Sieben Gründe, warum die Schweiz im Jahr der Pandemie mehr Klimaschutz verschlafen hat
Die Schweiz sieht sich gerne als Musterland. Doch damit ist es nicht weit her, im Gegenteil: Die Schweizer Politik lässt im Wettlauf gegen die Klimakrise wertvolle Zeit verstreichen. Auch im Corona-Jahr. Der Klimapolitik-Report 2020 der Republik.
Von Elia Blülle und Simon Schmid, 18.12.2020
Es gab diesen Moment, im April 2020, da war die Luft plötzlich sauber – im Schweizer Himmel, auf Schweizer Strassen, in der Schweizer Klimastatistik.
Zum Höhepunkt der ersten Corona-Welle sahen wir alle für kurze Zeit, wie eine Schweiz aussehen würde, in der die Menschen mit dem krudesten aller Mittel ihre Klimaziele erreichen müsste: mit blankem Verzicht. So würde sich eine Schweiz anfühlen, die es verpasst hat, ihre Infrastrukturen rechtzeitig umzurüsten – um das Klima zu schützen und dennoch ihren Lebensstandard aufrechtzuerhalten.
Was hat die Schweizer Politik im Jahr 2020 unternommen, um eine solche Zukunft zu verhindern? Was wurde getan, um Gebäude, Industrien und Verkehrsmittel klimafreundlicher zu machen, sodass wir sie mit gutem Gewissen weiter nutzen können – statt sie eines Tages einfach abzustellen?
Leider ziemlich wenig.
Zu diesem Schluss kommen wir im Klimapolitik-Report 2020. Vor zwei Jahren haben wir erstmals einen solchen Report publiziert. Damals lautete das ernüchternde Fazit: Weder die Ziele noch die Massnahmen, welche die Schweiz beschlossen hat, sind geeignet, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Im zweiten Report von 2019 stellten wir Verbesserungen fest, doch insgesamt immer noch zu wenig Ambition.
Die Klimastatistiken zu den vergangenen beiden Jahren, die der Bund erst kürzlich veröffentlichte, unterstreichen diese Feststellungen im Nachhinein:
2018 sind die inländischen Treibhausgasemissionen nur leicht gesunken, vor allem aufgrund des milden Winters, schrieb das Bundesamt für Umwelt (Bafu) im April.
Und im Juli folgte die Mitteilung: Auch 2019 gab es keinen Rückgang der CO2-Emissionen aus der Diesel- und Benzinverbrennung. Fortschritte gibt es nur bei den Brennstoffen.
Nach Einschätzung des Bundes wird die Schweiz ihr Klimaziel für 2020 – minus 20 Prozent Emissionen gegenüber 1990 – deshalb wohl verfehlen.
Trotzdem kann es sein, dass das Klimaziel aufgrund der Pandemie erreicht wird – definitiv klar wird das erst in eineinhalb Jahren, wenn die Emissionszahlen für 2020 aufbereitet sind. Doch selbst wenn ja: Es wäre ein Zufall.
Denn die Schweizer Klimapolitik hat immer noch nicht genug Fahrt aufgenommen. Statt ein klimafreundliches Investitionsprogramm aufzugleisen, hat sie sich darauf beschränkt, das vor über drei Jahren konzipierte CO2-Gesetz fertigzuberaten.
Ich will es genauer wissen: Der klimapolitische Rückblick auf 2020
Der zentrale Punkt auf der diesjährigen Agenda war das CO2-Gesetz. Nach fast dreijähriger Beratung fand am 25. September die Schlussabstimmung dazu statt. Übersteht es das Referendum, tritt das Gesetz am 1. Januar 2022 in Kraft.
Eigentlich hätte das Gesetz bereits 2021 in Kraft treten sollen. Doch wegen des Referendums, das von der SVP und vom Gewerbeverband getragen wird, verzögert sich der Termin. Nach einer mehrmonatigen Vernehmlassung hat der Bundesrat deshalb im November die revidierte CO2-Verordnung in Kraft gesetzt – eine Art Übergangsgesetz, das es erlaubt, die zeitlich befristeten Instrumente aus dem alten CO2-Gesetz bis Ende 2021 zu verlängern. Umweltorganisationen wie der WWF haben die Verordnung kritisiert, weil der Bund darin die Spielräume, die er hat, nicht ausnutzt. So wurde etwa darauf verzichtet, die CO2-Abgabe auf Brennstoffe von 96 auf 120 Franken zu erhöhen, und auch die Grenzwerte und Kompensationssätze für die Autobranche wurden vorerst nicht angetastet.
Im September hat der Bundesrat einen direkten Gegenentwurf zur Gletscherinitiative in die Vernehmlassung geschickt. Organisationen wie die Energiestiftung, aber auch die Initianten selbst sehen diesen als zu wenig ambitioniert an. Der Bund will kein Verbot fossiler Energieträger bis ins Jahr 2050.
Zwischenzeitlich hat der Bund zusätzliche Fördermittel für die Fotovoltaik freigemacht und diverse Beschlüsse zur Förderung von erneuerbaren Energien gefällt. Unter anderem soll die Warteliste bei Solaranlagen im Verlauf des kommenden Jahres vollständig abgebaut werden. Allerdings weist der Verband Swissolar darauf hin, dass die Rahmenbedingungen nicht genügen, um den grossen Ausbau an Solarkraft zu erreichen, den der Bund selbst ermittelt hat.
Verbesserungen soll das Energiegesetz bringen, das der Bund im Mai 2021 vorlegen will. Dieses wird mit dem Stromversorgungsgesetz gebündelt, zu dem dieses Jahr eine Vernehmlassung stattfand. Bis diese Gesetze beraten und gegebenenfalls vom Volk bestätigt sind, wird weitere Zeit verstreichen.
Die Corona-Pandemie macht 2020 in vielerlei Hinsicht zum Ausnahmejahr. Ein Jahr, das auch beispielhaft aufzeigt, wo die Mängel in der Schweizer Klimapolitik liegen – und wie man es anders machen könnte.
1. Das wichtigste Ziel ist zu vage definiert
Letztes Jahr machte der Bundesrat eine grosse Ansage: Die Schweiz soll 2050 netto null Treibhausgase ausstossen. Auch das Parlament hat ein Zwischenziel verschärft: 2030 soll im Inland eine Reduktion von 37,5 Prozent gegenüber 1990 erreicht werden. Zuvor waren es nur 30 Prozent.
Ziele sind wichtig. Gleichzeitig wecken sie den Eindruck, die Schweiz könne sich mit einschneidenden Massnahmen noch Jahrzehnte Zeit lassen.
Das stimmt aber nicht. Will die Welt eine 50-prozentige Chance bewahren, dass die globale Erwärmung nicht über 1,5 Grad steigt, so darf sie – gerechnet ab Ende 2020 – insgesamt nur noch rund 360 Gigatonnen CO2 ausstossen.
Dieses «Kohlenstoffbudget» entspricht dem aktuellen Ausstoss von gut neun Jahren. Die Idee, es genüge, wenn die Länder bis 2050 ihre Treibhausgasemissionen auf netto null reduzieren, ist damit nicht vereinbar.
Nimmt man beispielsweise einen linearen Absenkpfad bis 2050 an (was ambitionierter ist als die aktuellen Pläne der Schweiz), so würde das Kohlenstoffbudget um ungefähr 60 Prozent überschritten.
Eingehalten würde es nur, wenn das Netto-null-Ziel bereits 2038 erreicht würde (ebenfalls mit linearem Absenkpfad gerechnet).
Eigentlich müsste sich auch die Schweiz an dieser Marke orientieren. Doch die Idee des Kohlenstoffbudgets ist in der Politik noch nicht angekommen.
Ebenfalls noch nicht etabliert ist die Vorstellung, dass die Schweiz als reiches Land eine besondere Verantwortung fürs Klima hat. Dies, obwohl das entsprechende Prinzip im Pariser Klimaabkommen explizit festgehalten ist.
Gegenüber Europa gerät die Schweiz damit zunehmend ins Hintertreffen:
Die EU-Kommission hat im September ihr Zwischenziel für 2030 von minus 40 Prozent auf minus 55 Prozent verschärft – die Schweiz peilt minus 37,5 Prozent an.
Die Regierung von Österreich hat dieses Jahr angekündigt, das Netto-null-Ziel bis 2040 erreichen zu wollen – die Schweiz peilt 2050 an.
Laut Georg Klingler, Klimaexperte bei Greenpeace, erfüllt die Schweiz das Abkommen von Paris momentan auf dem Papier – aber nicht im Geist. «Die Schweiz müsste nachlegen und ehrgeizigere Ziele verkünden», sagt er.
2. Die Krise wird nicht als Chance begriffen
Die Pandemie hat die Schweizer Klimapolitik dieses Jahr paralysiert. Statt Massnahmen zu erarbeiten, welche die Wirtschaft stützen und ökologischen Mehrwert stiften würden, hat die Schweizer Politik nur das Ziel verfolgt, den Status quo aufrechtzuerhalten.
Währenddessen hat
die EU dieses Jahr einen Green Deal lanciert, ein Aktionsprogramm für eine grünere Wirtschaft;
Grossbritannien plant eine green recovery, ein 10-Punkte-Programm für eine «grüne industrielle Revolution»;
und Südkorea hat im Juli einen grünen «Korean New Deal» aufgelegt.
Wie Klimaorganisationen aufzeigen, sind diese Programme zwar nicht perfekt. Doch die Absicht dahinter ist löblich: Die Politik will Konjunkturförderung und Klimaschutz miteinander verbinden.
Die Schweiz hat es 2020 verpasst, eine ähnliche Initiative zu ergreifen. Dabei hätte es im Verlauf des Jahres durchaus Gelegenheiten gegeben, um klima- und konjunkturpolitisch aktiv zu werden:
Grüne Parlamentarierinnen forderten im Frühjahr Impulsprogramme «zur Stärkung einer resilienten Wirtschaft und Gesellschaft» und «für die Bereiche Energie und Biodiversität». Beides lehnt der Bundesrat ab.
Parlamentarier der Grünen und der SP forderten, das Covid-Kreditprogramm zu verlängern und auf «Investitionen in die Energiewende» beziehungsweise «zur Erreichung der Pariser Klimaziele» masszuschneidern. Auch dies lehnt der Bundesrat ab.
Greenpeace reichte per Petition, die von über 20’000 Bürgerinnen unterzeichnet worden ist, einen Vorschlag für ein grünes Impulsprogramm ein. Die Finanzkommission des Ständerats lehnt es ab.
Der Bund hätte die Krisenpolitik klimafreundlicher gestalten können, sagt Politikwissenschaftler Axel Michaelowa von der Universität Zürich. «Zum Beispiel wäre es möglich gewesen, die Notkredite für die Privatwirtschaft an ein Sanierungsobligatorium zu binden oder die Tourismusbranche zur Emissionskompensation der verkauften Reisedienstleistungen mittels Emissionsgutschriften zu verpflichten.»
3. Das Klima steht zu weit unten auf der Agenda
Grüne Konjunkturprogramme und politische Massnahmen sind das eine. Für die Klimawende braucht es aber noch etwas anderes: Aufbruchstimmung.
Wissenschaftlerinnen haben wiederholt auf die Parallelen zwischen der Pandemie und der Klimakrise hingewiesen: Um die absehbare Katastrophe abzuwenden, braucht es global koordiniertes Handeln – und zwar rasch.
Stattdessen zögert der Bundesrat: Er fürchtet sich davor, dass das CO2-Gesetz vor dem Volk scheitern könnte, will keine Risiken eingehen.
Dabei steht das Klima nach wie vor weit oben auf dem Sorgenbarometer der Bevölkerung. Es bleibt 2020 das viertwichtigste Thema – noch vor Zuwanderung, Krankenkassen, der EU.
Trotz anhaltender Klimademonstrationen und der grünen Welle bei den nationalen Wahlen liess die Landesregierung das Klima im Corona-Jahr links liegen. Weder in der Neujahrs- noch in der 1.-August-Ansprache von Simonetta Sommaruga, Bundespräsidentin und Energieministerin, kommt es vor. Und auch in den vor kurzem publizierten Jahreszielen 2021 hat die Klimapolitik keine besondere Priorität.
Ökonom Lucas Bretschger von der ETH Zürich ist trotzdem hoffnungsvoll: «Wenn der Umbau der Wirtschaft erst einmal in Gang gekommen ist, kann es auch auf der politischen Ebene plötzlich sehr schnell gehen», sagt er. «Zumindest hat das Parlament mit dem CO2-Gesetz jetzt erstmals eine griffige Klimapolitik formuliert.»
Für ihn ist aber auch klar: «Die Zeit drängt. Je schneller man die Prozesse anschiebt, desto eher beschleunigen sie sich auch von selbst.»
4. In den Bundesämtern herrscht Verwaltermentalität
In diesem Jahr wurde einer der grössten Schweizer Umweltskandale aufgedeckt: Eine einzige Lonza-Fabrik im Wallis verursacht 1 Prozent der gesamten Schweizer Treibhausgasemissionen. Seit mehreren Jahren stösst sie tonnenweise Lachgas aus. Das Werk richtet damit denselben Klimaschaden an wie die gesamte Stadt Luzern.
Doch obwohl das Bundesamt für Umwelt seit 2018 vom Lachgas wusste, versuchte es nicht, sich mit der Lonza auf eine sofortige Lösung zu einigen – gereicht hätte schon der Einbau eines Katalysators. Stattdessen schwieg es monatelang.
Auch die bedingungslose Milliardenzahlung an die Fluggesellschaft Swiss ist symbolisch für die Haltung des Bundesrats. Dieser solidarisiert sich in der Corona-Krise lieber mit den Unternehmen als mit dem Klima. In Frankreich lief das anders: Die Air France musste alle Destinationen im Inland streichen, die mit dem Zug in unter 2½ Stunden zu erreichen sind. Auch in der Schweiz hatten Wissenschaftlerinnen und Klimaorganisationen ähnliche Forderungen gestellt.
Dazu kommt, dass die Konditionen des Milliardenkredits geheim sind. Für den Grünen-Nationalrat Bastien Girod ist das ein Problem. «Man hätte die Airlines konkret auf das Netto-null-Ziel und auf den Pariser Vertrag verpflichten sollen», sagt er. «Und man hätte von tieferen Passagierzahlen nach Corona ausgehen sollen.»
In diesem Jahr wäre die Gelegenheit optimal gewesen, die Klimapolitik im Bereich der Luftfahrt fundamental zu überdenken. Angezeigt wäre eine generelle Reduktion der Flüge – denn allein mit Technologie lässt sich der Flugverkehr nicht rasch genug entkarbonisieren; klimaverträgliche Treibstoffe sind noch nicht marktreif.
Laut dem Klimaexperten Patrick Hofstetter von WWF Schweiz müsste die Schweiz deshalb von der Idee wegkommen, am Flughafen von Zürich-Kloten eine Drehscheibe im internationalen Flugverkehr zu betreiben.
«Das Hub-Konzept führt zu klimaschädlichen Sachzwängen», sagt er. Denn um die Langstreckenflüge ab Zürich rentabel zu betreiben, müssten die Flugzeuge gut gefüllt sein. Das gehe nur mit Umsteigepassagieren aus anderen europäischen Ländern. Um diese nach Zürich zu bringen, brauche es einen dichten Flugplan und viele Zubringerflüge – die wiederum nur mit Dumpingpreisen auszulasten seien. «So entsteht unter dem Strich viel Mehrverkehr.»
Das Bundesamt für Zivilluftfahrt müsse stärker beim Klimaschutz mitdenken, sagt Hofstetter. «Es kann nicht das Ziel der Airline-Rettungen sein, einfach die Situation von 2019 wiederherzustellen.»
5. Die Schweiz delegiert zu viel ins Ausland
Wäre die Schweiz ehrlich mit sich selber, ihre Klimabilanz sähe einiges schlechter aus. Da sich die internationale Klimapolitik am Territorialprinzip orientiert, muss sich die Schweiz nur um die inländischen Emissionen kümmern. Wenn also ein Detailhändler Bananen aus Ecuador in die Schweiz importiert, landet das dabei ausgestossene CO2 nicht in der hiesigen Klimabilanz, sondern in jener von Ecuador.
Die Konsequenz: Einen beträchtlichen Teil der Schweizer Emissionen müssen andere Staaten reduzieren.
Eine Strategie, wie man solche grauen Emissionen reduzieren könnte, gibt es nicht. Bezeichnend ist auch, dass die Schweiz für ihre einzige Klimainnovation andere machen lässt. Der Bundesrat hat in diesem Jahr als erste Regierung überhaupt Klimaschutzabkommen unterzeichnet. Es ermöglicht die Kompensation von CO2-Emissionen durch Projekte in den Vertragsländern, die man sich ans eigene nationale Reduktionsziel anrechnen lassen kann.
«Die Abkommen waren wichtig, um der Weltgemeinschaft zu zeigen, wie ausländische Kompensationen im Rahmen des Pariser Abkommens funktionieren könnten», sagt Axel Michaelowa von der Universität Zürich. «Der Schweiz ist es gelungen, mit den Verträgen klare Kriterien für die Umweltintegrität, Menschenrechte und Sozialstandards festzulegen. Hier ist sie eine Pionierin.»
Bislang hat die Schweiz Abkommen mit Peru und Ghana abgeschlossen. Mit weiteren Regierungen steht sie noch in Verhandlungen. Durch die Klimaprojekte in den Vertragsländern kann die Schweiz CO2 im Ausland günstig reduzieren – das Problem der hohen grauen Emissionen bleibt aber weiterhin ungelöst.
6. Man überlässt den Kantonen die Verantwortung
«Das ist Sache der Kantone» ist der Running Gag in der Pandemie. Sie hat verdeutlicht, dass der Föderalismus Krisen nicht gewachsen ist.
Das gilt auch für die Klimaerwärmung. Auch hier tragen die Kantone die primäre Verantwortung dafür, dass die Emissionen von Gebäuden gesenkt werden.
Zwei Massnahmen stehen im Vordergrund:
Öl- und Gasheizungen müssen durch Wärmepumpen und Fernwärme ersetzt werden.
Gebäude müssen saniert werden, sodass sie insgesamt weniger Heizenergie benötigen.
Im Vergleich zum Verkehr kommt die Emissionsreduktion bei den Gebäuden zwar voran. Der Sektor könnte das Klimaziel für 2020 knapp erreichen. Trotzdem geht es zu wenig schnell. Rund 3 Prozent der Gebäude müssten jedes Jahr energetisch saniert werden, schreibt der Verband Swisscleantech. Die Quote liegt aber seit Jahren unter 1 Prozent.
Ein Problem ist, dass die vorhandenen Fördermittel schlecht ausgenutzt werden. Dem Gebäudeprogramm stehen laut Bundesamt für Energie aktuell rund 370 Millionen Franken zur Verfügung. Hauseigentümer können diese Mittel anfordern, um Dächer und Fassaden zu dämmen, das Heizsystem umzustellen oder die Haustechnik zu verbessern. Doch der Bund hat 2019 nur 270 Millionen ausgezahlt – 100 Millionen Franken blieben liegen.
Eine Mitschuld tragen die Kantone: Sie müssen ihrerseits Gelder sprechen, um die Bundesmittel verteilen zu können. Manche Kantone tun dies zu selten – etwa Zug, Aargau und Solothurn, die bei den gesprochenen Beiträgen pro Kopf regelmässig die Schlussränge belegen.
Der Kanton Aargau hat im September sogar ein Energiegesetz per Abstimmung abgelehnt, das Massnahmen für Gebäude vorsah. Es ist eine von diversen Föderalismuspannen, die der Klimaschutz in der Schweiz erlitten hat. Auch in Bern und Solothurn wurden Energiegesetze in den letzten Jahren versenkt.
Deshalb solle der Bund aktiv werden, sagt Christian Zeyer, Geschäftsführer von Swisscleantech. Denn für Hauseigentümerinnen sei es oft schwierig, Finanzmittel aufzutreiben. «Die Investitionen lohnen sich vielfach nur, wenn man über einen Zeitraum von 30 Jahren rechnet», sagt er. «Das ist für viele Eigentümer zu lang.»
Ähnlich wie bei den Covid-Krediten könnte der Bund deshalb langfristige Ausfallrisiken übernehmen, wenn eine Hauseigentümerin einen Kredit für eine energetische Sanierung beantragt. Das Geld dafür könnte von einem Fonds kommen, der durch Banken und Pensionskassen gespeist wird.
7. Keinen Plan für die Landwirtschaft
Obwohl die Landwirtschaft für über 10 Prozent der Schweizer Gesamtemissionen verantwortlich ist, wird sie im neuen CO2-Gesetz mit keinem Wort erwähnt. Abgesehen von den höheren Treibstoffabgaben für Landwirtschaftsmaschinen tragen die Bauern weiterhin keine Konsequenzen für klimaschädliche Tierhaltung oder Anbaupraktiken.
Um das zu ändern, will der Bundesrat die landwirtschaftliche Klimapolitik in der neuen Agrargesetzgebung (AP 22+) regeln. In einem ersten Vorschlag fordert er, Bauern müssten 20 bis 25 Prozent zur Schweizer CO2-Reduktion beitragen. Entsprechende Massnahmen will er mit Milliarden von Franken unterstützen.
Nun hat der Ständerat aber auf Antrag seiner Wirtschaftskommission die Agrarreform sistiert. Der Entscheid – so berichteten es diverse Medien – geht zurück auf einen Kuhhandel zwischen dem Bauernverband und Wirtschaftsvertretern: Die bürgerlichen Parlamentarierinnen halfen, die unliebsame Reform zu verzögern, dafür engagierte sich der Bauernverband gegen die Konzerninitiative. Leidtragende dieser Politik ist das Klima.
«Die Sistierung der AP 22+ ist ein gewaltiger Schritt zurück», sagt Annemarie Raemy, die bei der Kleinbauern-Vereinigung für das Klimadossier zuständig ist. «Somit haben wir auf politischer Ebene weiterhin kein Klimakonzept für die Landwirtschaft.»
Nun muss der Bundesrat die bereits zahme Agrarstrategie nochmals überarbeiten. Gemäss Bundesrat Guy Parmelin könnte es nun im schlimmsten Fall bis 2025 dauern, bis die neuen Bestimmungen in Kraft treten könnten. Viel Zeit wird verstreichen, die wir nicht haben. Die Schweizer Klimapolitik versagt bei der Landwirtschaft ein weiteres Mal.
Fazit: Kein Vorbild, keine Innovation, kein Krisenbewusstsein
Die Schweiz sieht sich gerne als Klima-Musterland. Tatsächlich steht sie im Vergleich nicht schlecht da: Unter allen OECD-Ländern wies sie 2017 den zweitniedrigsten Treibhausgasausstoss pro Kopf aus, gemessen an der Wirtschaftsleistung war es sogar der niedrigste.
Doch diese Statistik klammert aus, dass die Schweiz sehr viele energieintensiven Industriebereiche ins Ausland verlagert hat und ihre grauen Emissionen hoch sind. Ausserdem ist sie, gemessen an der Einwohnerzahl, ein Land der Vielflieger.
Die Schweizer Klimapolitik genügt ihren eigenen, aber vor allem auch den internationalen Ansprüchen nicht. Als reiches Land könnte die Schweiz eine Vorbildrolle einnehmen – radikal umdenken und den wirtschaftlichen Wandel mit Impulsprogrammen anpeitschen.
Stattdessen verwaltet und bewahrt sie.
Nach fast einem Jahr Pandemie sollte die Politik wissen: In einer Krise kommt das selten gut.