Die Daten von Ihnen, den Profit für sich
Die TX Group hat sich mit weiteren Schweizer Verlagen zu einer Allianz zusammengeschlossen: Sie wollen eine Login-Pflicht durchsetzen, um die Daten der Leser mit zielgenauer Werbung zu Geld zu machen. Gelingt das? Tamedia Papers, Kapitel 12.
Von Marc Guéniat (Text), Andreas Bredenfeld (Übersetzung) und Berto Martinez (Illustration), 22.12.2020
Sollte ein Shop für Extremsport für teures Geld in einer Zeitung werben, deren Leserschaft mehrheitlich über 70 ist? Ist es für Autohäuser sinnvoll, sich an eingefleischte Radfahrer zu wenden? Und ist es für McDonald’s attraktiv, eine Zielgruppe zu umwerben, die Biokost aus der Region vorzieht?
Die Antwort lautet selbstverständlich dreimal Nein. Solche Werbestrategien sind zum Scheitern verurteilt – sie sind einfach zu ungenau.
Die drei Fragen deuten an, vor welcher gewaltigen Herausforderung die Schweizer Printmedien stehen. Sie müssen die Hoffnung fahren lassen, dass sie auch künftig genug vom Werbekuchen abbekommen, denn die Onlinewerbung ist um ein Vielfaches präziser – und das verdankt sie dem immateriellen Gold des 21. Jahrhunderts: den Daten, die wir alle produzieren oder wegschenken, wenn wir unser Mobiltelefon, Tablet oder den PC nutzen.
Zur Serie «Tamedia Papers» – eine Familie, Geld, Macht und Medien
Wem gehört die Zeitung, die Sie morgens zum Kaffee lesen? Das Onlineportal, das Sie in der Mittagspause anklicken? Die Geschichte einer reichen und mächtigen Verlegerfamilie. Und was sie mit ihren Medien macht. Zum Auftakt der Serie.
2017 wurde auf dem Schweizer Werbemarkt eine symbolträchtige Schwelle überschritten: Erstmals erzielte Google in der Schweiz einen höheren Werbeumsatz als die gesamte Printpresse zusammengenommen. Googles Jahreseinnahmen wurden damals auf eine Milliarde Franken geschätzt, während Tamedia als grösstes Verlagshaus im Land auf allen Trägermedien gerade mal die Hälfte dieser Summe schaffte. Und damit immer noch weit vor seinen Konkurrenten Ringier und NZZ lag. Durch die Übernahme des Werbevermittlers Goldbach im Jahr darauf gelang es dem Zürcher Konzern sogar vorübergehend, sich auf das Niveau des US-Giganten aufzuschwingen.
900 Klicks bis zum neuen Auto
Der Trend spricht allerdings ganz eindeutig für Google, Amazon, Facebook und Apple – auch als GAFA bekannt. «2016 ging von fünf am Mobiltelefon verbrachten Minuten eine Minute an Facebook und Google», sagt Digital-Marketingspezialist Daniel Jörg von der Zürcher Agentur Farner. «Inzwischen ist dieser Anteil mit Sicherheit noch grösser geworden.»
Wie die TX Group im Oktober 2020 erklärte, haben «alle Schweizer Medienunternehmen zusammen einen Anteil von ungefähr einem Viertel am gesamten Online-Werbeumsatz (Display und Video). Der grosse Rest fliesst bereits zu Google, Facebook oder zu ausländischen Medienunternehmen.»
Mit einem massiven Aufgebot an Algorithmen und Aggregationsmöglichkeiten kompilieren, verknüpfen und analysieren Plattformen wie Youtube, Gmail, Whatsapp oder Instagram die Daten ihrer Nutzerinnen, damit sie ihren Werbekunden zielgerichtete Inhalte anbieten können. Das digitale Instrumentarium beschert den Werbetreibenden die Möglichkeit, die Wirkung einer Marketingkampagne ganz genau vorauszuberechnen und zu entscheiden, ob ihre Investition sich lohnt. Beim Medium Papier ist das nur sehr notdürftig möglich, und dass es bei den Onlinemedien besser gelingt, ist auch kein Automatismus.
«Jeder, der ein Auto kaufen will, führt rund 900 Aktionen im Internet aus», so Daniel Jörg. «Präsentationsvideo, Online-Vergleichsportal, Händlersuche, abrufbare Fachpublikationen: Durch solche Recherchen werden so viele Daten generiert, dass sich daraus ein individualisiertes Kundenprofil generieren lässt, in das neben demografischen Eckdaten (Alter, Geschlecht, Wohnort) auch das Nutzerverhalten (wo und zu welchen Uhrzeiten hat die Nutzerin recherchiert?), allgemeine Interessen und Vorlieben (ernährt der Nutzer sich zum Beispiel von Bio-Lebensmitteln?) und für den betreffenden Geschäftszweig relevante Daten (Pendler? Radfahrerin?) einfliessen.
Die Kunst der wirkungsvollen Online-Marketingstrategie besteht darin, diese 900 Aktionen in Einzelschritte zu unterteilen und den potenziellen Käufer genau zu dem Modell und der Automarke zu geleiten, von denen er hinterher meint, er habe sich für sie entschieden.
Was wird aus den digitalen Marktplätzen?
Mit ihrer gewaltigen Streitmacht reissen die GAFA alles an sich. Die Zürcher Kantonalbank sieht sogar den Kleinanzeigenmarkt (Immobilien, Stellenmarkt usw.) in Gefahr, in den die TX Group mit dem Kauf von Online-Handelsplattformen eine Menge Geld investiert hat.
Das Fazit ihrer Analyse vom April 2020 lautet: «Die Zukunft der bislang sehr profitablen ‹Marktplätze› der TX Group wie Jobcloud oder Homegate ist inzwischen mit einem Fragezeichen zu versehen.»
Wenn sie auch künftig von Werbung leben wollen, bleibt den Verlegern nur eine Möglichkeit: Sie müssen den GAFA nacheifern. Ihnen grössenmässig Konkurrenz zu machen, ist illusorisch. Bestenfalls können sie hoffen, sich durch eine engmaschige Vernetzung des Schweizer Territoriums gegen sie zu behaupten.
Genau dieser Strategie folgt die TX Group: Sie will die Daten bündeln, die auf den Internetseiten der Tamedia-Bezahlmedien, der Gratiszeitung «20 Minuten» sowie ihres Werbevermarkters Goldbach und auf ihren Marktplätzen generiert werden. Der Konzern will zwischen diesen Segmenten, in denen er in der Schweiz eine dominierende Stellung hat, Synergien schaffen, um der internationalen Konkurrenz die Stirn bieten zu können. Alle gesammelten Daten wandern zu seinem Werbevermarkter Goldbach, der als einer der Schweizer Branchenführer Werbung für alle Medien – Fernsehen, Rundfunk, Plakatwerbung, Printmedien, Zeitungen und Internet – und alle digitalen Kanäle entwickelt und verbreitet.
Ähnlich wie einst die Waldstätte im Kampf gegen die Habsburger versuchen die eidgenössischen Verleger, ihre Kräfte gegen die GAFA zu bündeln. Die Armbrust, die TX Group, Ringier, CH Media, NZZ und die SRG sich dafür geschnitzt haben, hat einen Namen: Login-Allianz oder Swiss Digital Alliance. «Die Nutzer melden sich nur einmal mit ihrer E-Mail-Adresse an und erhalten damit Zugriff auf rund 30 Schweizer Medienmarken», erläutert Etienne Jornod, Präsident des Verwaltungsrates der NZZ. Auf freiwilliger Basis wurde dieses einheitliche Login bereits eingeführt; ab 2021 soll es laut einer Pressemitteilung der TX Group vom Juni 2020 obligatorisch werden.
Künftig muss sich dann jede, die ein zu der Allianz gehörendes Medium nutzen will, kostenlos registrieren und ihre personenbezogenen Daten wie die E-Mail, den Namen und manchmal auch die Angabe zum Geschlecht zur Verfügung stellen. Diese Angaben werden in einem grossen Datenpool gesammelt, nicht aber die Nutzungsdaten, wie Patrick Rademacher von der Ringier-Gruppe festhält.
Ein fairer Tausch?
«Mit diesen Daten werden Geschäftsprofile der Nutzer erstellt, deren Daten für Werbezwecke genutzt werden», erläutert François Besençon, Vizepräsident des Verbandes KS/CS Kommunikation Schweiz und der Eidgenössischen Medienkommission.
Etienne Jornod bekräftigt: «Ziel ist eine bessere Vernetzung zwischen den Nutzern und den Dienstleistungsanbietern», sprich: der Werbebranche. Man beachte, dass aus «Lesern» inzwischen «Nutzer» geworden sind.
«Dadurch soll das Datenmaterial, das die Verlagshäuser dem Werbesektor im Kampf gegen die auf diesem Gebiet führenden GAFA zur Verfügung stellen können, qualitativ und quantitativ im grossen Stil optimiert werden», so die waadtländische Anwältin Anne Dorthe, die sich auf Datenschutzrecht spezialisiert hat.
Die Idee ist simpel: Je mehr der Verleger über seine Leserinnen weiss, umso präziser werden seine Daten und umso leichter kann er den Werbetreibenden wirksame Werbemöglichkeiten anbieten.
Vertragsgrundlage ist dabei ein Tauschgeschäft: Sie überlassen mir Ihre Daten, und als Gegenleistung biete ich Ihnen Inhalte an, die zu Ihren Interessenschwerpunkten passen. Sie haben dies und das gelesen? Dann wird Ihnen das hier gefallen. Und haben Sie vielleicht Interesse an einem dritten Standbein? Dann wird dieser Artikel über Hypothekendarlehen Sie begeistern.
Anders als Netflix, Youtube oder auch Swisscom wissen die Medien so gut wie nichts über die Gewohnheiten und Vorlieben der Menschen, die sie nutzen. «Sie haben den direkten Kontakt zu ihren Nutzern verloren und können sie deshalb nicht mehr an sich binden», sagt François Besençon. Wer die Präferenzen seiner Nutzerinnen kennt, kann ihnen gezielt Inhalte empfehlen, so, wie Netflix es vormacht.
Die Wirkung der Algorithmen
Dem Leser wird diese Möglichkeit häufig als etwas verkauft, was ihm Vorteile bringt. Doch sie wirft die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis des Lesers zu seinem Medium auf, denn sie beschränkt jenes intellektuelle Feld der Möglichkeiten, das man «Serendipität» nennt – also die Fähigkeit, durch Zufall Bedeutsames zu entdecken. Denn kann man aus der Tatsache, dass ich einen Artikel über Roger Federer gelesen habe, männlich und zwischen 40 und 50 bin, den Schluss ziehen, dass ich mich weder für Barockmusik noch für Babynahrung interessiere? Will ich überhaupt von einem Algorithmus mit Inhalten bombardiert werden, die zu meinen vermeintlichen Interessenschwerpunkten passen? Habe ich das Bedürfnis, andauernd in meinen Gewissheiten bestärkt zu werden, oder wäre es für mich als Bürgerin nicht besser, wenn man in mir Zweifel weckt und das Feld meiner Unwissenheit verkleinert, indem man mich neugierig macht?
Es ist eine gut dokumentierte Tatsache, dass dieser algorithmische Umgang mit Informationen seinen Teil zur Polarisierung der politischen Kultur beiträgt, die wir fast überall auf der Welt erleben. Denn er führt zu einer Abkapselung der Individuen, die nicht mehr dieselben Informationen zu derselben Zeit zur Kenntnis nehmen.
«Die personalisierten Inhalte markieren einen tiefgreifenden Wandel», konstatiert François Besençon. «In gewisser Weise verabschiedet der Verleger sich von seiner angestammten Aufgabe, die Informationen nach seinen Wichtigkeitsvorstellungen in eine hierarchische Ordnung zu bringen.»
Die Tamedia-Chefs weisen den Vorwurf von sich, sie wollten das Sichtfeld der Leserinnen auf die Welt einschränken. «Dieses Login bedeutet nicht, dass man den Lesern nur noch das präsentiert, was sie interessiert», erläutern die Co-Geschäftsführer Andreas Schaffner und Marco Boselli. «Der Journalismus hat schliesslich auch die Aufgabe, die Neugier zu wecken. Bei der Personalisierung ist Fingerspitzengefühl gefragt.»
Ein ehemaliger Digitalspezialist der Tamedia sieht eines der Probleme des Single Logins darin, dass diese Personalisierung den Lesern nichts bringt. «Bei Netflix funktioniert das ausgezeichnet. Wenn ich die TV-Serie ‹Narcos› klasse fand, wird mir auch ‹Der Mechanismus› gefallen. Doch was liefert man dem Leser als Gegenleistung für seine Daten? Das Ranking der meistgelesenen Artikel? Das ist ein Witz. Werbetechnisch monetisierbar ist dieses Projekt nur, wenn es den Lesern aufgenötigt wird.»
Das schwant auch Sandra Cortesi, die am Berkman Klein Center for Internet and Society an der Harvard University tätig ist und im Verwaltungsrat von «20 Minuten» sitzt: «Bei einem optionalen Login besteht die Gefahr, dass wir die kritische Masse nicht erreichen. Wenn es obligatorisch ist, muss das Produkt fantastisch sein. Oder aber die Nutzungsmöglichkeiten ohne Login sind so limitiert oder qualitativ so schlecht, dass es eigentlich nicht mehr optional ist.»
Eine Wahlfreiheit, die keine ist
Die Wahlmöglichkeit ist ein entscheidender Faktor. Im Prinzip ist nach dem Datenschutzrecht die Einwilligung des Nutzers erforderlich. Der Journalist Nick Lüthi, Medienexperte des Branchenportals Medienwoche, erläutert den Hintergrund: «Das Login ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die Datenschutz-Grundverordnung der EU, die den Cookies den Garaus gemacht hat. Die Cookies haben die Daten ohne Wissen des Nutzers abgesaugt; heute gibt der Nutzer seine Daten aktiv her.»
Von den Befürwortern des Single Logins ist zu diesem Thema Widersprüchliches zu hören. So behaupten sie zum Beispiel wie Ringier-Chef Marc Walder, der sich im «Blick» äusserte, sie würden lediglich «anonyme E-Mail-Adressen» abgleichen, um in Erfahrung zu bringen, ob ein und dieselbe Person ein Portal morgens auf seinem Handy und später am Tag auf seinem Computer aufrufe.
Das Anonymitätsversprechen überzeugt Anwältin Anne Dorthe nicht: «Das Wissen darum, wer was wann auf welchem Gerät liest, steht absolut im Widerspruch zu der angeblichen Datenanonymisierung.» Vor allem deswegen, weil die für die Anmeldung verlangte E-Mail-Adresse einen Vor- und Nachnamen enthalten kann.
Sandra Cortesi räumt freimütig ein, dass die Grenzen erst noch abgesteckt werden müssen werden. «Muss der Verleger wirklich wissen, ob ich im Bett lese oder nicht?»
Und was passiert eigentlich, wenn die meisten Medien das Login einführen? Haben die Leserinnen dann keine andere Wahl mehr, als das Ausschlachten ihrer Daten zu kommerziellen Zwecken hinzunehmen, weil sie sonst keinen Zugang mehr zu Informationen bekommen?
Der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte Adrian Lobsiger hat gefordert, dass die Verlagshäuser ihm das Single Login in Bern vorstellen. Er sieht zwar ein, dass das Vorhaben seine Berechtigung hat, ist aber der Auffassung, dass die Anmeldung freiwillig sein muss und denjenigen, die nicht wollen, dass ihr Onlineverhalten verfolgt wird, keine Nachteile bringen darf: «Anonymer Medienkonsum muss möglich sein.»
Zum Beispiel könnte, wenn eine Zeitung nicht mehr als Printversion erscheint, ein Online-«Privatsphäre-Abonnement» angeboten werden: «So ein Abonnement wäre teurer, weil den Verlegern dabei Werbeeinnahmen entgehen, aber der Preisunterschied müsste bezahlbar sein.» Nach Aussage des Datenschutzbeauftragten haben die Verlagshäuser sich verpflichtet, «diese Vorgaben umzusetzen».
Die Skepsis des Marketingexperten
Die SRG hat für sich entschieden: Sie beteiligt sich am Single Login, stellt jedoch zwei Bedingungen, wie Generaldirektor Gilles Marchand sagt: «Die Anmeldedaten dürfen nicht weitergegeben werden, und aus diesen Daten darf kein kommerzielles Potenzial erwachsen.» Diese beiden Restriktionen laufen zwar der Zielsetzung der Login-Allianz zuwider, aber dass die SRG diese Einschränkungen macht, leuchtet ein, nachdem die Verlagshäuser ihr in einer erbitterten politischen Schlacht das Recht zur Verbreitung von Onlinewerbung verwehrt haben. Warum sollte die SRG nach dieser Vorgeschichte ihre Daten an die Verlage weitergeben, damit diese mit den Daten Geschäfte machen können? Das Einzige, was die SRG zum gemeinsamen Datenpool beizusteuern bereit ist, sind letztlich die E-Mail-Adressen der Nutzer – was ja auch schon allerhand ist.
Damit wird deutlich: Es sind noch viele Fragen zu klären, ehe die Verlagshäuser alle nötigen Voraussetzungen geschaffen haben und sich daranmachen können, mit dem Single Login den GAFA die Marktanteile im Schweizer Werbegeschäft wieder abzujagen.
Unabhängig davon, wie diese Fragen letztlich beantwortet werden, sieht der eingangs zitierte Digital-Marketingspezialist Daniel Jörg die Erfolgschancen des Single Logins im Kampf gegen die Digitalriesen eher skeptisch: «Dieser Versuch kann vielleicht nicht schaden, aber er kommt zehn Jahre zu spät. Die Entwicklung der Onlinewerbung schreitet rasend schnell voran, und der Rückstand auf Facebook und Google ist gigantisch. Wenn ich für einen Kunden eine Werbekampagne starten will, bietet mir Goldbach 40 Targeting-Kriterien. Bei Google sind es 5000.»
Präzisierung: Patrick Rademacher, Projektmanager der Swiss Digital Alliance innerhalb der Ringier-Gruppe, betont, dass personenbezogene Daten, nicht aber Nutzungsdaten zwischen Verlagen geteilt werden. Wir haben die entsprechende Passage im Beitrag präzisiert.