Was bewirkt die Konzern-Initiative?
Firmen, die Menschenrechtsrisiken nicht sorgfältig prüfen, sollen in der Schweiz verklagt werden können. Bringt das vor Ort etwas? Der grosse Report zur Konzern-Initiative, Teil 2.
Von Ariane Lüthi (Text) und Daniel Stolle (Illustrationen/Animationen), 22.10.2020
Als ich in St. Gallen aus dem Zug steige, empfängt mich eine riesige Schokoladenreklame. Passend, denn ich bin unterwegs zum Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen – um ihn zu fragen, was sich auf den Kakaoplantagen eigentlich ändern würde mit der Initiative «für verantwortungsvolle Unternehmen».
Professor Florian Wettstein ist Mitglied des Initiativkomitees. Für ihn sind die Kakaofelder in Westafrika ein klassisches Beispiel, um die Frage der Unternehmensverantwortung zu diskutieren: Hier kommen die Bohnen für die meiste Schweizer Schokolade her, und die Missstände im Anbau sind gut dokumentiert. Ein Video der Kampagne erklärt es so: «Nestlé muss endlich auf Kinderarbeit verzichten. Genau darum braucht es die Konzern-Initiative.»
Jetzt ist es nicht so, dass Nestlé in der Côte d’Ivoire oder in Ghana direkt Kinder anstellen würde, um Kakaobohnen zu ernten – so weit sind sich alle einig. Zwischen Plantage und Firma stehen verschiedene Zwischenhändler: Die Bohnen werden fermentiert und getrocknet, die Säcke der Plantagen mit Motorrad oder Lastwagen eingesammelt, zwischengelagert und dann erst in die Lagerhallen der Grossabnehmer gebracht.
Was würde also die Initiative in der Kakaoproduktion bewirken?
Die Menschenrechtsspezialistin Ariane Lüthi nimmt die Konzern-Initiative unter die Lupe: Wie gut verhalten sich Schweizer Firmen? Welche Verbesserungen verspricht die Initiative? Gibt es Nebenwirkungen? In drei Etappen bildet sich Lüthi ein Urteil – und entscheidet sich zum Schluss, wie sie abstimmen will.
Sorgfaltsprüfung und Haftbarkeit
«Wichtig wäre hier primär die präventive Wirkung», sagt Wettstein. Wir sitzen in seinem schlichten Büro im Betonbau der St. Galler Hochschule. Wettstein braucht keine Notizen. Er lehnt sich im Stuhl zurück, spricht direkt. «Firmen wie Lindt & Sprüngli oder Nestlé müssten das Problem auf dem Radar haben. Sie müssten Menschenrechtsrisiken identifizieren, entsprechende Massnahmen ergreifen und darüber Bericht erstatten.»
Worauf der Wirtschaftsethiker hier Bezug nimmt, ist die unternehmerische Sorgfaltsprüfung in Bezug auf Menschenrechte. Sie ist der Kern der Uno-Leitprinzipien und das Herzstück der Initiative. Das Konzept soll sinngemäss nicht nur für Menschenrechte, sondern auch für Umweltstandards gelten.
Präventiv wirke die Initiative entlang der gesamten Wertschöpfungskette, fährt Wettstein fort. Die Sorgfaltspflicht beziehe sich nämlich «auf sämtliche Geschäftsbeziehungen» – so steht es im Initiativtext. Die Schweizer Schokoladenfirmen müssten also auch auf den Plantagen und bei den Zwischenhändlern die Risiken für Mensch und Umwelt erkennen, darauf reagieren und darüber berichten. «Wenn sie das ernst nehmen, müsste das eine Wirkung entfalten», sagt der Leiter des Instituts an der Universität St. Gallen.
Auch die Gegner der Initiative haben die Schokolade als Thema entdeckt. In einem Beitrag auf Linkedin moniert die Kampagne um das PR-Büro Furrerhugi, dass Schweizer Firmen die «totale Überwachung» drohen würde:
Du, Konzern-Verantwortungs-Initiative, warum ist Schokolade aus dem Ausland ok, die von Schweizer Firmen aber nicht?
Wenn mit «totale Überwachung» die Sorgfaltspflicht gemeint ist, dann kann ich aus Erfahrung sagen: Diese ist nichts Neues und auch nichts Schweiz-Spezifisches. Spätestens seit der Verabschiedung von Uno-Leitlinien im Jahr 2011 ist klar, dass Unternehmen genau diese Sorgfaltsprüfung umsetzen sollen, und zwar in Bezug auf eigene Aktivitäten und Geschäftsbeziehungen.
Diese Erkenntnis ist auch schon seit längerem in der Schweiz angekommen. Der Bundesrat «erwartet von den Unternehmen, dass sie auch ohne gesetzliche Verpflichtung eine Sorgfaltsprüfung gemäss den Uno-Leitprinzipien durchführen», heisst es in der Botschaft zur Initiative. Die Wirtschaftsverbände unterstützen dieses Konzept explizit.
Woran sich die Geister scheiden, ist, wie dieses Ziel am besten erreicht wird. Was sich mit der Initiative ändern würde, sind zwei Sachen:
Die Sorgfaltspflicht wäre neu gesetzlich vorgeschrieben und nicht «nur» international als erwartete Verhaltensweise etabliert.
Schweizer Firmen könnten in bestimmten Fällen in der Schweiz haftbar gemacht werden, wenn sie nicht aufzeigen können, dass sie eine angemessene Sorgfaltsprüfung durchgeführt haben.
Haftbarkeit – hier geht es ans Eingemachte.
Könnte also Nestlé wegen Missständen auf den westafrikanischen Kakaoplantagen in der Schweiz eingeklagt werden? Das komme darauf an, erklärt Wirtschaftsethiker Wettstein: «Die Haftungsregel greift nur dann, wenn der Verstoss durch ein von der Schweizer Firma kontrolliertes Unternehmen begangen wird. Das ist bei den Kleinbauern tief in Nestlés Lieferkette kaum der Fall.»
Die Haftung geht also deutlich weniger weit als die Sorgfaltspflicht: Sie bezieht sich ausschliesslich auf «kontrollierte Unternehmen». Gemeint sind Tochterfirmen im Ausland oder wirtschaftlich abhängige Geschäftspartner. Diese Bedingung wäre gemäss den Erläuterungen zur Initiative erfüllt, wenn eine «faktische Machtausübung» besteht – also wenn beispielsweise eine Firma den gesamten Ertrag einer Plantage aufkauft, das vertraglich so abgemacht war und die Bauern keine andere Absatzmöglichkeit haben, was hier ziemlich unrealistisch ist.
Kann die Schweizer Firma aufzeigen, dass sie eine angemessene Sorgfaltsprüfung vorgenommen hat, soll sie von der Haftung entlastet werden. Sie müsste dafür darlegen, dass sie «alle gebotene Sorgfalt» angewandt hat, um den Schaden zu verhüten – oder dass der Schaden auch trotz Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.
Wettstein erklärt es so: «Die Sorgfaltsprüfung sollte auch als Schutz für die Unternehmen angeschaut werden. Wenn man aufzeigen kann, dass man diese gemacht hat, dann soll man auch nicht für einen Schaden haften.»
Firmen und ihre Sicherungsmassnahmen
Auf dem Weg zurück von der Hochschule, durch das Quartier hinab zum Bahnhof, überlege ich mir, wie die neuen Regeln in einer Firma genau wirken würden. Für mich ist das eine der grossen Fragen: Führen die Haftungsregeln tatsächlich dazu, dass die vielen Firmen, die sich offensichtlich immer noch im menschenrechtlichen Blindflug befinden, ihre Sorgfaltspflicht besser wahrnehmen? Oder ergreifen Unternehmen wegen der Klagemöglichkeit – anders, als auf den ersten Blick zu erwarten wäre – eher Massnahmen, mit denen Mensch und Umwelt am Ende weniger gut dastehen?
Genau bei diesem Punkt bin ich mir nach wie vor unsicher.
Ich gehe daher meine Kontakte durch und melde mich bei Leuten, die in diversen Branchen im Nachhaltigkeits- und Beschaffungswesen arbeiten, um herauszufinden, welche Konsequenzen sie bei einem Ja erwarten würden.
On the record können die wenigsten dieser Personen mit mir sprechen. Aber auf vertraulicher Basis kommt doch einiges zur Sprache:
Wenn man als Unternehmen befürchten müsse, vor Gericht zu kommen, greife man zu sogenannten Sicherungsmassnahmen. Das könne bedeuten, dass vermehrt Maschinen statt Menschen eingesetzt werden. Oder dass man auf nationale oder sogar internationale Firmen zurückgreife, statt die Aufträge an kleine, lokale Unternehmen zu vergeben.
Solche Trends seien schlecht für die Leute vor Ort – die brauchen Jobs. Es sei unrealistisch, von allen lokalen Zulieferern zu erwarten, dass sie nach internationalen Standards wirtschaften. Diese zu etablieren, brauche Zeit. Wenn man riskiere, verklagt zu werden, straffe man lieber die Lieferkette.
Im Hauptsitz könne es heissen, dass versucht werde, alles zu kontrollieren. Und dass so alles in einem «Compliance-Wahn» ende. Dabei verliere man den Fokus und beschäftige sich mit überbordender Papierarbeit, die vor Ort nichts bringe.
Dann gebe es die Angst, dass man vor Gericht komme, obwohl man nichts falsch gemacht hat. Dies, weil beispielsweise lokale Partner oder sogar Konkurrenten die reiche Schweizer Firma sehen und Begehrlichkeiten entwickeln würden, die nichts damit zu tun hätten, dass internationale Standards verletzt worden wären. Oder weil ein Unternehmen für die Verfehlungen von Regierungen verantwortlich gemacht werde.
Sobald ein Fall vor Gericht stehe, rücke der Schutz von Mensch und Umwelt in den Hintergrund. Dann gehe es nicht mehr darum, vor Ort konstruktive Lösungen zu finden, sondern darum, eine Haftung unter allen Umständen abzuwehren.
Der Tenor aus vielen Gesprächen: Veränderung braucht Zeit, und der Wandel liegt meist nicht allein in der Hand der Firma – schon gar nicht über die Lieferkette hinweg. Diese Bedenken gegenüber rechtlich verbindlichen Sorgfaltspflichten teilt auch die Internationale Arbeitgeberorganisation.
Juan Gonzalez-Valero, Leiter Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit beim Agrochemie-Konzern Syngenta, ist bereit, sich zur Initiative zitieren zu lassen. Er drückt sein Unbehagen so aus:
Um Himmels willen, wenn du einen Gerichtsfall riskierst, redest du nicht mehr über Probleme! Wir schaffen es, auch in schwierigen Kontexten die Industrie zu bewegen und die lokalen Bedingungen den internationalen Erwartungen anzunähern – aber das geht nur, wenn man einander vertraut. Ansonsten riskieren wir amerikanische Verhältnisse, in denen alles über die Rechtsabteilungen und die Gerichte geht. Das läuft der Transparenz zuwider. Dabei ist genau die ein wichtiger Aspekt, um die Unternehmensverantwortung voranzutreiben.
Doch daneben gibt es auch Stimmen, die rechtlich verbindliche Standards als willkommene Hilfe ansehen, um die Sorgfaltsprüfung hoch auf die Agenda der Unternehmensleitung zu setzen und widerwillige Tochterfirmen auf Kurs zu bringen. Das klappe allerdings nur, wenn man nicht befürchten müsse, für jedes Problem vor Gericht gezerrt zu werden – und schon gar nicht für die Aktivitäten eines Geschäftspartners, den man nicht kontrolliert.
Haben meine Kontakte also recht? Ruiniert die Justiz das ganze Verhältnis zwischen den multinationalen Unternehmen und ihren lokalen Partnern?
Oder ist diese Angst überzogen, wenn man einen Schritt zurück macht und versucht, zu einem Urteil aus der Distanz zu kommen – so wie ich?
Der Nutzen von Gerichtsprozessen
Um etwas zu erfahren über die «amerikanischen Verhältnisse», die Gonzalez-Valero erwähnt hat, setze ich mich an den Computer. Und recherchiere, was passieren kann, wenn Gerichte einschreiten – auch dafür bietet die Schokoladenindustrie Anschauungsunterricht. Das Ergebnis ist ernüchternd.
In den Vereinigten Staaten sind Klagen hängig, die ehemalige Kindersklaven westafrikanischer Plantagen gegen Nestlé und andere Firmen eingereicht haben. Der Fall zieht sich seit 15 Jahren durch die Instanzen, die Kinder sind schon lange erwachsen, und eine Entschädigung für das ihnen widerfahrene Leid haben sie bisher nicht erhalten. Da stellt sich schon die Frage nach dem Nutzen solcher Gerichtsprozesse für die Menschen vor Ort.
Andererseits erinnere ich mich an ein Gespräch mit Andrew Clapham, Professor für internationales Recht am Graduate Institute in Genf. Er erzählte mir, dass Klagen helfen würden, die wirklichen Entscheidungsträger einer Firma an den Tisch zu bringen. Prozesse gegen Firmen in den USA hätten auch vor Ort durchaus einen Nutzen. Einige Unternehmen hätten Hand zu aussergerichtlichen Einigungen geboten. Und die Geschädigten hätten für die Verletzungen, die sie erlitten hatten, Wiedergutmachung erlangt.
In eine ähnliche Richtung weist die Studie, die Florian Wettstein bei meinem Besuch erwähnte. Darin hat er analysiert, was sich bei solchen Klagen innerhalb von Unternehmen ändert. Sein Fazit: Von mehr als 40 untersuchten Firmen fingen die meisten während oder kurz nach dem Gerichtsfall an, Menschenrechtsstandards besser in ihre Entscheidungen einzubeziehen.
Ich bin hin- und hergerissen.
Selbst wenn es zutrifft und Klagen vor Ort doch etwas verbessern, können sie gewiss kein geeignetes Mittel sein, um Mensch und Umwelt in einer globalisierten Welt breitflächig zu schützen. Gerichtsprozesse sind langwierig, für alle Beteiligten zehrend und wohl für die allermeisten Leute, die sich von einer Firma geschädigt fühlen, sowieso ausser Reichweite.
Wenn man primär erreichen will, dass Firmen Sorgfalt walten lassen, erscheint mir auch etwas anachronistisch, dass gerade Nestlé wieder wegen des Kakaoanbaus angegriffen wird. Denn es ist schwierig, einen Bereich zu finden, in dem eine Schweizer Firma in den letzten Jahren aktiver daran gearbeitet hat, Risiken zu identifizieren, Massnahmen zu treffen und darüber zu berichten. Das habe ich auch Professor Wettstein gesagt.
Was sollte Nestlé denn noch zusätzlich tun?
«Viele Firmen beteuern, dass sie bei der Sorgfaltsprüfung schon sehr viel unternehmen», lautete Wettsteins Antwort. Und das sei ganz im Sinn der Initiative. «Wenn Nestlé bereits viel gut macht, müsste die Firma auch vor nichts Angst haben.»
Zweites Fazit: Der Mechanismus ergibt Sinn
Es hat etwas Zeit gebraucht, um das Zusammenspiel von Sorgfaltspflichten und Haftung herauszuarbeiten. Doch nun ist mir die Mechanik dahinter klar:
Konzerne, die ihre Risiken sauber abklären und eindämmen, haben nichts zu befürchten. Und für die anderen bleiben potenzielle Klagen der ultimative Durchsetzungsmechanismus, um sie zur Sorgfaltsprüfung zu bewegen.
Diese Logik funktioniert aber nur unter zwei Bedingungen:
Wenn man darauf zählen kann, dass Schweizer Gerichte einen realistischen Massstab dafür anwenden, «wie viel» Sorgfaltsprüfung notwendig ist, damit sich eine Firma von der Haftung entlasten kann.
Und wenn ausgeschlossen werden kann, dass bei Annahme der Initiative eine Welle von missbräuchlichen Klagen auf die Schweiz zurollen würde.
Hier liegt für mich nun der Knackpunkt. Wie gut sind die rechtlichen Rahmenbedingungen?
Um dies herauszufinden, braucht es noch eine letzte Etappe. Sie zeigt in Teil 3 auf, ob die vorgeschlagene Haftbarkeit wirklich mehr nützt als schadet.
Ariane Lüthi ist spezialisiert auf Menschenrechte und unternehmerische Verantwortung. Sie hat internationale Beziehungen in Genf studiert. Danach hat sie ein Corporate-Social-Responsibility-Projekt in Bolivien durchgeführt, am Uno-Sitz in Genf das Team des Sondergesandten für Wirtschaft und Menschenrechte unterstützt und in Dänemark als Stipendiatin des Mercator Kollegs für internationale Aufgaben über unternehmerische Sorgfaltspflichten geforscht. Von 2010 bis 2015 arbeitete Lüthi als Menschenrechtsspezialistin bei Holcim. Für die Zementfirma führte sie Untersuchungen in Asien, Afrika und Lateinamerika durch. Danach trat sie in den diplomatischen Dienst der Schweiz ein und verfolgte im Iran das Thema der Unternehmensverantwortung weiter. Zurzeit ist Lüthi als Journalistin tätig und studiert Persisch an der Universität Zürich.