Der Ausblick nach den Abstimmungen, neue Gesetze zu CO2 und Terrorismus – und eine Liebeserklärung
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (117).
Von Elia Blülle, Dennis Bühler, Daniel Ryser und Cinzia Venafro, 01.10.2020
Nur vier Mal war die Stimmbeteiligung in den vergangenen 50 Jahren höher als am letzten Abstimmungssonntag: Sie lag im Durchschnitt über alle fünf eidgenössischen Vorlagen bei 59,3 Prozent. Alles, was Sie zu den Resultaten des «Super Sunday» wissen müssen, hier so kompakt wie möglich:
Ja zu Kampfjets: Es droht schon die nächste Initiative
Worum es ging: Bundesrat und Parlament wollen bis 2030 die Luftverteidigung der Schweiz erneuern. Die Stimmbevölkerung konnte über den Rahmenkredit von 6 Milliarden Franken abstimmen.
Resultat: Äusserst knappe 50,2 Prozent der Stimmberechtigten sprachen sich für die Vorlage aus.
Wie es weitergeht: Der Bundesrat kann nun die Beschaffung der Kampfjets vorantreiben. Zur Auswahl stehen zwei europäische Jets (Rafale, Eurofighter) und zwei amerikanische Flugzeuge (F/A-18 Super Hornet, F-35). Im November müssen die Hersteller ihre zweite Offerte einreichen, und bis im Sommer 2021 will der Bundesrat entscheiden, welcher Flugzeugtyp die veraltete F/A-18 ersetzen soll. Doch damit dürfte das Geschäft noch nicht besiegelt sein. Beflügelt vom knappen Abstimmungsresultat, droht die «Gruppe für eine Schweiz ohne Armee» (GSoA), den Typenentscheid wie bereits bei der Gripen-Beschaffung 2014 mit einer Volksinitiative zu bekämpfen. Vor allem dann, wenn sich die Regierung für einen amerikanischen Flieger entschliessen sollte, stehen die Chancen gut, dass die Zukunft der Schweizer Luftwaffe bald ein weiteres Mal an der Urne verhandelt wird. Nicht zuletzt, weil US-Rüstungsgüter im Verdacht stehen, immer auch Interessen der USA dienen zu müssen.
Nein zum Jagdgesetz: Der Wolf bleibt geschützt – vorerst
Worum es ging: Derzeit darf ein Wolf erst abgeschossen werden, wenn er Schaden angerichtet hat. Das neue Jagdgesetz wollte den Kantonen mehr Kompetenzen geben und präventive Eingriffe in die Population erlauben.
Resultat: 51,9 Prozent lehnten das Jagdgesetz ab.
Wie es weitergeht: Das Jagdgesetz fand vor allem in den von Wolfsrudeln betroffenen Bergregionen Zustimmung, stiess jedoch in der Romandie und im bevölkerungsreichen Mittelland auf grossen Widerstand. Mit dem Nein bleibt das alte Gesetz von 1986 in Kraft – doch das dürfte nicht allzu lange so bleiben. Sowohl Gegner als auch Befürworter der Vorlage wollen so schnell wie möglich ein neues Gesetz ausarbeiten. Der Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch – einer der Gegner – hat bereits angekündigt, in der nächsten Session dazu einen Vorstoss einzureichen.
Nein zur Begrenzungsinitiative: Rahmenabkommen rückt in den Fokus
Worum es ging: Mit ihrer Initiative wollte die SVP erreichen, dass die Schweiz die Zuwanderung aus der EU wieder eigenständig regelt. Wäre sie angenommen worden, hätte der Bundesrat mit der EU innert eines Jahres über das Ende des Freizügigkeitsabkommens verhandeln müssen.
Resultat: 38,4 Prozent der Stimmenden sowie dreieinhalb Kantone (Tessin, Glarus, Schwyz, Appenzell Innerrhoden) sagten Ja zur Initiative.
Wie es weitergeht: Die SVP ist zum sechsten Mal mit einer ausländerkritischen Volksinitiative gescheitert. Ihr letzter grosser Erfolg liegt bald sieben Jahre zurück: Anfang 2014 wurde die Masseneinwanderungsinitiative angenommen. Dennoch will die SVP auch in Zukunft primär auf das Ausländerthema setzen, wie der neue Präsident Marco Chiesa sagt; gegen diesen Kurs wird parteiintern allerdings auch Kritik laut. Trotz des klaren Abstimmungsentscheids bleiben die Beziehungen zur EU weiterhin ungeklärt. Die Schlüsselfrage lautet: wie weiter mit dem Rahmenabkommen? Justizministerin Karin Keller-Sutter sagte am Sonntag, der Bundesrat werde seine diesbezügliche Position «in den nächsten Wochen festlegen». Zurzeit hat das 2018 ausgehandelte Abkommen einen schweren Stand: Im Bundesrat bekennt sich nur Aussenminister Ignazio Cassis klar dazu, von den Parteien formuliert einzig die GLP keine Änderungswünsche. Auch die Sozialpartner lehnen das Abkommen ab: Während sich die Gewerkschaften am in ihren Augen ungenügenden Schutz der Schweizer Löhne stören, befürchten der Arbeitgeber- und der Gewerbeverband, dass arbeitslose EU-Bürger via Unionsbürgerrichtlinie in der Schweiz Sozialleistungen beziehen könnten, ohne vorher hier gearbeitet zu haben. Vermutlich wird der Bundesrat deshalb versuchen, der EU in den nächsten Monaten weitere Zugeständnisse abzuringen – ob sich Brüssel darauf einlässt, ist völlig ungewiss. Einen wegweisenden Entscheid wird der Bundesrat Mitte Oktober fällen, wenn er über die Neuorganisation des Aussendepartements EDA befindet und damit festlegt, ob weiterhin Staatssekretär Roberto Balzaretti die Verhandlungen mit der EU führt.
Ja zum Vaterschaftsurlaub: Jetzt wird eine Elternzeit angesteuert
Worum es ging: Frischgebackene erwerbstätige Väter können – wahrscheinlich ab 2021 – zwei Wochen bezahlten Urlaub beziehen.
Resultat: 60,3 Prozent sagten Ja. Abgelehnt wurde der Vaterschaftsurlaub nur in der Inner- und in der Ostschweiz.
Wie es jetzt weitergeht: Der Bundesrat wird den Vaterschaftsurlaub voraussichtlich per 1. Januar in Kraft setzen. Die zwei Wochen sind in den Augen vieler linker Politikerinnen jedoch nur ein Etappensieg. Wirklich angestrebt wird eine ausgedehnte Elternzeit nach nordischem Vorbild. Noch am Abstimmungswochenende kündigte der Verein Public Beta an, bis Ende Jahr seinen Text für eine Volksinitiative mit je 16 Wochen bezahltem Urlaub bei der Bundeskanzlei einzureichen. Im zweiten Quartal 2021 soll dann die Unterschriftensammlung beginnen. Mit seinem Vorpreschen verärgert der Verein mögliche Allianzpartner. So fordern auch SP, GLP, Pro Familia, Pro Juventute, Alliance F und Männer.ch eine Elternzeit. Doch noch herrscht bei den Befürworterinnen kein Konsens über das Modell. Zur Debatte steht eine gleich lange berufliche Auszeit für Väter und Mütter von 14, 16 oder 18 Wochen. Oder ein flexibles Elternzeitmodell mit insgesamt 38 Wochen. Letzteres schlägt die Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen vor.
Nein zu den Kinderabzügen: Fokus auf Kita-Kosten und Individualbesteuerung
Worum es ging: Der Betrag, den Familien für die Drittbetreuung der Kinder von der direkten Bundessteuer abziehen können, sollte von 10’100 auf 25’000 Franken erhöht werden, der allgemeine Kinderabzug unabhängig vom Betreuungsmodell von 6500 auf 10’000 Franken.
Resultat: 63,2 Prozent lehnten die Vorlage ab.
Wie es weitergeht: Der ursprüngliche Vorschlag stammt vom Bundesrat. Die Regierung wollte, dass Eltern, die ihre Kinder extern betreuen lassen, dies bei den Steuern mit bis zu 25’000 Franken geltend machen können. Die Vorlage scheiterte, weil das Parlament auch noch die allgemeinen Kinderabzüge erhöhen wollte – und die SP dagegen das Referendum ergriff. Nun hat die Berner FDP-Nationalrätin Christa Markwalder einen Vorstoss für einen Plan B eingereicht. Sie fordert mit einer parlamentarischen Initiative, dass eben nur der erste Teil, die Abzüge für die Kinderfremdbetreuung, erhöht wird. Die SP hat sie hierfür schon im Boot. «Wir werden den Vorschlag von Frau Markwalder unterstützen», sagt SP-Präsident Christian Levrat. Die SP wiederum plant eine Initiative für günstigere oder gar Gratis-Kitas für alle. Die FDP fordert die Einführung der Individualbesteuerung. Diese würde die Heiratsstrafe bei der Bundessteuer beseitigen, so das Argument. Dagegen wehren sich die CVP und die SVP, weil damit Einverdienerhaushalte benachteiligt würden.
Abgestimmt wurde auch in Kantonen und Städten. Der Kanton Genf führt als vierter Kanton der Schweiz einen Mindestlohn ein. Im Kanton Aargau wird das Energiegesetz knapp abgelehnt, der den CO2-Ausstoss von Gebäuden senken wollte – und ein wichtiger Baustein der Schweizer Energiestrategie 2050 gewesen wäre. In der Stadt Bern haben satte 88,4 Prozent der Stimmberechtigten für mehr Transparenz bei der Parteienfinanzierung gestimmt. Die Abstimmung galt als Stimmungstest für die kommende nationale Transparenzinitiative.
Und damit zum Briefing aus Bern.
Unterlagen zu spät erhalten: Zehntausende Auslandschweizer ohne Stimme
Worum es geht: Von den gut 180’000 im Stimmregister eingetragenen Auslandschweizerinnen wurden am Sonntag viele an der Ausübung ihres Stimmrechts gehindert, weil sie die Unterlagen viel zu spät oder gar nicht erhalten hatten. Zu solchen Problemen kommt es immer wieder. Doch dieses Mal stellt sich zusätzlich eine brisante Frage: Hätten die Auslandschweizer das sehr knappe Ja zu den Kampfjets gekippt?
Warum Sie das wissen müssen: Auslandschweizer nehmen an Wahlen und Abstimmungen mit dem normalen Stimmcouvert teil. Ihre Stimme zählt in jenem Kanton, in dem sie zum letzten Mal Wohnsitz hatten – entsprechend sind die Kantone für den Versand der Unterlagen zuständig. Dass es wegen Covid-19 zu Problemen kommen würde, war absehbar: Am 1. Juli informierte der Bundesrat die Kantonsregierungen, dass ein früher Versand der Unterlagen «gegenwärtig besonders wichtig» sei. Ohne Erfolg. Gemäss Schätzungen der Delegierten des Auslandschweizerrats erhielt jede sechste Auslandschweizerin die Unterlagen zu spät. Hätten diese rund 30’000 Personen die Kampfjets vom Himmel geholt? Zur Erinnerung: Nur gerade 8670 Stimmen gaben den Ausschlag. Zweifelsfrei beantworten lässt sich die Frage nicht. Zum einen zeigt die politikwissenschaftliche Forschung, dass Auslandschweizerinnen in der Regel gesellschaftsliberaler, linker und ökologischer abstimmen als Inlandschweizer; andererseits stimmen sie aber auch etwas behördenfreundlicher ab.
Wie es weitergeht: Bei nationalen Urnengängen werden knappe Resultate nur dann nachgezählt, wenn es Hinweise auf Unregelmässigkeiten gibt, die den Ausgang potenziell entscheidend beeinflusst haben. Vermutlich wird es nicht dazu kommen, gibt es neuerdings doch ein Präzedenzurteil des Bundesgerichts: Im August wiesen die Lausanner Richter eine Beschwerde gegen das Ergebnis der letztjährigen Stichwahl für die Tessiner Ständeratssitze ab. 45 Stimmen hatten den langjährigen CVP-Ständerat und Vizepräsident der Auslandschweizer-Organisation Filippo Lombardi damals die Wiederwahl gekostet – und schon da hatten etliche im Ausland lebende Tessiner die Wahlunterlagen zu spät erhalten.
Neues Anti-Terror-Gesetz: Das Parlament stimmt zu
Worum es geht: Das Parlament hat in der Schlussabstimmung die neuen Gesetze zur Bekämpfung von Terrorismus angenommen und geht damit auf Konfrontationskurs mit dem Rechtsstaat. Neu sind damit «terroristische Aktivitäten» nicht mehr an eine schwere Straftat gekoppelt, sondern sind
«Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung», die «mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt» werden sollen. Gewalt, die Androhung von Gewalt oder Straftaten werden nicht mehr vorausgesetzt, um eine Aktivität als «terroristisch» einzustufen. Die Gesetze können bereits gegen 12-Jährige angewendet werden.
Warum Sie das wissen müssen: Mit diesen Gesetzen werde die Schweiz für autoritäre Regimes zum Vorbild – um Oppositionelle verfolgen zu können. Das sagte Fionnuala Ní Aoláin, die Uno-Sonderbeauftragte für den Schutz der Menschenrechte bei der Terrorismusbekämpfung, im Interview mit der Republik. Diese Kritik teilten diverse Menschenrechtsgruppen, allen voran Amnesty International, aber auch die Menschenrechtsbeauftragten des Europarates, weitere Uno-Sonderbeauftragte, die Schweizer Mitglieder des Uno-Ausschusses für die Rechte des Kindes, das Netzwerk Kinderrechte Schweiz sowie, in einem offenen Brief, über sechzig Rechtsprofessorinnen von allen Schweizer Universitäten: Die Gesetze bedrohten die Grund- und die Menschenrechte. Die verantwortliche Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) sagte wiederholt, die Bedenken seien unbegründet.
Wie es weitergeht: Das Gesetz gibt dem Bundesamt für Polizei (Fedpol) die Möglichkeit, Menschen als sogenannte «Gefährder» unter Hausarrest zu stellen, wenn es sich auf den Standpunkt stellt, man müsse davon ausgehen, dass diese in Zukunft eine Straftat begehen werden. Strafe ohne Tat: Das ist nicht vereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass sich bald der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Schweizer Gefährder-Fällen auseinandersetzen muss. SVP-Nationalrat Mauro Tuena hingegen gehen die Gesetze viel zu wenig weit: Eine Präventivhaft für sogenannte Gefährder wurde im Laufe der Beratungen vom Parlament aus dem Gesetz gekippt. Seine parlamentarische Initiative, lanciert am Tag der Schlussabstimmung des Gesetzes, will dies nun doch möglich machen. Damit sollen Menschen ins Gefängnis geschickt werden können für eine Tat, die sie noch gar nicht begangen haben.
CO2-Gesetz: Massnahmen im Strassen- und Flugverkehr
Worum es geht: Das Parlament hat nach einer zweijährigen Auseinandersetzung das neue CO2-Gesetz verabschiedet, mit dem die Schweiz das Klima-Übereinkommen von Paris umzusetzen gedenkt. Es sieht vor, dass die Schweiz bis 2030 ihre Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 halbieren muss; mindestens 75 Prozent der dafür vorgesehenen Massnahmen müssen im Inland erfolgen. Vor allem der Strassen- und der Flugverkehr werden mit höheren Abgaben belegt.
Warum Sie das wissen müssen: Die Schweiz wird das für 2020 gesetzte nationale Ziel nicht erreichen, welches sich das Land im alten CO2-Gesetz auferlegt hat. Nun soll das neue Regelwerk dafür sorgen, dass sich eine solche Blamage nicht wiederholt. Ob die gewählten Massnahmen aber wirklich ausreichen, um bis im Jahr 2050 unter dem Strich keine Treibhausgasemissionen mehr auszustossen, ist umstritten. Vor allem die Klimastreikbewegung fordert ambitioniertere Ziele und Massnahmen.
Wie es weitergeht: Noch ist unklar, ob gegen das CO2-Gesetz ein Referendum ergriffen wird. Die SVP hat zwar angekündigt, dass sie ein allfälliges Referendum unterstützen wird, sie hat bisher aber keine Führung bei der Unterschriftensammlung übernommen. Ebenfalls noch unklar ist, ob auch Vertreterinnen der Umwelt- und Klimaaktivisten das Gesetz bekämpfen werden. Sollten innerhalb der 100-Tage-Frist die nötigen 50’000 Unterschriften zusammenkommen, käme das Gesetz 2021 an die Urne.
Zum Schluss: Maurers Liebeserklärung an Badran
Stundenlang schon diskutiert der Nationalrat am letzten Donnerstag über die 99-Prozent-Initiative der Jungsozialistinnen, die Kapitaleinkommen wie Zinsen und Dividenden eineinhalbmal so stark besteuern möchte wie Arbeitseinkommen und zu der schliesslich nur die SP und die Grünen Ja sagen. Da schreitet Jacqueline Badran zum Rednerpult und richtet eine letzte Frage an Finanzminister Ueli Maurer. Es ist eine provokative Frage, wie man es von der SP-Politikerin kennt; entsprechend wird ihre Intervention von diversen SVP-Nationalräten mit gehässigen Zwischenrufen quittiert. Und wie reagiert Ueli Maurer? «Es braucht im Fall keine Zwischenrufe», sagt der SVP-Bundesrat. Badran und er verstünden sich sehr gut – «wir lieben uns schon fast ein bisschen». Während sich im Saal Heiterkeit breitmacht, setzt Maurer noch einen drauf: «Manchmal funktionieren wir wie ein älteres Ehepaar. In dieser Frage haben wir aber andere ideologische Ansichten. Wir kommen aus einer anderen Ecke, aber wir können auch mit anderen Ansichten leben.» Seine fast schon kitschige Rede – die auf Video besonders schön anzuhören ist – beendet Maurer mit einem Appell: «Sie, links und rechts, beurteilen diese Initiative eben anders, aber man kann trotzdem gut miteinander auskommen, auch wenn man eine unterschiedliche Ausgangslage hat.»
Illustration: Till Lauer