Wie die Pandemie die EU-Digitalpolitik entzaubert
Noch zu Jahresbeginn inszenierte sich die Europäische Union als Pionierin der Tech-Regulierung. Dann kam Corona.
Von Adrienne Fichter, 04.08.2020
Der grosse Wurf kam, wie so oft in Brüssel, begleitet von grossen Worten. «Ich will, dass das digitale Europa das Beste von Europa zeigt», sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Februar. Gemeinsam mit Vizepräsidentin Margrethe Vestager präsentierte sie die neue europäische Digitalstrategie – nach nur 100 Tagen im Amt. Es ist das Prestigeprojekt der beiden Spitzenpolitikerinnen. Ein mögliches Lebenswerk.
Der «Digital Services Act» soll Europa eine bedeutende Stellung im globalen Rennen um die Vorherrschaft über das Internet sichern – und dieses Internet gleichzeitig «offen, fair, vielfältig, demokratisch und selbstbewusst» regulieren, wie von der Leyen ankündigte. Was das konkret heisst, haben von der Leyen und Vestager schon mehrfach skizziert: Machtkontrolle gegenüber grossen Plattformen, Selbstbestimmung der Bürgerinnen beim Umgang mit ihren Daten, Schranken für den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Kurz: Die EU soll eine Pionierrolle für ethische Internetwirtschaft einnehmen. In den Monaten nach Februar hätte eine Art Vernehmlassung zu den neuen Gesetzespaketen laufen sollen.
Doch dann kam Corona. Und statt des «Besten von Europa» überrollte schonungslose Realpolitik den Kontinent.
Die Krise legte offen, welch riesige Baustellen von der Leyen und Vestager vor sich haben – und dass gerade in mächtigen EU-Staaten wie Frankreich oder Deutschland vieles anders läuft, als es auf dem Papier aussieht. Von einer gemeinsamen, einheitlichen und gar ethischen Digitalpolitik ist Europa noch weit entfernt.
1. Maskenkontrolle an der Metrostation
Die europäischen Staaten handeln in der digitalen Sphäre weitgehend eigenmächtig, unkoordiniert, widersprüchlich und teilweise entgegen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), dem international gefeierten europäischen Datenschutz-Meilenstein.
Bereits wenige Wochen nach Ausbruch der Pandemie nutzten verschiedene EU-Staaten Machine-Learning-Algorithmen, um den Ansturm auf das Gesundheitswesen zu bewältigen. Mehrere Länder liessen von einer Software berechnen, welche Covid-19-Patienten intensivmedizinisch versorgt werden sollten und welche nicht. Frankreich und Grossbritannien verwendeten dabei einen frailty score – ein Verfahren, um die Gebrechlichkeit von Patientinnen zu berechnen. Ein nachvollziehbarer medizinischer Nutzen, der allenfalls damit verbundene Risiken rechtfertigen kann – wenn denn der Einsatz sorgfältig überprüft würde.
Intelligente Algorithmen kamen aber auch anders zum Einsatz: bei der Überwachung von Bürgern im öffentlichen Raum. Ausgerechnet einer der gewichtigsten EU-Mitgliedsstaaten entwickelt sich dabei zum Turbo und vielleicht auch langfristig zum Sorgenkind: Frankreich.
Wohl kaum ein anderes europäisches Land hat in der Krise seine technologische Überwachung so stark ausgebaut. Im März 2020 gab es rund 1,8 Millionen coronabezogene Polizeikontrollen, mitgeteilt wurden dabei gut 90’000 überwiegend geringfügige Verstösse. Die Behörden nutzten dazu die mittlerweile im ganzen Land fast omnipräsente Videoüberwachung: Frankreich ist bei der biometrischen Identifizierung, also der Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, deutlich weiter als andere europäische Staaten. Ein Grund dafür war die massive Ausweitung der staatlichen Kompetenzen nach dem Terroranschlag von 2015 auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo».
Manche Städte sind längst flächendeckend mit entsprechender Technologie ausgerüstet. Nizza arbeitet seit dem Terroranschlag von 2016 mit der israelischen Firma Anyvision zusammen, die Stadt Toulouse mit IBM, andere französische Regionen mit Huawei. Entsprechend reagierte man nun auch in der Pandemie.
Nach der Notstandsverkündung am 16. März liessen Polizistinnen in Cannes beispielsweise ungerührt Drohnen fliegen, welche die Bürger an die staatlichen Massnahmen erinnerten – und im Zweifel auch die Einhaltung derselben beobachteten. Bei der Pariser Metrostation Châtelet – Les Halles ermittelt eine Kamera mitsamt Videoüberwachungssoftware der Firma Datakalab, ob alle Personen Masken tragen. Und das französische Innenministerium nutzte die Pandemie gleich noch, um eine digitale Identitätskarte zur Pflicht zu erklären – mitsamt der Möglichkeit zur Gesichtserkennung.
Auch andere EU-Staaten haben das Zeitfenster der eingeschränkten Grundrechte genutzt, um ihre digitalen Überwachungsbefugnisse auszuweiten. Sogar teils mit legislativer Mitwirkung. So hat das neue Parlament der Slowakei im Eilverfahren ein neues Gesetz verabschiedet, das als «Lex Korona» bezeichnet wird. Es ermöglicht den Gesundheitsbehörden Zugang zu Mobiltelefondaten, mit denen sie infektionsgefährdete Personen verfolgen können. Anfang März verschickte die slowakische Regierung automatisch SMS an alle slowakischen Smartphone-Nutzerinnen, die sich in Italien, Frankreich und anderen Ländern aufhielten.
Einige Privatunternehmen haben den Ausnahmezustand ausgenutzt, um gewisse heikle Pilotprojekte in den Normalbetrieb zu überführen – im Namen der Pandemiebekämpfung. Die Privacy-Expertin Frederike Kaltheuner von der Mozilla Foundation spricht von «einer Welle sogenannter Arbeitsplatzüberwachung». Unternehmen forderten die Installation von Spyware-Software zur Überwachung von Arbeitnehmern im Homeoffice, in Fabriken wurden Geräte zur Temperaturkontrolle eingeführt.
In Spanien entwickelte etwa das Rüstungs- und Technologieunternehmen Indra eine App, die misst, in welchem Masse Arbeitnehmerinnen Covid-19 ausgesetzt waren. Die Risikoberechnung basiert auf der Überwachung des Aufenthaltsorts und der Körpertemperatur eines Mitarbeitenden. Die Risikowerte, also sehr heikle persönliche Daten, werden dabei auch in Personalverwaltungssysteme integriert. Die App war frei verfügbar.
Fazit: Für angebliche europäische Tugenden wie Datentransparenz, Selbstbestimmung via «Opt-in» oder Diskriminierungsschutz blieb während der Corona-Krise keine Zeit – die Pandemie verlangte nach schnellen technologischen Antworten.
Dabei hatte sich insbesondere Vizekommissionspräsidentin Vestager zur biometrischen Gesichtserkennung im öffentlichen Raum im Februar unmissverständlich geäussert: Es brauche in der EU eine Debatte darüber, in welchen Situationen – «falls überhaupt je» – diese gerechtfertigt sei, sagte sie damals. Die Realität ist längst weiter.
2. App-Entwickler mit Datenhunger
Dass die Gesetzgebung der Realität meist hinterherhinkt, gehört zum stets langwierigen politischen Prozess dazu. Tatsächlich meldete sich Vestager kürzlich bereits mit deutlichen Worten zurück: «Gewisse Formen von künstlicher Intelligenz wie Predictive Policing [vorhersagende Polizeiarbeit, basierend auf Algorithmen und Daten] sind wegen ihres grossen Diskriminierungspotenzials nicht akzeptabel.»
Schwerwiegender für die Glaubwürdigkeit der EU war, dass die Corona-Krise eine ihrer mächtigsten Inszenierungen grundsätzlich infrage stellte: jene der moralischen Instanz, die als Wächterin der Privatsphäre gegen die datenhungrigen Tech-Konzerne im Silicon Valley antritt.
Denn beim digitalen Contact-Tracing, dem Nachverfolgen von Kontakten über Smartphones und Apps, lief es für einmal genau umgekehrt.
Die zwei EU-Staaten mit den strengsten Datenschutzgesetzen – Deutschland und Frankreich – wollten zentralisierte Contact-Tracing-Apps einsetzen und damit grosse Datenbanken mit beträchtlichem Missbrauchspotenzial aufbauen. Sie folgten damit dem Drängen von Epidemiologinnen, die die Bewegungen von Infizierten und Kontaktpersonen möglichst weitgehend einsehen wollten, um die Ausbreitung des Virus zu beobachten. Das mag aus epidemiologischer Sicht sinnvoll sein – aus Datenschutzsicht jedoch ist es ohne Beschränkungen eine Katastrophe, wie Beispiele in Asien zeigen. Denn: Wenn die Gesundheitsbehörden nur wollen, können sie damit jeden Einwohner identifizieren.
Doch diesmal waren es bekannte Datenkraken wie Google und Apple – sekundiert von weiten Teilen der akademischen IT-Welt –, die plötzlich auf Datensparsamkeit und Privatsphäre als unverzichtbaren Standard pochten. Sie waren dabei so konsequent, dass EU-Staaten mit zentralisierten Contact-Tracing-Apps diese teilweise nicht einmal in den entsprechenden Stores freischalten konnten. Sie funktionieren nicht mit den Schnittstellen von Apple und Google und haben es bis heute schwer. So können französische Nutzerinnen beispielsweise ihre Begegnungen mit potenziell Infizierten nicht einfach im Hintergrund aufzeichnen lassen, wie dies mit der Schweizer Covid-App möglich ist. Stattdessen muss die App dauernd im aktiven Modus laufen, damit sie funktioniert. Eine Push-Benachrichtigung von Facebook auf dem Smartphone reicht bereits für einen Unterbruch.
Die Politiker tobten – und verwiesen auf ihre staatliche Souveränität. Cédric O, Frankreichs stellvertretender Minister für digitale Angelegenheiten, sagte: «Ein grosser Konzern, wie effizient er auch sein mag, sollte einem souveränen Staat nicht seine Entscheidungen im Bereich öffentliche Gesundheit diktieren.» Der Digitalminister liess keinen Zweifel: Wenn es dem nationalen Interesse dient, gehört Datensparsamkeit plötzlich nicht mehr zwingend zur digitalen DNA Europas. Sein Protest ist nachvollziehbar: Denn ja, ein Suchmaschinenriese und ein Hardware-Gigant aus dem Silicon Valley diktieren europäischen Ländern, wie sie epidemiologische Kontaktnachverfolgung zu bewerkstelligen haben – aus demokratie- und staatspolitischer Sicht ein massiver Souveränitätsverlust.
Genau hier aber liegt die grosse Schwachstelle der europäischen Digitalpolitik: Wer als glaubwürdiger Akteur gegen die Tech-Giganten antreten will, muss – bei allen guten Absichten – früh und klug handeln. Stattdessen arbeitet beim Thema Tracing-App auf EU-Ebene seit Monaten eine Arbeitsgruppe an Vorgaben für ein technisches Protokoll. Auf allzu einheitliche Richtlinien wurde bereits verzichtet, um einzelne Mitgliedsstaaten nicht zu verärgern. Jetzt steht man vor zwei Dutzend verschiedenen europäischen Apps – und bis vor kurzem war unklar, wie diese überhaupt zusammenarbeiten können. Zwar warnte Vestager bereits am 9. Mai im EU-Parlament: «Ohne Interoperabilität werden wir nicht reisen können.» Doch erst am 12. Juni verabschiedete das E-Health-Network der EU Richtlinien für den Datenaustausch zwischen allen europäischen App-Lösungen. Ergebnis: Die EU unterstützt endlich nur noch den dezentralen Ansatz. Frankreich muss den Souveränitätsverlust schlucken.
Der Reputationsschaden ist allerdings schon angerichtet. Es waren die US-amerikanischen Tech-Riesen, gemeinsam mit einigen Fachleuten, die den bürgerfreundlicheren Vorschlag vorantrieben – nicht die angeblich so datenschutz-affine EU. «Offen, fair, vielfältig, demokratisch und selbstbewusst», wie von der Leyen es nannte, sieht anders aus.
Das gilt auch für die wohl grösste Baustelle, mit der die europäischen Vorkämpferinnen für «digitale Souveränität» zu kämpfen haben: Irland.
3. Der Kuschelkurs gegenüber Big Tech
Irland ist Standort vieler grosser Unternehmen und bringt andere Mitgliedsstaaten mit seiner zuvorkommenden Politik gegenüber den Tech-Konzernen gegen sich auf. Dieser Konflikt zeichnete sich schon lange vor der Pandemie ab – und wird Europa auch weiter beschäftigen. Im Zentrum steht dabei der eigentliche Exportschlager der EU: das Datenschutz-Paket DSGVO.
Das nun zweijährige europäische Regelwerk droht trotz seiner globalen Signalwirkung zur Makulatur zu verkommen. Einerseits, weil die E-Privacy-Verordnung seit Jahren verschleppt wird. Die Richtlinie soll etwa die abstrakten DSGVO-Regeln konkretisieren und den Datenhandel bei Websites klar regulieren. Doch aufgrund massiven Drucks der Werbeindustrie haben sich EU-Kommission und EU-Ratspräsidentschaft bis heute nicht zu einem Entschluss durchringen können.
Zwar haben die nationalen Behörden manchen Unternehmen durchaus saftige Bussen wegen Verstössen gegen die Datenschutzregeln aufgebrummt, wie man dem Monitoring-Tool Enforcementtracker.com entnehmen kann (man beachte das Urteil in Italien gegen den Telecomkonzern TIM – 27 Millionen Euro Busse). Doch vor allem an den wirklich grossen Unternehmen sind die Behörden bislang gescheitert. Ende 2019 hingen ganze 23 Fälle gegen Big-Tech in der Luft.
Das Hauptproblem liegt also bei der Rechtsdurchsetzung. Anders gesagt: Das Problem heisst Irland.
Der Kleinstaat ist der europäische Hauptsitz vieler Konzerne wie Apple und Facebook und daher Anlaufstelle für viele entsprechende Beschwerden. Die Organisation noyb – ein Akronym für «None of Your Business» – reichte gemeinsam mit dem federführenden Juristen Max Schrems noch am Tag des Inkrafttretens der DSGVO gleich drei Beschwerden in Dublin ein. Sie betreffen Facebook-Tochterunternehmen (Whatsapp, Instagram, Facebook). Der Vorwurf: Die Tech-Konzerne hätten sich mit pauschalen Updates der Datenschutzerklärungen rund um den DSGVO-Stichtag vom 25. Mai 2018 einen Blankocheck ausgestellt.
Die eigentlich notwendige persönliche Einwilligung für Tracking, Datenverknüpfung und Personalisierung sei mit den Rundum-Updates gewissermassen erzwungen worden. Hätte etwa ein Whatsapp-Benutzer Klauseln abgelehnt, so hätte der Mutterkonzern als zweite Option nur die Löschung des ganzen Benutzerkontos angeboten. «Das ist keine wirkliche Wahl», argumentiert Schrems. Es steht dem Geist der europäischen Datenschutzverordnung entgegen, die Freiwilligkeit und Koppelungsverbote auf ganzer Linie vorsieht.
Die irische Datenschutzbehörde liess sich lange Zeit mit der Entwicklung der Klagen gegen die Facebook-Subunternehmen. Sie wollte ihre Bussen gemäss Recherchen des Magazins «Politico» eigentlich Ende 2019 verhängen. Stattdessen verkündete sie schliesslich im Mai 2020, dass sie gerade mal die ersten beiden von sechs Schritten im Bussenprozess erfolgreich abgeschlossen hat. Die Organisation noyb schrieb daraufhin einen offenen Brief an die EU, der den Eindruck vieler Beobachterinnen zusammenfasste: Wenn Klagen gegen Big Tech so lange liegen blieben – in diesem Tempo könne das gut zehn Jahre dauern –, blieben dem durchschnittlichen Bürger seine «grundlegenden Rechte» verwehrt.
Kurz: Ohne tatsächliches Handeln bleibt die hochgelobte DSGVO ein zahnloser Papiertiger.
Tech-Giganten wie Google pochen darauf, rechtliche Konflikte im konzernfreundlichen Irland auszufechten. In Frankreich etwa haben sie schlechtere Chancen: Hier musste Google nach einer Beschwerde von noyb und der französischen Datenschutzbehörde CNIL bereits 50 Millionen Euro Strafe wegen Verstosses gegen die DSGVO bezahlen. Frankreich fährt also zwar einen problematischen Kurs, wenn es um die staatliche Überwachung geht – privatwirtschaftliche Firmen hingegen packt es bei Datenschutzverstössen deutlich entschiedener an als Irland.
Auch andere bekannte Watchdogs wie der Hamburger Datenschützer Johannes Caspar bescheinigen Irland «schlechte Arbeit». Oft würden an Dublin überwiesene Beschwerden versanden. Das räumt auch Datenschutzchefin Helen Dixon selber ein: Sie klagt über zu wenig Personal und fehlendes Know-how, um gegen Grosskonzerne wie Apple und Google wasserdichte Verfahren zu führen.
4. Und jetzt?
Im Zusammenhang mit den 5G-Handyfrequenzen zogen zwei Autorinnen der Bertelsmann-Stiftung Bilanz über die so gern zitierte «digitale Souveränität». Die EU schaffte es nicht, sich bei diesem so wichtigen Infrastrukturprojekt zu koordinieren. Stattdessen führten 28 Mitgliedsstaaten ihre jeweils eigenen Verfahren durch, 28-mal verabschiedet man unterschiedliche Vorgaben für Netzwerkausrüster. Zur Freude des umstrittenen chinesischen Konzerns Huawei. Er profitiert von diesem «europäischen Vakuum» bei wichtigen Technologiefragen wie 5G und verhandelt mit allen EU-Staaten bilateral.
Das Fazit der Autorinnen könnte man genauso für die gesamte europäische Digitalpolitik ziehen: Die Mitgliedsstaaten seien «in entscheidenden Fragen uneins» und suchten nationale Lösungen, «die einer effektiven europäischen Digitalpolitik im Weg stehen».
Und jetzt? Es gibt zwei Entwicklungen, die trotz allem hoffnungsvoll stimmen:
Insbesondere Vizepräsidentin Vestager, langjährige Wettbewerbskommissarin, hat schon mehrfach bewiesen, dass sie ihren politischen Auftrag ernst nimmt. Mitte Juni kündigte sie denn auch an, gegen Apple wegen möglicher Wettbewerbsverstösse mit seinen Vorgaben für das Betriebssystem iOS vorzugehen. Kurz darauf folgte die klare öffentliche Kritik am Einsatz von Algorithmen in der Polizeiarbeit. Vestagers harte Wettbewerbslinie inspirierte sogar den amerikanischen Kongress: Letzte Woche mussten sich die CEOs von Google, Facebook, Apple und Amazon in einem Hearing wegen ihrer Monopolstellung verantworten. Vestager und von der Leyen möchten das ambitionierte Regulierungspaket – den Digital Services Act – bis Ende Jahr verabschieden.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) zeigt deutlich mehr Zähne als die Entscheidungsträgerinnen der einzelnen EU-Länder. Der EuGH schafft dort Fakten, wo sich die EU-Kommission aus Rücksicht auf die Nationalstaaten oder die Grossmacht USA gerne ziert. Vor knapp zwei Wochen etwa kippte er das Datenabkommen «Privacy Shield». Der Gerichtshof hielt mit seinem Urteil fest, dass Daten nur dann standardmässig mit dem Ausland getauscht werden dürfen, wenn diese nicht an Geheimdienste wie etwa die US-amerikanische NSA weitergegeben werden – die von der EU-Kommission ausgehandelten Schutzgarantien und Formulierungen waren dem EuGH offensichtlich zu schwammig.
Es war auch der Europäische Gerichtshof, der Ende 2019 das «Cookie-Urteil» sprach: Cookie-Banner auf Websites, bei denen Voreinstellungen mit eingefügtem Häkchen gesetzt und nur als Ganzes anklickbar sind, sind seither unzulässig. Die nationalen Behörden und Gerichte folgen den EuGH-Leiturteilen – das deutsche Bundesgericht etwa bestätigte das Urteil im Mai 2020. Seither findet man auf sämtlichen Websites eine nutzerfreundliche Auswahl.
Es wird auch der Europäische Gerichtshof sein, welcher in letzter Instanz über die Nachzahlungen von rund 13 Milliarden Euro von Apple an Irland entscheiden wird, auf die Irland seinerseits verzichtet.
Und das ist die gute Nachricht: Es ist gut möglich, dass europäische Institutionen und Gerichte die EU auf einem einheitlichen Kurs in der Digitalpolitik vorantreiben – allen heterogenen nationalstaatlichen Interessen und einem überwachungsfreundlichen Kurs einzelner EU-Länder zum Trotz.