Reicht der Platz auf den Intensivstationen?
Die erwartbare Zunahme der Covid-19-Spitalpatienten ist nach wie vor mit grösseren Unsicherheiten behaftet. Warum das so ist, erklären wir mit einer interaktiven Simulation.
Von Andrea Arežina, Marie-José Kolly und Thomas Preusse, 30.03.2020, Update 09.30 Uhr
Spitalbetten gibt es nicht ab Stange. Beatmungsgeräte auch nicht. Und Pfleger sowie Ärztinnen schon gar nicht – sie müssen erst rekrutiert und ausgebildet werden. Schweizer Spitäler brauchen Zeit, um die Pflegekapazität für den Höhepunkt der Covid-19-Epidemie aufzubauen.
Wird auf den Intensivstationen genügend Platz sein?
Es ist – in der aktuellen Phase der Pandemie – die alles entscheidende Frage.
Der Berner Epidemiologe Christian Althaus hat über das Wochenende Antworten dazu modelliert und mit der Republik geteilt. Sein Fazit zu den erst vorläufigen Resultaten: «Das berechnete Modell legt nahe, dass die aktuellen Massnahmen in der Schweiz die Verbreitung des Virus um etwa 74 Prozent verringern. Damit würde die notwendige Kapazität auf Intensivstationen in der ersten Aprilwoche ihren Höhepunkt erreichen, könnte jedoch unter der kritischen Grenze von 1000 Betten bleiben.»
Wenn sich aber Sars-CoV-2 durch die Massnahmen weniger stark eindämmen lässt, könnten die notwendigen Kapazitäten gemäss Modell schon bald bedeutend höher ausfallen.
Hier setzen wir uns damit auseinander, wie man zu solchen Aussagen kommt – und zeigen, wie schwierig es ist, den Verlauf einer Epidemie vorherzusagen.
Die Ausgangslage
Spitäler in der Schweiz können momentan rund 1200 Personen auf Intensivstationen betreuen – das sagte das Bundesamt für Gesundheit am vergangenen Freitag auf Anfrage der Republik. Ob dies genügt, ist noch ungewiss, auch wenn uns die eingangs erwähnte Prognose hoffnungsvoll stimmen darf. Die Kapazitäten werden laufend weiter ausgebaut. Um wie viele zusätzliche Plätze, das konnte die Behörde noch nicht einschätzen.
Die Ungewissheit der aktuellen Lage stammt daher, dass auch Experten erst seit kurzem und nur grob schätzen können, wie wirksam die hiesigen Massnahmen sind. Und sie rührt auch daher, dass bestimmte Kennzahlen zur Krankheit – zum Beispiel die Hospitalisierungsrate von Angesteckten – sich von Land zu Land unterscheiden und nur mit zeitlicher Verzögerung abschätzbar werden.
Trotzdem geben uns Modelle wie das des Berner Epidemiologen Althaus eine Idee davon, wie die Epidemie in den folgenden Wochen verlaufen könnte. Ausgehend davon kann man abschätzen, wie viele Spitalplätze es braucht.
Ein vereinfachtes Modell haben wir bei der Republik gerechnet. Nicht weil wir den Modellen der Wissenschaftler Konkurrenz machen möchten – das könnten wir gar nicht. Sondern:
Damit wir Schritt für Schritt veranschaulichen können, welche Mechanismen bei der Entwicklung der intuitiv nur schwer fassbaren Zahlen der Angesteckten und Kranken eine Rolle spielen.
Damit Sie diese Mechanismen interaktiv erleben können. Wie wirkungsvoll müssten etwa Massnahmen wie social distancing sein, damit das Gesundheitssystem nicht überlastet wird?
Die Werte, mit denen wir rechnen, sind tendenziell optimistisch – wir wollen keine falsche Alarmstimmung verbreiten. Und wir haben nicht den Anspruch, Prognosen zu machen.
Für richtige Prognosen sind Wissenschaftlerinnen zuständig.
Was bisher geschah
Beginnen wir mit den nackten Fallzahlen.
Die positiv Getesteten
Ihre Zahl wächst exponentiell. Das heisst, sie verdoppelt sich alle paar Tage. Ein solches Wachstum ist heimtückisch. Am Anfang sieht die Entwicklung kontrollierbar aus – doch plötzlich schnellt sie in die Höhe.
Bevor wir weiterfahren, ein weiterer Disclaimer – zur Dunkelziffer. Aktuell testet man in der Schweiz nur Patienten mit Komplikationen oder Personen, die zu Risikogruppen gehören. Junge und ansonsten gesunde Patientinnen, die nur Fieber und Husten haben, kurieren sich ohne Test daheim aus. Wenn wir uns im Folgenden also auf die Covid-19-Fälle konzentrieren, die per Test bestätigt wurden, dann unterschätzen wir damit die tatsächliche Verbreitung des Virus. Das ist für unsere Rechnung aber wenig problematisch, denn Patienten mit milden Krankheitsverläufen brauchen keine Spitalbetten.
Viel wichtiger für unser Modell ist eine andere Begebenheit: Die Kurve der positiv Getesteten hinkt der Realität hinterher. Dies aus zwei Gründen:
Die erste Verzögerung entsteht durch die Inkubationszeit: Bevor ein Patient überhaupt Symptome entwickelt, hat er sich irgendwann angesteckt. Zwischen Ansteckung und Symptomen kann bei Covid-19 relativ viel Zeit verstreichen, nämlich zwischen 2 und 14 Tagen (die Hälfte aller Angesteckten zeigt nach 5 bis 6 Tagen Symptome).
Die zweite Verzögerung entsteht zwischen dem Auftreten von Symptomen und dem Besuch beim Arzt.
Betroffene sind also schon eine Weile mit dem Coronavirus angesteckt, bevor sie positiv getestet werden. Wir gehen von einer Verzögerung von 10 Tagen aus: 6 Tage für die Entwicklung der Symptome, optimistische 4 Tage für den sogenannten reporting delay: Das ist die Zeit, bis eine Betroffene auch Arztbesuch und Test hinter sich hat.
Die bereits Infizierten
Deshalb liegt die Zahl der Getesteten stets hinter der Zahl der bereits Infizierten zurück.
Am 1. März waren schweizweit erst 70 Personen positiv getestet. Tatsächlich dürften sich zu diesem Zeitpunkt bereits viel mehr Menschen mit dem Virus angesteckt haben. Das zeigt die grüne Kurve an. Sie ist anhand der blauen Kurve um 10 Tage zurückverschoben. Aber wie schon erwähnt: Die Dunkelziffer ist vermutlich hoch, die wirkliche Anzahl der Angesteckten kennt niemand.
Die Schwerkranken auf der Intensivstation
Jetzt gehen wir einen Schritt weiter – auf die Intensivstation. Das Bundesamt für Gesundheit beobachtet zurzeit, dass rund 5 Prozent der positiv auf das Virus getesteten Personen später Intensivpflege benötigen.
Wir nehmen also von den täglich neu hinzugekommenen Fällen 5 Prozent und legen sie für 10 Tage auf die Intensivstation. So entsteht die violette Kurve:
Das sieht nach relativ wenig aus, richtig? Wenn man aber an die 1200 Betten auf Intensivstationen denkt, scheint die violette Linie gar nicht mehr so niedrig.
Wie man das Wachstum sichtbar macht
Um diesen Bereich näher zu betrachten, bilden wir die Zahlen in der nächsten Grafik auf einer logarithmischen statt auf einer linearen Y-Achse ab. Die logarithmische Skala erlaubt es uns auch, Veränderungen besser zu sehen.
Auf ihr sind die sehr hohen Werte, die durch das exponentielle Wachstum zustande kommen, gestaucht – je höher die Werte sind, desto stärker die Stauchung. So ist der Abstand zwischen 10 und 100 gleich gross wie der zwischen 100 und 1000 oder zwischen 1000 und 10’000.
Bei exponentiellem Wachstum dauert es jeweils gleich lange, von 10 auf 100 Fälle wie von 10’000 auf 100’000 Fälle zu gelangen.
Konstantes Wachstum im bisherigen Rahmen erscheint nun als gerade Linie. Krümmt sie sich abwärts, so zeigt sie verlangsamtes Wachstum.
Die Unbekannten
So weit zu den bisherigen Zahlen – zur Vergangenheit. Nun machen wir uns an die Zukunft – und an die grossen Unbekannten: Wie stark hat sich das Virus in den letzten zwei Wochen «Lockdown light» verbreitet? Wohin steuert die Kurve der benötigten Plätze auf der Intensivstation?
Um dies zu modellieren, müssen wir zunächst einige Annahmen treffen. Für alle, die es genau interessiert, sind sie hier beschrieben:
Ich will es genauer wissen: Was waren die Annahmen?
1. Für den weiteren Verlauf der Epidemie nehmen wir an, dass sich die Zahlen der Infizierten und der positiv Getesteten – ohne Massnahmen – innerhalb von 6 Tagen verdoppeln würden. Wir mitteln dabei die Schätzung von Christian Althaus, der von 4 bis 8 Tagen ausgeht.
2. Wir gehen davon aus, dass sich ab dem 17. März die Massnahmen des Bundesrats immer gleich effizient auf die Ansteckungsrate auswirken. Im optimistischen Standardszenario verringern sie das Wachstum der Fallzahlen um 74 Prozent – das entspricht der Berechnung von Christian Althaus.
3. Von der Ansteckung bis zu einem Testergebnis verstreicht Zeit, wir haben oben von 10 Tagen gesprochen. Und wir nehmen an, dass von einem positiven Testergebnis bis zur Einlieferung in die Intensivstation weitere Zeit verstreicht. Diese Dauer variiert von Patient zu Patient, wir setzen sie bei 4 Tagen an. Damit würden von der Ansteckung bis zur Intensivstation insgesamt 14 Tage vergehen.
4. Wir gehen davon aus, dass Patienten im Schnitt für 10 Tage auf der Intensivstation liegen.
Nun können Sie das Modell auf verschiedene Einflüsse hin testen. Welche Rolle spielen die Verzögerungen zwischen Ansteckung und Test? Und wie sehr können funktionierende Massnahmen das Gesundheitssystem entlasten?
1. Verzögerung
Standardmässig gehen wir – wie oben erwähnt – von 10 Tagen aus zwischen Ansteckung und Testergebnis. Das Modell sagt dann voraus, dass die Belastung der Spitäler schon sehr bald ihren Höhepunkt erreicht.
Allerdings wissen wir nicht mit Sicherheit, wie viel Zeit zwischen Infektion und positivem Test wirklich verstreicht. Es könnte sein, dass diese Zeitdauer deutlich kürzer ist als die angenommenen 10 Tage. Oder länger. Was passiert dann?
Zur Erinnerung: Schweizweit gibt es momentan rund 1200 Betten auf Intensivstationen. Und für jedes Bett braucht es natürlich auch das entsprechende Pflegepersonal. Es stehen aber nicht alle Plätze für Covid-19-Fälle zur Verfügung, auch andere Patientinnen benötigen intensive Betreuung.
Wie sich zeigt, reagieren die Kurven stark auf den Zeitfaktor. Verstreichen zwischen Ansteckung und positivem Test beispielsweise 14 Tage, so brauchen wir schon bald doppelt so viele Plätze auf Intensivstationen wie zuvor.
Denn die Epidemie hat unter der zweiten Annahme bereits mehr Zeit gehabt, um sich auszubreiten – und zwar genau in jenen Tagen, bevor in der Schweiz der «Lockdown light» beschlossen wurde. Es bedeutet, dass es zu diesem Zeitpunkt noch viel mehr unbekannte Infizierte gab. Und dass ein Teil dieser Infizierten nun als schwere Fälle auf der Intensivstation landen.
Wie viel Zeit im Schnitt von der Ansteckung bis zum positiven Test wirklich vergeht, weiss niemand auf den Tag genau. Doch das Modell zeigt, dass wenige Tage bereits grosse Auswirkungen haben können. Als Behörde, die Massnahmen verhängt oder Spitalkapazitäten plant, muss man dies in Betracht ziehen.
2. Effektivität der Massnahmen
Was wir ebenfalls noch nicht genau kennen, ist die Effektivität der vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen. Wir haben sie bei 74 Prozent angesetzt. Das würde bedeuten, dass Infizierte im Schnitt gut viermal weniger Personen als vor Beginn der Massnahmen anstecken würden.
Was ist, wenn die bisherigen Anstrengungen nicht ausreichen? Wenn die Massnahmen weniger wirken, steigt die Zahl der Kranken:
Die Effektivität der Massnahmen ist entscheidend: Fällt sie unter einen bestimmten Wert, so stabilisieren sich die Zahlen überhaupt nicht. Immer mehr Schwerkranke landen auf den Intensivstationen, bis diese voll sind. Dann werden Ärztinnen und Pfleger bald äusserst schwierige Entscheide fällen müssen: Wer wird auf der Intensivstation versorgt? Und wer nicht?
Wenn sich die Ansteckungsrate in den vergangenen zwei Wochen dank social distancing und weiteren Massnahmen hingegen substanziell verbessert hat, so werden die benötigten Kapazitäten auf den Intensivstationen vermutlich bald wieder sinken – das zeigen auch Modelle aus der Wissenschaft.
Fazit
Epidemiologische Modelle helfen uns, solche Dynamiken zu verstehen. Und uns darauf vorzubereiten, was mit Covid-19 möglicherweise noch kommt.
Die Schweizer Spitäler waren schlecht gerüstet für die Corona-Epidemie: Statt wie im Pandemieplan vorgeschrieben aufzustocken, hat man in der Vergangenheit Spitalbetten weggespart. Es fehlt auch an qualifiziertem Pflegefachpersonal, an Beatmungsgeräten, Schutzkleidung und Masken. Manche Kantone sind schon jetzt sehr nah an den Grenzen ihrer Intensivstationen.
Ob ihre Kapazitäten für die Covid-19-Welle ausreichen, wird sich über die kommenden Tage und Wochen weisen. Unser vereinfachtes Modell, aber auch epidemiologische Modelle aus der Wissenschaft zeigen: Es ist unheimlich schwierig, den Zustrom im Vorfeld zuverlässig zu schätzen.
Über die Verzögerung zwischen Ansteckung und Symptomen herrscht das Virus. Auch die Zahl der Plätze auf Intensivstationen können wir und Sie nicht gross beeinflussen. Bei der Wirkung der Massnahmen können aber alle einen Beitrag leisten: Je mehr wir tun, um Ansteckungen zu verhindern, desto stärker schonen wir unser Gesundheitssystem. Und je länger wir daran festhalten, desto mehr Zeit verschaffen wir unseren Intensivstationen.
Zeit, die sehr wertvoll sein kann, wenn es hart auf hart kommt.
Christian Althaus hat am Sonntagabend nochmals neue Werte errechnet, die Effektivität der Massnahmen in der Schweiz schätzt er nun auf 74 Prozent, nicht 70 Prozent. Das Bundesamt für Gesundheit hat seine Zahlen ebenfalls angepasst: am 1. März waren gemäss der Behörde nun in der Schweiz 70, nicht nur 64 Personen positiv getestet.
Unserem Modell zugrunde liegen die Daten, die das Bundesamt für Gesundheit seit dem 25. März als Excel-Daten veröffentlicht. Die detaillierten Berechnungen und den dazugehörigen Code haben wir hier veröffentlicht.