Tamedia Papers
Wem gehört die Zeitung, die Sie morgens zum Kaffee lesen? Das Onlineportal, das Sie in der Mittagspause anklicken? Die Geschichte einer reichen und mächtigen Verlegerfamilie. Und was sie mit ihren Medien macht. Auftakt zur Recherche-Serie.
09.12.2020
Sie zählen zu den Reichsten und Mächtigsten der Schweiz: die Mitglieder der Coninx-Familie. Drei Familienzweige, total 50 Personen, die in Hamburg, München, Vaduz, Bern, Luzern und Zürich leben.
Ihren Reichtum verdanken sie dem Werbegeschäft, ihre Macht dem Einfluss auf die Meinungsbildung in der Schweiz. Der Familie Coninx gehören von «20 Minuten» und «Tages-Anzeiger» über «Basler Zeitung», «Tribune de Genève» bis «24 Heures» oder «Der Bund» 33 Redaktionen im ganzen Land. Damit kontrolliert sie in der Deutschschweiz 40 Prozent der veröffentlichten Meinung – und in der Westschweiz 70 Prozent.
Die Familie Coninx, die das Verlagshaus Tamedia – kürzlich in TX Group umfirmiert – inzwischen in der fünften Generation führt, hat es damit zu einem Milliardenvermögen gebracht. Wie alle Verlegerfamilien profitierte sie lange von einem doppelten Monopol, das einer Gelddruckmaschine gleichkam: auf Inserate gedruckte Information.
Als Otto Coninx, der Patriarch der Dynastie, 1978 seinen Chefposten räumt, lädt er die 1100 Mitarbeiter zu einer Schiffstour zwischen Neapel und Genua ein. Zehn Flüge wurden dafür gechartert. Zum Auftakt des Galadiners an Bord des Passagierdampfers SS Britanis wird Kaviar gereicht. Stattliche acht Orchester spielen auf, während der Dampfer Kurs auf Genua nimmt.
Es sind die glorreichen Zeiten der Presse – und der Coninx-Clan mittendrin.
Zu Spitzenzeiten erreicht der «Tages-Anzeiger» eine Auflage von 250’000 Exemplaren. 1989, das Jahr des Berliner Mauerfalls, wird zum Rekordjahr – mit über 10’000 Seiten Stellenanzeigen und weiteren über 14'000 Werbung, Gebrauchtwagen- und Immobilienanzeigen. Im Jahr 2000 lassen sich die Coninx den Gang an die Börse mit einer Sonderdividende von 250 Millionen Franken vergolden.
Doch im neuen Jahrtausend, kurz vor der Übergabe von Verleger Nr. 4 an Verleger Nr. 5 der Dynastie, sehen sich die erfolgsverwöhnten Tamedia-Besitzer plötzlich mit einer strukturellen Krise konfrontiert – und allen Zutaten für einen tödlichen Cocktail: Die Leserschaft der Presse erodiert, die Werbung wandert ins Internet, die Einnahmen brechen um 40 Prozent ein.
Und was jetzt?
Die Serie «Tamedia Papers» erzählt die Geschichte einer reichen und mächtigen Schweizer Verlegerfamilie, die sich entscheiden muss: zwischen den Renditen, die ihren Lebensstil in der Hautevolee finanzieren, und ihrer Verantwortung für die Öffentlichkeit, die Meinungsvielfalt, die Demokratie.
Wie sie aus diesem Dilemma herausfindet.
Und wer dafür bezahlen muss.
Direkt zum ersten Kapitel: Eine Familie will ernährt sein
Eine Familiensaga. Und ein grosses Stück Schweizer Medien- und Wirtschaftsgeschichte
Alles beginnt 1893 mit der Gründung des «Tages-Anzeigers für Stadt und Kanton Zürich». Gerade mal vier Verlagschefs später ist ihr Unternehmen vom Kleinverlag zum mächtigsten Schweizer Medienkonzern aufgestiegen, der seine Besitzer immer reicher und noch reicher macht.
Seit dem Börsengang im Jahr 2000 schüttete der Familienkonzern insgesamt 951,1 Millionen Franken an Dividenden aus. 785,6 Millionen davon gingen an die Coninx. Seit 20 Jahren werden der Familie im Durchschnitt 39 Millionen ausbezahlt pro Jahr.
Dafür sorgen muss Pietro Supino. Von der Coninx-Familie im stolzen Zürcher Grossbürgertum als ungeliebter Neffe aus Italien zuerst ausgestossen, wurde er zum Garanten ihres Wohlstands und zum grössten Verleger im Land.
Nach einer beispiellosen Akquisitionsstrategie im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, an dessen Ende Tamedia fast alles geschluckt hat, was es im Schweizer Zeitungsgeschäft zu schlucken gibt, wird die Rentabilität durch Diversifizierung ins E-Commerce-Geschäft und die üppigen Gewinnmargen in diesem Geschäftsbereich gestützt – 29,2 Prozent waren es 2019.
Es wäre eine grossartige Erfolgsgeschichte, wie sie die Schweizer Wirtschaft einige kennt, gäbe es da nicht eine Leiche im Keller: den Journalismus.
Denn die Diversifizierung des Konzerns ging zulasten der Redaktionen, die in den letzten zehn Jahren von Fusionen, Entlassungen und manchmal auch Schliessungen durchgeschüttelt wurden. Das Überraschendste ist, dass die Journalistinnen in diesem ungünstigen Umfeld weiterhin immer wieder sehr gute Arbeit leisten. Nur tragen sie nicht mehr zur Existenzberechtigung des Unternehmens bei, sondern sind zur Kostenstelle geworden.
Dazu geführt haben auch zwei folgenschwere Entscheidungen des Verlegers: Eine festgeschriebene Umsatzrendite von 15 Prozent für jeden einzelnen Titel. Und das Verbot der Quersubventionierung. Die Erlöse aus dem E-Commerce-Geschäft flossen nicht mehr in die Publizistik.
Jede Mitarbeiterin der Tamedia erwirtschaftet einen Reingewinn (Anfang 2020: 37’793 Franken), der grösser ist als der eines Nestlé-Mitarbeiters (30’276 Franken). Dadurch ist es möglich, das Management besser zu bezahlen, als dies jede andere an der Schweizer Börse kotierte Firma vergleichbarer Grösse tut.
Das Geschäftssystem der TX Group sorgt für eine ebenso zuverlässige wie kompromisslose Verteilung des Wohlstands von unten nach oben. An der Spitze stehen der Verleger und seine Familie, deren fürstlicher Lebensstil durch die Gewinne ihrer Führungskräfte gesichert ist, die für ihre Arbeit gut bezahlt werden. Ganz unten sind die Redaktionen, in denen Journalistinnen, Redaktoren oder Korrektorinnen gegen alle Widerstände versuchen, die Qualität der Medien aufrechtzuerhalten, während sie Einkünfte erwirtschaften müssen, von denen der Journalismus nicht profitieren kann.
Die «Tamedia Papers»
Erstmals beleuchtet diese Recherche in allen relevanten Dimensionen den Aufstieg der Tamedia zum mächtigsten Medienunternehmen der Schweiz. Zeichnet nach, welche prägenden Figuren in der über 125-jährigen Geschichte den Verlag zu dem machten, was er heute ist. Wer von den enormen Renditen profitiert, und wie der Konzern seine Geschäfte betreibt, um diese Renditen und Vergütungen weit über dem Branchendurchschnitt zu garantieren. Und dabei vielleicht seine Seele als Verlagshaus verloren hat.
Tamedia Papers
Wem gehört die Zeitung, die Sie morgens zum Kaffee lesen? Das Onlineportal, das Sie in der Mittagspause anklicken? Die Geschichte einer reichen und mächtigen Verlegerfamilie. Und was sie mit ihren Medien macht. Die Recherche-Serie.
Sie lesen: Auftakt
Geld, Macht und Medien
Kapitel 2
Die Eroberung der Westschweiz
Kapitel 3
Der Aufstieg
Kapitel 4
Die Rache des Pietro Supino
Kapitel 5
Strahlende Zukunft
Kapitel 6
Zwischen Handel und Hochfinanz
Kapitel 7
Die Powerpoint-Versessenheit
Kapitel 8
Die Wucht der Dampfwalze
Kapitel 9
Die politische Macht
Kapitel 10
Wunderkind «20 Minuten»
Kapitel 11
Goldgrube Goldbach
Kapitel 12
Profit mit Ihre Daten
Anhang
Die offenen Fragen
Was bedeutet es, wenn ein Medienkonzern, von dem die öffentliche Debatte in der Schweiz massgeblich abhängig ist, die Interessen der Eigentümer vor Investitionen in die Redaktionen stellt? Diese Debatte ist auch deshalb relevant, weil das Parlament derzeit ein Medienförderungspaket ausarbeitet, von dem Tamedia einen grossen Teil erhalten soll.
Wie stark sich das Unternehmen in den letzten 40 Jahren, seit dem Fest für den Patriarchen Otto Coninx, gewandelt hat, veranschaulicht nicht zuletzt die Feier zum 125-Jahr-Jubiläum des «Tages-Anzeigers» im Mai 2018. Alle Mitarbeiterinnen wurden in die Samsung Hall in Dübendorf eingeladen. Bezahlt wurde das Fest aber nicht von der Geschäftsleitung oder der Aktionärsfamilie – die Kosten dafür wurden den Redaktionen verrechnet.
Zur Kooperation mit Heidi.news
Die Serie erscheint zeitgleich auf französisch und entstand in Zusammenarbeit mit der 2019 gegründeten Westschweizer Onlinepublikation Heidi.news. Hauptautor Marc Guéniat ist 2007 bei der «Tribune de Genève» in den Journalismus eingestiegen, bevor er sich selbstständig machte. Zwischen 2012 und 2019 war er Handels- und Korruptionsexperte bei der NGO «Public Eye». Danach wechselte er zum Genfer Medien-Start-up. Für diese Serie recherchierte Guéniat sechs Monate zwischen Genf, Zürich, Bern und Solothurn.
Serienübersicht
Kapitel 1: Eine Familie will ernährt sein. Wie sich die Coninx mit eisernen Regeln die Macht über einen Konzern sichern. Und dafür sorgen, dass ihr Vermögen von geschätzt 1,25 Milliarden Franken jedes Jahr um 39 Millionen wächst – verteilt auf 50 Personen in drei Familienzweigen, die in Deutschland, Liechtenstein und der Schweiz leben.
Kapitel 2: Die Eroberung der Westschweiz. Wie entschieden die Coninx-Familie ihr Imperium vorantreibt, zeigte zuletzt die traurige Geschichte der Tageszeitung «Le Matin». Nachdem Tamedia den Krieg der Gratiszeitungen gewonnen hat, übernimmt sie die Kontrolle über die Westschweizer Edipresse – und setzt ihre Renditeerwartungen auch in der Romandie durch.
Kapitel 3: Vom Aufstieg eines Kleinverlags zum Mediengiganten. Die Geschichte der heutigen TX Group beginnt 1893 mit dem «Tages-Anzeiger». Gerade mal drei Verleger später ist der deutsche Kleinverlag zum mächtigsten Schweizer Medienkonzern aufgestiegen, der seine Besitzer mit dem Börsengang im Jahr 2000 noch reicher machte – und wohl einige Mitarbeiter ärmer.
Kapitel 4: Die Rache des Pietro Supino. Von der Familie im stolzen Zürcher Grossbürgertum lange zuerst verachtet, machte sie ihn schliesslich zum Garanten ihres Wohlstands – und zu einem ruhmreichen Verleger. Das erstaunliche Schicksal eines ungeliebten Coninx-Neffen aus Italien, der fast ein unauffälliger Wirtschaftsanwalt geworden wäre und heute an der Spitze eines Schweizer Imperiums steht.
Kapitel 5: Strahlende Zukunft. Tamedia braucht die Presse, um die Diversifikation des Geschäfts zu finanzieren und um ihre Aktionäre und Manager zu entschädigen. Gleichzeitig werden wegen der strukturellen Krise der Medien die Investitionen in die Redaktionen auf ein Minimum beschränkt. Stillen die Besitzer ihren unbändigen Hunger nach Rendite auf Kosten des Journalismus in der Schweiz?
Kapitel 6: TX Group – zwischen Handel und Hochfinanz. Seit Anfang 2020 hat der führende Schweizer Medienkonzern Tamedia seine historischen Initialen TA, die des «Tages-Anzeigers», aufgegeben. Das ist mehr als nur symbolisch: Es anerkennt die Tatsache, dass in der Holding die Bezahlmedien zur Nebentätigkeit geworden sind, jedoch weiter Prestige und Einfluss bringen sollen.
Kapitel 7: Die Powerpoint-Versessenheit. Was einst vielfältige Verlage waren, wurde in zwei Content-Fabriken umgebaut – eine in der Deutsch- und eine in der Westschweiz. Und was in Zürich funktionierte, musste überall funktionieren. Die Unternehmenskultur der Tamedia lässt sich mit zwei Kürzeln zusammenfassen: ppt (Powerpoint) und xls (Excel). Dieses standardisierte Vorgehen ist effizient, hat aber einen Haken.
Kapitel 8: Die Wucht der Dampfwalze. Nicht nur die schiere Medienkonzentration der TX Group ist für eine Demokratie problematisch, die zu zwei Fabriken zusammenfusionierten Redaktionen sorgen noch für ein anderes Problem: Über alle, die ins Visier der Tamedia geraten, rollt eine Flut identischer Artikel hinweg, die von Medium zu Medium weitergereicht und verbreitet werden. Wird die ultradominante Machtstellung zum Bumerang für den Journalismus im grössten Medienkonzern?
Kapitel 9: Die politische Macht der TX Group. Verleger Pietro Supino spielt in der Schweizer Medienpolitik eine allmächtige Rolle. Dabei helfen ihm enge Bande zu einflussreichen Politikerinnen, perfektes Lobbying – und der Verlegerverband, der nicht selten hinter seinen Konzerninteressen zurückstecken muss. Supino spricht vielleicht manchmal als Verlegerverbandspräsident – handeln tut er als Konzernchef.
Kapitel 10: Wunderkind «20 Minuten». Die Gratiszeitung erreicht die grösste je in der Schweiz gemessene Reichweite im Lesermarkt. Sie ist eine hochprofitable Geldmaschine für die TX Group, doch der Preis dafür ist hoch: Das Medium ist ein Treiber der gesellschaftlichen Polarisierung – und vermischt ohne jede Skrupel journalistische Inhalte mit Werbung.
Kapitel 11: Goldgrube Goldbach. Die TX Group gewinnt immer: Mit der Übernahme des grössten Schweizer Werbevermarkters und dem in Kauf genommenen Konkurs von Publicitas dominiert der Medienkonzern jetzt auch den Schweizer Werbemarkt. Das Problem: Die Machtübernahme sorgte für existenzbedrohende Verluste bei vielen anderen Medien.
Kapitel 12: Die Daten von Ihnen, den Profit für sich. Wie geht es dem mächtigsten Medienkonzern der Schweiz? Durchzogen. Die Auflagen der Printtitel sinken weiter, die Zunahme der Onlinekunden vermag den Umsatzrückgang nicht aufzufangen. Corona drückt die Werbeeinnahmen weiter. Und auch bei den digitalen Marktplätzen ziehen dunkle Wolken auf am Horizont. Was tun? Die TX Group versucht mit anderen Schweizer Grossverlagen, Google, Amazon und Facebook zu imitieren – und mit den Daten ihrer Kunden Profite zu machen. Wird sie damit erfolgreich sein?
Bonus: Die offenen Fragen. Verleger Pietro Supino wollte unsere Fragen zu dieser Recherche bisher nicht beantworten. Im August hatte er einem Interview zugestimmt, dann um die schriftliche Einreichung der Fragen gebeten und zuletzt mitgeteilt, er wolle zuerst die Veröffentlichung der Serie abwarten. Daher veröffentlichen wir alle unbeantworteten Fragen.