Systemrelevant – und schlecht bezahlt?
Eine Analyse der Lohnunterschiede in Branchen, die jetzt als unverzichtbar gelten – und wo es einen auffallenden Geschlechterunterschied gibt.
Von Olivia Kühni, 06.04.2020
Auf sie kommt es jetzt besonders an: In den letzten Wochen haben die Behörden Jobs definiert, in denen die Angestellten «vitale Leistungen im Bereich der Grundversorgung» erbringen – und die darum darauf angewiesen sind, dass beispielsweise Kindertagesstätten weiterhin für sie offen haben.
Dazu gehören vor allem diese Branchen (angelehnt an die Liste des Kantons Zürich):
Gesundheit, Pflege und Altersbetreuung
Sicherheit
Verkehr
Infrastruktur (Energie- und Wasserversorgung, Entsorgung, Telematik, Reinigung)
Logistik, einschliesslich Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern
öffentliche Verwaltung (ein Teil davon)
Medien
Zu ergänzen wäre natürlich folgerichtig:
Kinderbetreuung
Umgangssprachlich und in den sozialen Netzwerken nannten viele Leute diese Tätigkeiten auch «systemrelevant» – in Anlehnung an die Banken, die damals nach der Finanzkrise wegen eben dieser Eigenschaft mit Staatsgeldern gestützt wurden. Ökonominnen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) stellten kurz darauf fest: Ausgerechnet viele der jetzt als systemrelevant definierten Berufe hätten in Deutschland wenig soziale Anerkennung und seien vergleichsweise schlecht bezahlt.
Löhne nach Branchen
Tatsächlich lassen sich aus den Löhnen auch für die Schweiz interessante Tendenzen ablesen. Nicht alle sogenannt systemrelevanten Jobs sind schlecht bezahlt. Doch in unterschiedlichen Branchen verdient man sehr verschieden. Das hat einerseits mit unterschiedlicher Produktivität zu tun (dazu gleich mehr). Andererseits sagt es aber auch etwas darüber aus, welchen Wert wir bestimmten Tätigkeiten beimessen.
Und noch etwas ist spannend: Ausgerechnet in einigen der unverzichtbaren Berufe – ganz zuvorderst im Gesundheitswesen – sind die Geschlechterunterschiede bei den Löhnen gross.
Betrachtet man die Branchen, die im weitesten Sinne als systemrelevant gelten können, fällt auf: Je mehr Technologie bei einem Wirtschaftszweig im Spiel ist, desto höher sind dort tendenziell die Löhne.
Präziser müsste man sagen: Je mehr Geld – Ökonomen sprechen von Wertschöpfung – Angestellte in einer bestimmten Branche in einer Stunde zu erwirtschaften vermögen, desto besser sind sie tendenziell auch bezahlt. Hoch entwickelte Technologie kann ein Grund dafür sein; sie vergrössert sozusagen die Hebelwirkung von Arbeit. Es kann aber auch sein, dass eine Branche aus anderen Gründen sehr hohe Margen einfährt – beispielsweise, weil sie staatlich geschützt wird oder viel Macht hat. Die beiden bestbezahlten Branchen in der Schweiz sind Pharma und Finanzindustrie (nicht aufgeführt). Hier liegt der mittlere Lohn monatlich nochmals rund 500 Franken höher als in der Informationstechnologie.
Löhne nach Sektoren
Dass es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen der Prosperität einer Branche und dem Lohn jedes Einzelnen, ist leicht nachzuvollziehen. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Geschäft: Sie werden Ihrer Mitarbeiterin nie mehr zahlen können, als Sie selber einkassieren können – selbst wenn Sie noch so sparsam und effizient wirtschaften. Das Branchenumfeld setzt sozusagen das Limit.
Es macht übrigens keinen grossen Unterschied, ob Unternehmen in einer Branche mehrheitlich in privater oder staatlicher Hand sind: Sowohl in besser zahlenden systemrelevanten Branchen (Telecom, Energie, Verwaltung) als auch in schlechter zahlenden Branchen (Gesundheit, Wasserversorgung, Entsorgung) gibt es private wie öffentliche Arbeitgeberinnen.
Insgesamt zahlt die öffentliche Hand in der Schweiz – über alle Stellen hinweg – leicht höhere Löhne als die Privatwirtschaft. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass viele Jobs in der Verwaltung vergleichsweise hohe Qualifikationen verlangen.
Löhne nach Funktion
Interessant ist ein Blick auf die genaueren Tätigkeiten, also alle Berufsgruppen, die als systemrelevant gelten könnten.
Wenig überraschend sind akademische Berufe und solche mit Führungsfunktionen besser bezahlt. Und auch hier sieht man den Effekt verschiedener Branchen: Führungskräfte in der Warenproduktion sind beispielsweise besser bezahlt als solche im Handel. In der Landwirtschaft verdienen sowohl Fachkräfte als auch Hilfskräfte trotz harter Arbeitsbedingungen wenig – und viele saisonale Arbeiter noch weniger. Sie helfen oft mit prekären Kurzverträgen oder als «Praktikanten» aus und tauchen deshalb nicht in der offiziellen Statistik auf.
Spannend ist ein Blick in die Mitte und zwischen die Zeilen. Hier werfen manche Unterschiede Fragen auf. Beispielsweise diese:
Warum sind Ärztinnen so viel besser bezahlt als Pflegefachleute?
Warum verdienen Betreuungspersonen weniger als beispielsweise Sicherheitskräfte oder sogar als Hilfskräfte in der Warenherstellung?
Warum sind Verkaufskräfte und Reinigungspersonal so auffallend schlecht bezahlt?
Eine Erklärung: Pflege, Betreuung, Verkauf und Reinigung sind von Frauen dominierte Berufe und als solche traditionell schlechter bezahlt.
Löhne nach Geschlecht
Tatsächlich ist die Gegenüberstellung von Gesundheitsberufen und Polizei einer der Klassiker der Lohndiskriminierungsklagen – beispielsweise in St. Gallen oder in Solothurn.
Das Gesundheitswesen und der Detailhandel gehören bis heute zu den Branchen mit den grössten Lohnunterschieden zwischen Frauen und Männern. Das betrifft bei weitem nicht nur die sogenannten Assistenzberufe: Insbesondere Ärztinnen verdienen im Schnitt deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen.
Dahinter steckt nicht nur individuelle Diskriminierung im engeren Sinne, sondern vor allem strukturelle Ungleichheit. Etwa die Tatsache, dass Medizinerinnen weniger oft als ihre männlichen Kollegen lukrative Spezialisierungen wie etwa Kardiologie wählen, dass sie weniger oft in eine Kaderposition aufsteigen, oder dass ein Drittel (!) der Spitalärztinnen wegen der hohen Belastung bereits in jungen Jahren wieder aus dem Beruf aussteigt. Bei den Pflegefachfrauen ist es fast jede Zweite.
So viel zu den systemrelevanten Berufen und ihren nicht zwingend tiefen Löhnen. Blickt man allerdings von der anderen Seite auf das Thema und stellt sich die Frage, wo denn nun die Leute mit besonders tiefen Löhnen arbeiten, fällt ganz im Gegenteil etwas anderes auf: Viele von ihnen arbeiten in Branchen, die vom Lockdown besonders hart getroffen werden. Aber das ist eine Analyse für eine der nächsten Wochen.
Alle Angaben zu den verschiedenen Löhnen stammen aus der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung LSE, die das Bundesamt für Statistik alle zwei Jahre bei allen Unternehmen des Landes durchführt. Die Systematik mit Wirtschaftsabschnitten, Wirtschaftszweigen (Branchen), Berufsgruppen und schliesslich noch spezifischer Berufen nutzen viele Länder weltweit.
Das BFS hat aus diesen Daten übrigens auch einen Online-Lohnrechner gebaut, mit dessen Hilfe sich der typische Lohn für verschiedene Berufe und Personenmerkmale (beispielsweise Alter und Ausbildung) berechnen lässt.