Wunderkind «20 Minuten»
Bei den Bezahlmedien der Tamedia werden in den nächsten Jahren weitere 70 Millionen Franken eingespart. Unangetastet bleibt «20 Minuten». Das Gratismedium ist eine Geldmaschine der TX Group, ein eigenes Universum. Der Preis dafür ist hoch. Tamedia Papers, Kapitel 10.
Von Marc Guéniat (Text), Andreas Bredenfeld (Übersetzung) und Berto Martinez (Illustration), 19.12.2020
«20 Minutes», «20 Minuten» oder «20 Minuti»: In drei Sprachregionen ist die Gratiszeitung präsent, die so etwas wie das Wunderkind des Konzerns ist und mittlerweile mit seinen sechs Marken unter dem Dach der Holding TX Group ein Unternehmen für sich bildet – mit eigenem Verwaltungsrat.
Es ist ein profitables Wunderkind: 2017 erzielten die Tamedia-Bezahlmedien einen ausgesprochen stattlichen operativen Gewinn von 13,7 Prozent, aber «20 Minuten» lag mit 32,8 Prozent unangefochten an der Spitze. Und der Abstand wächst weiter: 2019 betrug seine Marge 27,5 Prozent, während die Bezahltitel nur auf 8,3 Prozent kamen. Bei diesem Tempo amortisieren sich alle Investitionen in «20 Minuten» innerhalb von nicht einmal vier Jahren.
Zur Serie «Tamedia Papers» – eine Familie, Geld, Macht und Medien
Wem gehört die Zeitung, die Sie morgens zum Kaffee lesen? Das Onlineportal, das Sie in der Mittagspause anklicken? Die Geschichte einer reichen und mächtigen Verlegerfamilie. Und was sie mit ihren Medien macht. Zum Auftakt der Serie.
Zur Welt kam das Wunderkind als Zangengeburt. 1999 brachte der norwegische Medien- und Onlinehandelskonzern Schibsted «20 Minuten» in der Schweiz an den Start. Schnell eroberte die kostenlose Zeitung die Agglomeration Zürich, das angestammte Revier der Tamedia, die mehrere Jahre brauchte, um zu reagieren. Dann griff sie zu einem Bluff: Der damals von Martin Kall geleitete Medienkonzern kündigte an, dass er an einem Montag im Februar 2003 eine eigene Gratiszeitung namens «Express» lancieren würde.
Medienexperte Ueli Custer, CVP-Gemeinderat in Lommiswil im Kanton Solothurn, erinnert sich an die damalige Strategie: «Tamedia hatte bereits Personal eingestellt. Drei Tage vor dem geplanten Start, am Freitag, gelang es dem Konzern jedoch, ‹20 Minuten› zu kaufen. Der ‹Express› erschien nie. So ein Manöver macht man nur, wenn man viel Geld hat. Und dahinter steckt nicht verlegerisches, sondern unternehmerisches Denken.»
Die höchste je gemessene Reichweite
Drei Jahre später machte Tamedia sich daran, mit der französischsprachigen Version den Westschweizer Markt zu erobern, und zwang das Verlagshaus Edipresse, zur Abwehr dieses Angriffs die Gratiszeitung «Matin Bleu» zu gründen. Diesmal bluffte Tamedia jedoch nicht, sondern lieferte sich eine Schlacht, aus der die Zürcher als Sieger hervorgingen. Nebenbei stürzte die Kannibalisierung des Werbemarkts die französischsprachigen Medientitel in noch grössere Schwierigkeiten.
Eric Hoesli, damals publizistischer Direktor bei Edipresse, sagt rückblickend: «Es war sehr schnell klar, dass der Markt da war. Das Publikum nahm das Angebot schnell an. Die Auswirkungen auf den Werbemarkt waren erheblich und machten sich vor allem für ‹Le Matin› und ‹Le Matin Bleu› bemerkbar. ‹20 Minuten› wurde in der Branche verachtet, verstand sich aber darauf, neue Leserkreise zu erschliessen.»
Rasch drückte Tamedias Gratiszeitung die Konkurrenz schweizweit an die Wand. Marktanteil, Auflage, Leserzahlen, Werbung: Sowohl in der Deutsch- als auch in der Westschweiz belegte «20 Minuten» in all diesen Kategorien den Spitzenplatz. Im Oktober 2020 verkündete die Zeitung stolz die höchste Reichweite, die je in der Schweiz erzielt wurde: 2,972 Millionen Leser täglich.
Das Problem des Vertrauens
Mehr als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung schaut jeden Tag in die Printzeitung, in die App oder auf die Website von «20 Minuten». Jedes gedruckte Exemplar wird von drei Personen gelesen, vor allem im Zug oder im Bus. Die logische Konsequenz: Auf nationaler Ebene entfaltet die Marke den grössten Einfluss auf die Meinungsbildung, und genau in diesem Punkt trübt sich das Bild dieses Erfolgs deutlich ein.
Die einzige Messgrösse, bei der «20 Minuten» nicht zuoberst auf dem Siegertreppchen steht, ist das Vertrauen, das seine Leserinnen dem Produkt entgegenbringen. Einer Reuters-Studie zufolge belegt «20 Minuten» in diesem Vertrauenswürdigkeitsindex nur den zehnten Platz und rangiert damit weit hinter den öffentlich-rechtlichen Medienangeboten und den sogenannten Traditionsmedien. Bei der Informationsqualität fällt das Resultat noch weniger schmeichelhaft aus: Hier ist «20 Minuten» nur Drittplatzierte unter den Gratis- und Boulevardzeitungen mit grossem Rückstand auf die 20 führenden Bezahlzeitungen im Land.
Dass «20 Minuten» ausschliesslich auf Werbung setzt, führt zu einem Wettlauf um Leserzahlen, der sich im Stil bisweilen den britischen «Tabloids» annähert. Das Zeitalter der Polarisierung, das von Verunsicherung, Abschottung oder Identitätskonflikten geprägt ist und Donald Trump und anderen Plutokraten zum Erfolg verhilft, spielt «20 Minuten» in die Hände.
In ihrer redaktionellen Ausrichtung lässt «20 Minuten» sich von einer «Klickpolitik» leiten, der es darum geht, dass ihre Inhalte in den sozialen Netzwerken für Diskussionen sorgen und geteilt werden, koste es, was es wolle. Die Leserinnen werden ermuntert, ihre Meinung beizusteuern, und können sich ebenfalls per Klick in den Meinungsstreit über Kommentare einschalten und sie «nett», «absurd», «widerlich», «richtig» oder «überflüssig» finden – oder einfach vermelden: «Love it».
2016 unterzog das Zürcher Onlineportal «Tsüri» die «lauteste Zeitung der Schweiz» einer eingehenden semantischen Analyse. «Tsüri»-Chefredaktor Simon Jacoby war der Verfasser der Analyse. «Ich wollte einschätzen, wie ‹20 Minuten› seine Verantwortung als einflussreichste Tageszeitung im Land auffasst.» Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass im Gratisblatt Nachrichten aneinandergereiht werden, die Ängste auslösen und sich häufig um Asyl, Landesgrenzen, Muslime und Terrorismus drehen. Innerhalb eines Jahres zählte Jacoby 281 Artikel zu den genannten Themen – im Durchschnitt mehr als ein Artikel pro Tag (am Wochenende erscheint «20 Minuten» nicht).
Der «gefährlichste Journalist der Schweiz»?
Die Verwendung von Zitaten oder der Frageform in den Schlagzeilen soll scheinbar signalisieren, dass man sich künstlich von Gefühlsaufwallungen distanzieren will. Eine Schlagzeile lautet zum Beispiel: «Sind 44 Prozent der Muslime radikal?» Oder zum Thema «arabische Migranten»: «Sie glauben, man dürfe mit Frauen alles machen.» Oder zum Thema Sicherheitsscans am Flughafen: «Wir müssen jetzt endlich unsere Schweiz schützen.» Und neben dem Foto eines jungen Mannes mit dunklem Teint, der ein Messer in die Kamera hält, wird gefragt: «Wie gefährlich sind minderjährige Flüchtlinge?»
Mögen die dazugehörigen Artikel im Ton gemässigter sein – die Auswahl der Bilder und Schlagzeilen entfaltet ihre Wirkung, zumal wenn derart komplexe Sachverhalte in 1500 Zeichen zusammengefasst werden. «Die SVP könnte es nicht besser machen», wird in der «Tsüri»-Analyse ein Journalist zitiert. Der wegen seines grossen Einflusses gelegentlich als «gefährlichster Journalist der Schweiz» bezeichnete «20 Minuten»-Chef Gaudenz Looser erläutert, für die Auswahl der Themen und ihre Aufbereitung seien die Journalistinnen zuständig, aber er nehme alles auf seine Kappe.
Es gibt noch einen zweiten «redaktionellen» Aspekt von «20 Minuten», der scharf kritisiert wird: die Partnerschaften. Die jüngste Partnerschaft ging die Zeitung mit Coop ein. Seit August 2020 erscheint die Gratiszeitung mit der 16-seitigen Beilage «Coopzeitung Weekend». Darin bieten die «Journalisten» von Coop «jungen Leuten – und allen Junggebliebenen» Nachrichten zu aktuellen Themen und Trendigem wie «kreative Rezepte, Lifestyle- und Nachhaltigkeitstipps, Ideen, Wettbewerbe sowie Rätsel» an.
In der Republik war dies bereits Thema: «Zwar ist es kein neues Phänomen, dass sich Unternehmen grosse Flächen in der Gratiszeitung der TX Group kaufen. Eine wöchentliche Werbebeilage aber, die im journalistischen Tarnmantel daherkommt, ist von anderem Kaliber.» Damit, so das Urteil, treibe das Blatt einen giftigen Stachel ins Fleisch der unabhängigen Presse.
Schleichende Werbung
Dass die Werbung sich in die redaktionellen Inhalte einschleicht, gehört zum Geschäftsmodell von «20 Minuten». Auch von Methoden wie Paid Posts, Native Advertising, Werbereportagen und gesponserten Inhalten macht die Zeitung intensiv Gebrauch, auch wenn sie – was nicht unerwähnt bleiben soll – damit keineswegs alleine steht.
Am 13. Oktober 2020 bekamen die Internetnutzer zudem von der zu Coop gehörenden Food-Plattform Fooby das «Rezept des Tages» serviert; es fehlte jeder Hinweis, dass es sich um Werbung handelte. Wer auf die «Parmesan-Popovers» klickte, landete direkt auf der Fooby-Website und konnte dort mit einem weiteren Klick – welch Überraschung! – zur Coop-Website gelangen und dort gleich die Zutaten für das Rezept kaufen.
Das ist der Preis für die Profitabilität von «20 Minuten».
«Pietro Supino sagte einmal zu mir: Wenn Tamedia New York ist, dann ist ‹20 Minuten Online› Manhattan», erzählt Hansi Voigt, der von 2007 bis 2013 die Online-Redaktion von «20 Minuten» leitete, bevor er der Gratiszeitung den Rücken kehrte und das Konkurrenzportal «Watson» gründete. Manhattan – das Glanzstück des «Big Apple», über das die ganze Welt diskutiert. Der New-York-Vergleich rückt unausgesprochen die Bezahlzeitungen des Konzerns in die Nähe der weniger gefragten Stadtviertel wie Brooklyn oder der Bronx.
2019 bekräftigte eben jener Pietro Supino, der Chef der TX Group: «Obwohl wir bei Tamedia immer noch mit einem Aktivitätsrückgang rechnen müssen, prognostizieren wir für Goldbach und ‹20 Minuten›, dass sie ihre Entwicklung auf hohem Niveau fortsetzen werden.» Goldbach ist der Vermarkter, der seit 2018 zur TX Group gehört und in dieser Serie noch zum Thema wird.
Wir haben bei der TX Group unter anderem nachgefragt, wieso «20 Minuten» derart stark von den anderen Titeln separiert ist, die unter der Tamedia zusammengefasst sind. Eine Antwort auf die Fragen haben wir nicht erhalten.
Die Covid-19-Pandemie hat die Werbeeinnahmen von «20 Minuten» zwar stark zurückgehen lassen, aber es besteht kein Anlass, das Geschäftsmodell der Zeitung in Frage zu stellen. Tamedia kündigte im August 2020 eine drastische Umstrukturierung in den Redaktionen seiner Bezahlmedien an, die grösste in der Geschichte des Unternehmens, mit der in den nächsten drei Jahren Einsparungen von 70 Millionen Franken erzielt werden sollen. Davon nicht betroffen sind laut Konzernbeschluss das Personal und die Investitionen bei «20 Minuten».
Im Gegenteil: «20 Minuten» durfte sich schon immer über Investitionen und Innovationen freuen und kann daher als erster Titel des Konzerns eine echte Onlinestrategie vorweisen. 2013 wurden die Redaktionen der Zeitung und des Onlineportals unter der Leitung eines einzigen Chefredaktors fusioniert.
«Modernität des Journalismus»
«20 Minuten» löst nach eigenem Bekunden als erste Zeitung die Devise «Web First» ein, während die anderen Redaktionen nach wie vor ihre Mühe haben, die finanziellen Mittel für die Weiterentwicklung ihrer Internetpräsenz zu erhalten. Inzwischen brüstet sich «20 Minuten» damit, das erste «Video First»-Medium zu sein. Ziel ist es, die Synergien mit dem Videowerbungsspezialisten Goldbach maximal auszubauen.
Auch diesmal handelt es sich nicht um einen Bluff: Die Zürcher Redaktion der Gratiszeitung verfügt mittlerweile über ein Studio, und die Direktion hat zugesagt, «massiv in den Ausbau der Redaktion und in die Aus- und Weiterbildung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter [zu investieren]. Letztlich sind dies Investitionen in die Modernität des Journalismus», führt Marcel Kohler, der Verlagschef von «20 Minuten», aus.
Diese Modernität macht sich offenbar vor allem an Unterhaltung und mehr oder weniger verschleierter Werbung fest. Am Nachmittag des 13. Oktober riefen «Heidi News» und die Republik im Rahmen dieser Recherche im Videoangebot von «20 Minuten» die Rubrik «Wirtschaft» auf: Beide Hauptthemen rückten Coop in den Fokus und wurden von McDonald’s-Werbung flankiert.
Im ersten 30-Sekunden-Beitrag ging es darum, dass das Schweizer Parlament womöglich den Verkauf von Süssigkeiten an Supermarktkassen verbieten will – die Bilder dazu wurden von Coop bereitgestellt. Der zweite Beitrag zeigt, von Musik unterlegt und mit Untertiteln versehen, in schönen Bildern die Inbetriebnahme der ersten Wasserstoff-Lastwagen durch Coop, die mit dem Logo des Detailhändlers über eine hübsche Landstrasse fahren.
Gezeichnet wurde der Beitrag mit «(20Minuten/Coop)».
Als Zeitung für junge Leute investiert «20 Minuten» auch in Radio, um sein Zielpublikum zu erreichen. 2019 übernahm Tamedia den Sender «Planet 105» und nutzt ihn, um unter dem neuen Namen «20 Minuten Radio» die User zu informieren und zu unterhalten. Nebenbei versucht man, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als altbacken hinzustellen: «Dabei gibt es, anders als bei gewöhnlichen Radios, kein Warten auf die Nachrichten zur vollen Stunde, die News werden gesendet, sobald sie geschehen», erklärte CEO Christoph Tonini. Dass «20 Minuten Radio» im Jahr 2020 fast eine halbe Million Franken an staatlicher Nothilfe erhalten hat, hängt man bei der TX Group hingegen nicht an die grosse Glocke.
Das Monopol bröckelt
Die neueste Investition ist die Ideenschmiede «Youth Lab», die 14- bis 16-jährigen Jugendlichen den Einstieg in die Erwachsenenwelt erleichtern soll. Initiatorin des Projekts war die Schweizer Forscherin Sandra Cortesi, die in Harvard am Berkman Center for Internet and Society recherchierte und mittlerweile im Verwaltungsrat von «20 Minuten» sitzt.
Ob das genügt? Die Vormachtstellung von «20 Minuten» über das vergangene Jahrzehnt kommt inzwischen ins Wanken, denn sie wird durch zwei zeitlich parallel verlaufende Entwicklungen gefährdet. Zum einen bröckelt das landesweite Monopol von «20 Minuten» auf die Pendlerinnenleserschaft, weil die Schlacht mittlerweile nicht mehr auf dem Papier, sondern auf den Smartphones ausgetragen wird. Somit muss sich das Gratismedium der Konkurrenz der gesamten sonstigen Presse und vor allem der internationalen Digitalgiganten wie Youtube und Facebook stellen.
Zum anderen wollen auch zwei Schweizer Konkurrenten mit Westschweizer Ausgaben an den Start gehen, damit sie Werbetreibenden ein landesweites Medieninventar anbieten können. 2021 werden Ringier mit «Blick.ch» und AZ Medien mit einer französischsprachigen «Watson»-Version versuchen, die Herrschaft von «20 Minuten» anzugreifen. Beide werden kostenlose Onlinemedien sein, und sie gehen mit beachtlichen Redaktionen und dem Versprechen an den Start, «echten» Journalismus zu machen, der sich als interessanter erweisen könnte als die Standardkost des TX-Gratisblatts.
Das Wunderkind wird also bald nicht mehr die alleinige Chefin im Ring sein. Der Kampf gegen die neue Konkurrenz dürfte erbittert werden und sich sowohl bei der TX Group in Zürich als auch in Lausanne bemerkbar machen.