Am Gericht

Vom Versuch, einen Konzern juristisch zur Verantwortung zu ziehen

Wer ist verantwortlich, wenn für Profite die Umwelt zerstört oder Menschenrechte verletzt werden? Wie schwierig der Weg zu mehr Konzernhaftung ist, zeigt sich im Hickhack um die Konzern­verantwortungs­initiative in der Schweiz. Und in den USA, wo ehemalige Kindersklaven gegen Nestlé klagen.

Von Yvonne Kunz, 15.01.2020

«Wer aus der Tätigkeit eines anderen wirtschaftlichen Nutzen zieht, soll auch die damit verbundenen Risiken von Schädigungen Dritter tragen.» So umschreibt der Freiburger Rechts­professor Franz Werro den Grund­gedanken der sogenannten Haftung des Geschäfts­herrn gemäss OR Art. 55. Demnach ist das Unter­nehmen auch ohne direktes Verschulden für Schäden haftbar, die seine Angestellten verursachen.

Die Konzern­verantwortungs­initiative überträgt das Konzept auf globale Verhältnisse: Grossfirmen mit Sitz in der Schweiz sollen punkto Umwelt­schäden und Menschenrechts­verletzungen stärker in die Pflicht genommen werden. Dazu würde die gesetzliche Sorgfalts­prüfung auf Tochter- und allenfalls sogar auf Zuliefer­unternehmen im Ausland ausgedehnt. Konzerne müssten die Risiken und Konsequenzen ihrer Geschäfts­tätigkeit benennen. Und ein­schreiten, wenn inter­nationale Standards verletzt werden. Bei Verstössen würden sie haftbar. Betroffene könnten an Schweizer Gerichten nach Schweizer Recht Zivilklage einreichen.

Seit die Initiative 2016 eingereicht wurde, wandert sie zwischen den Räten hin und her. Zum Ende der Winter­session 2019 lag das Geschäft beim Ständerat, der über zwei Gegen­vorschläge zu entscheiden hatte. Jener des National­rats übernimmt die Grund­züge der Initiative, schränkt aber die Haft­pflicht ein. Der Ständerat sprach sich hingegen für den von Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter kurzfristig eingebrachten Vorschlag aus, der die Haftung ganz streicht und einzig eine Berichterstattungs­pflicht vorsieht. Nun ist wieder der National­rat am Zug. Und irgendwann die Stimm­berechtigten.

Die Verzögerungen sind im Interesse der Wirtschafts­verbände. Sie befürchten, die Schweiz würde zum «Eldorado für die internationale Klageindustrie». Ganz unrecht haben sie damit wohl nicht. Denn einerseits weist die Schweiz eine hohe Konzern­dichte auf. Andererseits sind Miss­stände bei Schweizer Konzernen Dauer­themen – in hiesigen Medien, aber auch vor Gerichten im Ausland. Man denke an Glencore mit seiner giftigen Kupfer­schmelze in Sambia. Oder an Nestlé: Das Unter­nehmen fördere mit seinen Geschäfts­praktiken Menschenrechts­verletzungen auf den Kakao­plantagen West­afrikas. Das sagen sechs ehemalige Kinder­sklaven, die in den USA eine Sammel­klage gegen den Lebensmittel­multi führen.

Ort und Zeit: United States District Court for the Central District of California (2010, 2017), United States Court of Appeals for the Ninth Circuit (2014 und 2019) und Supreme Court of the United States (2016)
Fall-Nr.: 2:05-cv-05-5133-SVW-MRW
Thema: Zwangsarbeit, grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung, Folter

Die sechs malischen Kinder­sklaven waren zehn bis vierzehn Jahre alt, als sie in den Neunziger­jahren verschleppt und verkauft wurden. Jahrelang haben sie auf den Kakao­plantagen in Côte d’Ivoire bis zu vierzehn Stunden täglich, sechs Tage die Woche, ohne Bezahlung geschuftet. Sie wurden von bewaffneten Wächtern beaufsichtigt, ausgepeitscht und verprügelt. Nachts schliefen sie eingesperrt auf dem Boden karger Hütten. Sie bekamen nur Speise­reste zu essen. Versuchten sie zu fliehen, wurden sie gezwungen, den eigenen Urin zu trinken.

Vor rund fünfzehn Jahren hat eine Gruppe Menschenrechts­anwälte um Terrence Collings­worth beim kalifornischen Bezirks­gericht in Pasadena deswegen die Klage John Doe I–VI v. Nestlé et al. eingereicht. Sie basiert auf einem mehr als 200 Jahre alten Gesetz, dem Alien Tort Statute, das ausländische Haftungs­klagen im Zusammen­hang mit schweren Verstössen gegen das Völker­recht und Staats­verträgen prinzipiell zulässt. Es bietet somit einen der noch wenigen rechtlichen Wege, multinationale Unternehmen für schädliche Folgen ihrer Geschäfts­tätigkeit international zur Rechenschaft zu ziehen. Das würde bei einem Ja zur Konzern­verantwortungs­initiative auch in der Schweiz möglich.

Gemäss Klage haben die Kakao­giganten Nestlé, Cargill und Archer Daniels Midland von den illegalen Praktiken nicht nur gewusst, sondern sie begünstigt. Zum Beispiel mit Boni und Kick­backs für Bauern, die den Kakao­preis tief halten. Oder 2001 mit intensivem Lobbying, das eine US-Gesetzes­vorlage zu Fall brachte, mit der ein Label für sklavereifreie Schokolade geschaffen worden wäre. Damit hätten die Konzerne gegen inter­nationale Verein­barungen im Bereich des Arbeits­rechts und gegen das Sklaverei­abkommen verstossen.

Langes Verfahren, kein Prozess

John Doe ist der Platzhalter für nicht identifizierte Personen. Er wird benutzt, wenn man nicht weiss, wer das Opfer ist – oder es nicht wissen soll. In diesem Fall wird er zum Schutz der Kläger verwendet. Denn wer gegen kriminelle Machen­schaften im west­afrikanischen Kakao­sektor vorgeht, lebt gefährlich. Als Beleg dafür wird in der Klage der Reporter Guy-André Kieffer erwähnt, der heiklen Verstrickungen von Konzernen, Banken und der ivorischen Regierung nachging. Er wurde 2004 gekidnappt und ist seither spurlos verschwunden.

Neben den John Does stützt sich die Klage auf die Internationale Arbeits­organisation der Vereinten Nationen, das US-Aussen­ministerium und die Unicef. Diese bestätigten unabhängig voneinander, dass Kinder­sklaverei auf den Kakao­plantagen Westafrikas weit verbreitet ist. Zitiert wird die journalistische Recherche «Bitter Chocolate» von Carol Off: «Nestlé, Archer Daniels Midland und Cargill kontrollieren die gesamte ivorische Kakao­produktion mit einem einzigen Ziel: billige Preise.» Dies wird verbunden mit Erkenntnissen der von George Soros gegründeten NGO International Crisis Group, die den ivorischen Kakao­markt als «Firmen­geflecht aus Schein­gesellschaften mit geheimen Bankkonten» beschreibt, über das schmutziges Geld sauber ins Ausland abfliesse.

Zum Prozess ist es seit Klage­erhebung nicht gekommen. Noch wird darüber gestritten, ob es ihn geben soll. Ob eine Gerichtsbar­keit in den USA über­haupt besteht. Ob angesichts der neuerdings restriktiveren Recht­sprechung des Supreme Court juristische Personen unter dem Alien Tort Statute überhaupt noch verklagt werden können. Und ob es, wenn ja, erlaubt ist, die Klage den neuen Begeben­heiten anzupassen.

Seit 2005 geistert der Fall durch die Instanzen. Zweimal wies das Bezirks­gericht in Pasadena die Klage ab, zuletzt 2017. Sie sei mangel­haft. Der Nachweis der vorsätzlichen Begünstigung von Kinder­sklaverei sei nicht gelungen. Zweimal, zuletzt 2019, kippte das zuständige Appellations­gericht diese Entscheide des Bezirks­gerichts. Die Kläger hätten ausreichend dargelegt, dass den Konzernen billiger Kakao wichtiger gewesen sei als das Wohl der Kinder.

Dass die USA in diesem Fall Gerichts­stand sein können, begründeten die Berufungs­richter einerseits damit, dass das Sklaverei­verbot eine «universelle und absolute Norm» sei. Sie gelte für alle, auch für Konzerne. Mit der strengeren höchst­richterlichen Praxis bei der Zulassung ausländischer Haftungs­klagen sei nicht jegliche inter­nationale Unternehmens­haftung vom Tisch. Für eine Briefkasten­firma ja, aber nicht für einen Schweizer Konzern mit grosser US-Niederlassung. Der Supreme Court verlange viel mehr einen engen nationalen Bezug. Und die Anschuldigungen in diesem Fall zeichneten in der Summe ein Bild von Sklaven­arbeit in Übersee, die durch Geschäfts­aktivitäten in den USA gestützt worden seien.

Der Fall geht in die nächste Runde

«Enough is enough!», schreiben nun die Konzern­anwälte. Sie haben im September 2019 beim Supreme Court erneut Beschwerde eingereicht, nachdem dieser es 2016 abgelehnt hatte, den Fall anzuhören. Das kalifornische Appellations­gericht sei «verwirrt». Es verstosse gegen das Prinzip der Gewalten­trennung. Das oberste Gericht müsse dringend intervenieren.

Sie erhielten im Oktober 2019 namhafte Unter­stützung. Coca-Cola, die Washington Legal Foundation, die Allied Educational Foundation und das Cato Institute, eine von Koch Industries mitbegründete libertäre Denkfabrik, reichten beim Supreme Court einen Brief ein, in dem sie sich hinter Nestlé stellten. Im US-Recht ist es Unbeteiligten gestattet, zu wichtigen Fragen eines hängigen Rechts­streits Stellung zu nehmen, wenn sie ihr Interesse am Verfahren belegen können.

Die Nestlé-Anwälte stellten sich in ihrer Beschwerde auf den Standpunkt, nicht die Justiz habe aussen­politische Interessen abzuwägen, sondern die Politik. Zwischen den USA und der West­afrikanischen Währungs­union bestehe ein Handels­abkommen. Damit wolle das Aussen­ministerium die Côte d’Ivoire wieder zum wirtschaftlichen «Powerhouse» der Region machen, zum Hort der Stabilität und zum Ausgangs­punkt internationaler Demokratie­bemühungen. Zum Bollwerk gegen religiösen Extremismus, gegen Terrorismus. Würde ein US-Gericht die dortige Kakao­industrie unter die Lupe nehmen, liefe dies den offiziellen Interessen der USA entgegen.

Dass es in der Wertschöpfungs­kette von Kakao zu gravierenden Menschen­rechts­verletzungen gekommen ist und noch immer kommt, bestreiten sie nicht. Doch Nestlé tue schon alles, um die Situation zu verbessern. Der Konzern nehme seine unter­nehmerische Sorgfalts­pflicht mehr als wahr. Der vorliegende Fall sei ein Parade­beispiel einer rechtlich unhaltbaren Schikane­klage, die das Rechts­system in «drastischer und unnötiger Weise» belaste und dem beklagten Konzern unverschuldet einen Reputations­schaden zufüge. Den Kinder­sklaven sei damit auch nicht geholfen. Im Gegen­teil. Die Klage bedrohe die wirtschaftlichen Möglich­keiten, die die Konzerne schafften, und ihren Einsatz für Menschenrechte.

Tatsächlich bleibt es ungewiss, inwiefern den ehemaligen und heutigen malischen Kinder­sklaven gedient ist, wenn das Rechts­gefecht nun in die nächste Runde geht. Und was gewonnen wäre, sollte der Supreme Court die Klage endgültig zulassen. Klar ist: Es werden Fakten ans Licht gebracht, welche die öffentliche Debatte befeuern. Und juristische Innovationen, wenn bestehendes Recht neu ausgelegt werden muss. Und sie können den Weg bereiten für neue Gesetz­gebungen wie die Konzern­verantwortungs­initiative.

Mächtige globale Firmen gibt es seit Kolonial­zeiten. Doch im Globalisierungs­schub der letzten zwei Jahrzehnte hat die politische Wirkungs­macht globaler Konzerne wie Nestlé gegen­über staatlichen Akteuren historische – und kritische – Ausmasse angenommen. Sie kontrollieren gewaltige Wertschöpfungs­ketten, sind in allen Märkten der Welt präsent und gestalten nationale und inter­nationale Politik – oft nach eigenen Interessen und entgegen jener der lokalen Bevölkerungen.

Ihnen das «anständige Wirt­schaften» im Sinne der altmodischen Geschäftsherren­haftung staatlich vorzuschreiben, erscheint so gesehen als eine Selbst­verständlichkeit. Sie ist auch inter­nationaler Trend. Nicht nur im angel­sächsischen Raum, auch in Frank­reich, Luxem­burg oder Italien gelten inzwischen strengere Haftungs­normen für multi­national tätige Konzerne. Die Schweiz wird weiter hinterherhinken.

Illustration: Till Lauer