehrere strukturelle Veränderungen des heutigen westlichen Kapitalismus, die die Konzentration von Reichtum begünstigen und soziale Mobilität behindern – etwa die zunehmende Homogamie und ein Phänomen, das Sie «Homoplutie» nennen.
Das Tragische ist, dass diese beiden Veränderungen eigentlich positive Entwicklungen sind, dass sie aber die Ungleichheit zusätzlich verstärken. Homogamie bedeutet, dass Männer und Frauen heute immer häufiger Lebens­partner wählen, die dasselbe Bildungs- und Einkommens­niveau haben wie sie selber. Die Gründe dafür sind sehr zu begrüssen: Zum einen sind die Erwerbs­quote und das Ausbildungs­niveau der Frauen heute viel höher, zum anderen sind Männer und Frauen heute viel freier in der Wahl ihrer Partner. Beides trägt dazu bei, dass das soziale Gefälle innerhalb der Beziehungen verschwindet. Dieser Fortschritt hat jedoch auch eine Schatten­seite: Er führt dazu, dass sich Vermögen und Bildung in denselben Haushalten konzentrieren. Studien ergeben, dass sich zwischen 10 Prozent und einem Drittel der Zunahme von Ungleichheit allein aus dem Paarungs­verhalten erklärt, das sich einschneidend verändert hat. Eine empirische Unter­suchung zeigt, dass eine gut verdienende junge Frau heute mit fünfmal höherer Wahrscheinlichkeit einen ebenso gut verdienenden jungen Mann heiraten wird als noch in den 1970er-Jahren. Das hat natürlich auch einen massiven Effekt auf die Vererbung von sozialen Privilegien: Ehepaare, in denen sich auf diese Weise Geld und Bildung konzentrieren, investieren auch sehr viel in die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder.

Und was verbirgt sich hinter «Homoplutie»?
Dabei handelt es sich um ein neues Merkmal des heutigen Kapitalismus: Immer stärker verfügen Leute, die einen hohen Lohn verdienen, zusätzlich über ein grosses Vermögen und erzielen auch hohe Kapital­einkünfte. Im alten Kapitalismus war das anders: Wer über ein grosses Vermögen verfügte, ging keiner Erwerbs­arbeit nach. Kapital­eigner sassen entweder zu Hause und bezogen Renditen aus ihren Anlagen oder sie betrieben Fabriken und mehrten ihren Reichtum als selbst­ständige Unternehmer. Heute stehen Vertreterinnen der Reichtums­elite immer häufiger im Sold eines Konzerns, an dem sie Anteile halten, der ihnen aber nicht gehört. Grundsätzlich ist es natürlich begrüssens­wert, dass Bürger mit grossem Vermögen nicht mehr eine leisure class bilden, sondern arbeiten. Doch auch diese Entwicklung hat einen Konzentrations­effekt: Hohes Lohn­einkommen und hohes Kapital­einkommen treten gemeinsam auf und kumulieren sich.

Das heisst aber auch, dass sich das Arbeits­ethos der obersten Einkommens­kategorien geändert hat?
Empirische Studien zeigen, dass die obersten Lohn­kategorien heute sehr viel und deutlich mehr arbeiten als Arbeit­nehmer mit tieferen Einkommen. Auch das mag man grundsätzlich positiv finden, es hat aber zur Folge, dass es moralisch schwieriger wird, die sehr hohen Einkommen hoch zu besteuern. Grundsätzlich ist sowohl die Homogamie als auch die Homoplutie das Ergebnis von positiven gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie haben aber beide starke Ungleichheits­effekte. Wir sollten uns sehr dringend Gedanken darüber machen, wie wir mit diesen Effekten umgehen können.

Das ist ein Grundmotiv Ihrer Kapitalismus­analyse. Der globalisierte Kapitalismus führt grund­sätzlich, so haben Sie es gerade gesagt, zu Prosperitäts­gewinnen, zu positiven gesellschaftlichen Entwicklungen. Aber er hat eine destruktive Seite, die ebenfalls sehr mächtig ist. Sie kommen immer wieder ganz nüchtern zum Befund, dass die systemischen Effekte des globalisierten Kapitalismus die Basis des gesellschaftlichen Zusammen­lebens zerstören.
Das ist richtig. Aber man muss sich klar vor Augen führen: Der Erfolg des Kapitalismus beruht darauf, dass er mit unserem eigentlichen Werte­system übereinstimmt. Wenn die überwältigende Mehrheit der Erden­bürgerinnen nicht bereit wäre, die Anhäufung von Vermögen und die Steigerung von Einkommen zum obersten Ziel zu machen, würden wir weder hart genug arbeiten noch verschwenderisch genug konsumieren, um das kapitalistische System zu erhalten und seine permanente Expansion zu ermöglichen. Denn das Alleinstellungs­merkmal des Kapitalismus – das hat schon Marx erkannt – besteht darin, dass er permanent expandiert. Wie das physische Universum. Das Profit­streben gibt ihm eine unbegrenzte Dynamik. Und jeden Tag von neuem legen wir den Beweis ab, dass es das oberste unserer Handlungs­motive ist: Denn ein Gesellschafts­system, das nicht den Grund­werten seiner Akteure entspricht, kann sich nicht durchsetzen.

Und wie würden Sie die zerstörerische Seite des Kapitalismus konkret beschreiben?
Zum einen kommt es zu einer immer stärkeren Kommodifizierung aller zwischen­menschlichen Beziehungen: Sie werden zu einer Dienst­leistung. Sei es nun die Alten­pflege, die Kinder­betreuung, das verständnisvolle Zuhören, das an einen Therapeuten delegiert wird. Auch diese Entwicklung hat durchaus ihre positiven Seiten, aber sie führt zur Kommerzialisierung sämtlicher Lebens­bereiche. Ich will Ihnen ein vergleichs­weise harmloses Beispiel nennen: In den USA, auch in der akademischen Welt, ist es gang und gäbe geworden, die Beendigung von Arbeits­verhältnissen mit einem non-disclosure agreement zu versehen. Man scheidet vielleicht im Unfrieden, aber keine der beiden Parteien ist berechtigt, darüber zu reden. Das heisst, man gibt sein Recht auf freie Meinungs­äusserung preis, weil man einen bestimmten Geld­betrag dafür bekommt. Das ist eigentlich ein ungeheurer Vorgang, aber er ist banal geworden.

Regeln der Redlichkeit werden durch zivil­rechtliche Verträge ersetzt?
Das ist die zweite zerstörerische Entwicklung: Zunehmend werden sämtliche Formen ethischer Verbindlichkeit an juristische Instanzen outgesourct. Sämtliche Lebens­bereiche haben sich in rasendem Tempo juridifiziert, was aber auch bedeutet: Ausser rechtlichen gibt es keine verbindlichen Normen mehr. Womit man legal durchkommt, ist gesellschaftlich auch erlaubt.

Aber es ist ja nicht so, als würde der Kapitalismus nicht auch auf Widerstand und Kritik stossen, in jüngster Zeit zum Beispiel sehr pointiert aus ökologischer Perspektive.
Sicherlich. Es ist auch durchaus möglich – und zu wünschen –, dass diese Impulse durch die Politik aufgenommen werden. Aber wir sollten uns nicht darüber hinweg­täuschen, dass die Hyper­kommerzialisierung und der Konsum­exzess darauf gründen, dass wir sie wollen. Das sind nicht Dinge, die uns aufgezwungen werden. Es ist nicht möglich, sich dem Profit­streben zu verpflichten, die dunklen Seiten, die integraler Teil des Kapitalismus sind, aber plötzlich überwinden zu wollen. Natürlich kann sich der Einzelne sagen: Ich mache nicht mehr mit. Vielleicht findet man ein paar Gleich­gesinnte, die ebenfalls nicht mehr mitmachen wollen. Aber man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass man dadurch den Lauf der Welt ändern wird.