Wie war ich?

Fährt Chefredaktor Eric Gujer mit seiner digitalen Deutschland­strategie die «Neue Zürcher Zeitung» gegen die Wand? Treffen mit einem Journalisten, der aus der Kälte kam.

Von Daniel Ryser (Text) und Maurice Haas (Bilder), 15.04.2020, Update: 14.05.2020

Synthetische Stimme
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Angetrieben von Ideologie oder Angst, Strategie oder Unsicherheit? Eric Gujer, seit 2015 Chefredaktor der NZZ.

Der Auslandschweizer

Epidemien breiten sich schleichend aus. In Wuhan behandelte ein Arzt einige Patienten mit einer heftigen Lungen­entzündung. Weder die Behörden noch die Öffentlichkeit nahmen gross Notiz davon. Das war Anfang Dezember. Unterdessen ist der chinesische Arzt wie über 1400 weitere Personen dem Corona­virus erlegen. (…) Auch die CDU hat sich mit einer Krankheit infiziert. Sie nahm ihren Ausgang irgendwann, nachdem Angela Merkel Kanzlerin geworden war. (…) Seuchen bekämpft man mit dem Mittel der Quarantäne. Angela Merkel ist dazu nicht mehr in der Lage.

Eric Gujer in der NZZ, Februar 2020.

Du musst ein paar Dinge wissen, sagen zwei langjährige Weg­gefährten des heutigen NZZ-Chefredaktors Eric Gujer. Dinge, die zentral sind, um den Mann zu verstehen, der die Zeitung seit 2015 führt und Print-Abonnements in der Schweiz auf einen historischen Tiefstand geführt hat (von 106’000 auf 75’000 in fünf Jahren) und der gleichzeitig, während die NZZ in der Schweiz bedauerlicher­weise rasant an Bedeutung verliert, davon besessen ist, mit der «Neuen Zürcher Zeitung» Deutschland zu erobern.

Zuerst einmal und ganz zuvorderst, sagen sie, die Altgedienten: Du wirst bei deinen Interviews einem Ausland­schweizer gegenüber­sitzen. Es steht zwar in seiner Biografie, dass er in Zürich geboren wurde, aber aufgewachsen ist er in Baden-Baden; hier lebten seine Eltern, hier wurde er sozialisiert. Prägende Kindheit, Jugendzeit, später Studium: alles Deutschland. Vater starb früh. Herzinfarkt. Da war er ungefähr zwölf. Verlust der Vater­figur. Prägender Einschnitt und erster Hinweis auf das, was publizistisch folgen und sich durchziehen wird: die Welt ein unsicherer Ort voller Gefahren, denen mit dem Ausbau des Sicherheits­apparats begegnet werden muss.

Begann seine journalistische Karriere beim «Mannheimer Morgen», arbeitete dann nach schnell abgeschlossenem Studium in Köln und Freiburg ab 1989 und noch zu DDR-Zeiten als NZZ-Korrespondent in Ost-Berlin. Ab 1992 dann in Zürich. Man empfand ihn auf der Redaktion als Kinder­greis: einer, der nie wirklich jung, nie rebellisch war. Wirkte schon mit dreissig deutlich älter als gestandene Redaktoren, sagen Leute, die ihn damals kannten.

In seinem Zürcher Büro hing später ein Poster vom Eulenspiegel-Verlag aus dem Jahr 1989. Ostberliner Satire­magazin. Karl Marx steht irgendwo quer in der Landschaft und sagt zu einer Gruppe Achtund­sechzigern: «Tut mir leid Jungs, war halt so eine Idee von mir.»

Das Ende des Kalten Krieges, sagen sie, habe Gujer nie als das ausgerufene Ende der Geschichte verstanden. Gujer sei weniger ein Ideologe, stattdessen mehr getrieben von der Angst vor den Gefahren dieser neuen, komplizierteren Welt.

Reiste in den Neunzigern als Russland­korrespondent nach Moskau. Davor Schnell­bleiche in russischer Sprache in Bochum. Lernte in Moskau die FAZ-Korrespondentin Christiane Hoffmann kennen, befreundete sich mit ihr und ihrem Ehemann Tim Guldimann, dem späteren Schweizer Botschafter in Berlin. Wenn er zu dessen Amtszeit in Berlin war, schlief er auch mal in der Botschaft. Nach 9/11 als Korrespondent nach Berlin, wo er sich intensiv mit islamistischem Terrorismus beschäftigte.

Ihn interessiere die Schweiz nicht so, wie ihn Deutschland interessiere, sagen die Gefährten. Sieht man beispielhaft, sagen sie alle, wenn er im Vorfeld der «No Billag»-Abstimmung die öffentlich-rechtliche SRG fälschlicher­weise als «Staats­medium» bezeichnet, «kapitaler Fehler», sagen sie, und die vier Landes­sprachen in keinem Satz erwähnt.

Gujer bestreitet, das so geschrieben zu haben. Wirft dem Gegenüber vor, schlecht recherchiert zu haben. Der Titel des Leitartikels: «Die Schweiz braucht keine Staatsmedien».

Empörung. Shitstorm. Abbestellung teurer Schweizer Jahres­abonnemente. Bettelbriefe: Kommen Sie zurück!

Sie kamen nicht. Rasanter Rückgang der prohibitiv teuren Print-Abos in der Schweiz. Was nun?

Heim nach Deutschland. Als publizistische Idee zumindest.

Auffallend ebenfalls (im Gegensatz zu einem erheblichen Teil in der Ausland­redaktion): instinktive Partei­nahme für einen sogenannten israelischen Standpunkt, wider einen Zusammen­hang des Palästina­konflikts mit der Dekolonisierung der Welt.

Weltpolitisch monothematisch, sagen sie: Deutschland. USA. Kalter Krieg. Hat sich nie für die Welt interessiert, sagen sie. Man muss ihn nicht nach afrikanischen Haupt­städten fragen. Fiele bei jedem Quiz durch, sagen sie. Latein­amerika: keine Ahnung. Naher Osten: keine Ahnung. Stattdessen, auch als publizistisches Leitthema: die Nähe zum deutschen Geheimdienst.

Publizierte 2006 ein Buch über den Bundes­nachrichten­dienst: «Kampf an neuen Fronten. Wie sich der BND dem Terrorismus stellt». Cover: Allein­stehender Koffer in einer Unterführung. Vermutlich Gefahr.

Klopfte beim BND an. Die Türen standen offen. Die Liebe: gegenseitig. Diese Liebe hat man ihm 2015 zum Vorwurf gemacht, als bekannt wurde, dass er in der Schweiz für das neue Geheimdienst­gesetz, das er als Journalist kritisch hätte begleiten sollen, beratend tätig war. In der Redaktion war man sich ziemlich einig: rote Linie überschritten. Grundsätzlich aber, sagen Kollegen, war die Nähe zu den Geheim­diensten zu rechtfertigen: kann als Journalist sehr nützlich sein.

Keine grosse Sache, tönt es aus dem Inneren der Redaktion: Geheimdienst­leute sind in der Regel froh, wenn man als Journalist ankommt. Beim Geheim­dienst arbeiten häufig gut bis sehr gut informierte Leute, die nicht dumm sind, aber unter dem grossen Dilemma leiden, dass sie alles, was sie durch ihre Arbeit erfahren und wissen und an Erkenntnissen gewonnen haben, nur in ihren geheimen Berichten benutzen können, die dann meistens irgendwo verschwinden. Kurz: Kein Schwein interessiert sich für ihre Arbeit. Wenn dann ein Journalist kommt, und erst noch einer aus der Schweiz, dann freuen die sich beim deutschen Geheim­dienst. Endlich können wir mal erzählen, und die Regeln sind selbst­verständlich klar: Wir haben uns nie getroffen. Deutsche Militär­attachés, wo auch immer in der Welt, so heisst es, sind äusserst gesprächs­freudig, wenn man von der NZZ kommt. Die NZZ war schliesslich lange im Verteiler der deutschen Diplomatenpost.

Aus journalistischer Sicht muss klar sein, dass es kein Gegen­geschäft ist. Sondern eine Einbahn­strasse. Dass Gujer den Schweizer Nachrichten­dienst beriet, ist ein Hinweis darauf, so sagen es Gefährten, dass sich bei ihm die Linien womöglich zum Teil verwischt haben, was er im Gespräch bestreitet: Er sei als Sicherheits­experte um Rat gefragt worden, wie er die Sache einschätze, habe seine Meinung abgegeben, zusammen­gefasst in zwei Punkten. Wichtig für einen demokratisch legitimierten Geheim­dienst seien ein gewisses Mass an Transparenz und eine klar geregelte gesetzliche Grundlage.

Dockte bei der Körber-Stiftung in Hamburg an, die offenbar, so die Einschätzung, wichtig war bei seinem Werdegang. Trat dort regelmässig auf, vernetzte sich, publizierte. 2006 zum Beispiel eine hundert­seitige Broschüre: «Schluss mit der Heuchelei. Deutschland ist eine Grossmacht».

Der Fokus auf Sicherheits­fragen habe ihm bei seiner Karriere innerhalb der NZZ genützt: Man wird im Haus wahrgenommen als einer, der die Welt versteht, denn die Welt ist schliesslich ein unsicherer Ort.

Aber ob er wirklich Ahnung habe von Sicherheits­fragen, sagen Gefährten, lasse sich schwer messen.

Angst und Schrecken an der Falkenstrasse

Der Kofferraum des Wagens sah aus wie ein Labor des Rausch­gift­dezernats. Wir hatten zwei Beutel Gras, fünfund­siebzig Kügelchen Meskalin, fünf Löschblatt­bögen Acid, einen Salz­streuer halbvoll mit Kokain und ein ganzes Spektrum vielfarbiger Upper, Downer, Heuler, Lacher … sowie eine Flasche Tequila, eine Flasche Rum, einen Karton Budweiser, einen halben Liter unverdünnten Äther und zwei Dutzend Knick-und-Riech. Nicht, dass wir das ganze Zeug für den Trip wirklich brauchten, aber wenn man sich einmal darauf einlässt, eine ernsthafte Drogen-Sammlung anzulegen, neigt man eben dazu, extrem zu werden.

Hunter S. Thompson, Angst und Schrecken in Las Vegas

Eric Gujer sitzt im sogenannten Komitee­zimmer der «Neuen Zürcher Zeitung», trinkt Mineral­wasser und spricht über Gonzo-Journalismus. Hunter S. Thompson, sagt Gujer: Absolut prägend für ihn, als ich ihn frage, welche Autoren ihm wichtig gewesen seien.

Während er das sagt, sitzt Seta Thakur neben ihm, Leiterin Unternehmens­kommunikation, und zeichnet das Gespräch mit ihrem Smart­phone auf. Er sehe darin überhaupt kein Problem, das sei absolut normal, sagt Gujer, als ich ihn frage, was denn das für eine Show sei, und natürlich weiss Gujer, selbst Journalist, dass das überhaupt nicht Standard ist, dass der Interviewte das Gespräch ebenfalls aufzeichnet.

«Da ich Jahrgang 1962 bin und in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern die Erinnerung an die Weimarer Zeit sehr stark war», sagt Gujer, «würde ich als prägende Autoren Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Alfred Polgar nennen.»

«Undogmatische Linke», sagt er. «Überhaupt die ganzen Autoren der sogenannten Welt­bühne hatten eine spitze Feder. Ossietzky hat lange Leitartikel geschrieben, aber immer auf den Punkt. Man konnte bei ihm lernen, wie man Meinungen präzise schreibt. Wie man politische Sach­verhalte auseinander­nimmt. Auch wenn ich die Schluss­folgerungen nicht geteilt habe. Und dann eben: Hunter S. Thompson. Der Gonzo-Journalismus. Etwas, was die NZZ eher nicht macht. Aber dahinter steckte eine ungeheure Kraft. Tom Wolfe, Thompson, eine ganze Reihe von Autoren, die sich in den Sechzigern um das «Rolling Stone»-Magazin herum gebildet haben. Sie haben einen neuen Aufbruch in den Journalismus hineingebracht. Einen solchen Aufbruch braucht der Journalismus immer wieder. Man kann es dann Mode nennen. Aber er braucht neue Impulse. Denn nur ein Journalismus, der bewegt, hat auf Dauer Erfolg.»

«Hunter S. Thompson war dafür bekannt, dass er furios geschrieben hat», sage ich. «Aber er war auch bekannt dafür, dass er furios gelebt hat. Würden Sie von sich behaupten, furios gelebt zu haben, Herr Gujer?»

«Noch lebe ich», sagt er.

«Entschuldigen Sie. Ich meinte: dass Sie furios leben?»

«Was meinen Sie mit furios?»

«Wenn wir bei Hunter S. Thompson sind: Nehmen Sie Drogen?»

«Nein. Ich würde behaupten, dass ich nicht der speziell exzessive Typ bin.»

Ich frage das vermutlich so blöd mit den Drogen und dem Exzess und all dem Kram, als wäre Adaption eine zwingende Voraussetzung einer intellektuellen Auseinander­setzung, weil ich nicht erwartet hätte, mit dem Chef­redaktor der NZZ dazusitzen und über mein eigenes journalistisches Vorbild zu sprechen: Thompson, Outlaw-Journalist, Figur der Gegen­kultur, bei dem Journalismus immer auch Aktivismus war, der Journalist als Akteur, Kopf durch die Wand, Politik­junkie, Kokain­freak, literarisches Vorbild einer ganzen Generation, neben Joan Didion und Tom Wolfe ein Aushänge­schild des New Journalism, der die «Pigs», wie er sie konsequent bezeichnete, die Bullen, als natürliche Feinde betrachtete, während Gujer, nun ja, die «Pigs» vermutlich eher als natürliche Verbündete betrachtet.

«Retweet ist nicht Endorsement», sagt Gujer dann. «Intellektuelle Auseinander­setzung bedeutet nicht Billigung. Gonzo ist eine spannende journalistische Form. Ich glaube aber nicht, dass die NZZ speziell Gonzo-Journalismus macht. Ich würde sogar sagen, sie macht das überhaupt nicht und darf das auch nicht. Man lernt viel dabei, wenn man sich mit der Passion eines Journalismus von Thompson auseinandersetzt. Und man lernt viel von dem, was man ablehnt, vom Gegen­modell. Viele Menschen vergessen das in der Auseinander­setzung zwischen links und rechts: dass man eine intellektuelle Neugier haben sollte, und dies gerade für Positionen, die man eigentlich nicht teilt. Insofern würde ich nach wie vor sagen, dass ich Gonzo-Journalismus sehr spannend finde, auch wenn das keine journalistische Darstellungs­form für mich oder für die NZZ ist. Ich muss nicht exzessiv leben, um Gonzo zu lesen. Die Identität von Leben und Werk oder Leben und Arbeit ist eine spezielle Vorstellung der 68er-Bewegung.»

Glaub nicht, sagen mir Gefährten, dass das ein Zufall ist: Eric Gujer ist ein Mann, der sich vorbereitet. Er weiss, wer da vor ihm sitzt. Vermutlich weiss er sogar, weil es irgendwo mal geschrieben stand, dass du ein Gonzo-Tattoo auf dem Arm trägst und dass du vor Jahren irgendwo mal in irgendeinem Medien­magazin Hunter S. Thompson als wichtigste Inspiration bezeichnet hast, und gleichzeitig ist Gujer dann so unsicher, dass er es ansprechen muss, obwohl es ja nur völlig verschroben wirken kann, Gujer und Gonzo. Aber das sind Dinge, sagen Kollegen, die Eric Gujer entscheidend leiten: Unsicherheit. Eine grosse Angst vor Kontroll­verlust. Vor nichts fürchtet er sich so sehr wie vor Leuten wie dir: unbefestigten Kanonen an Deck. Vermutlich wollte er dich überhaupt nur deshalb treffen: Binde deine Feinde an dich. Vielleicht auch einfach aus Respekt. So klar ist das alles bei Gujer nämlich gar nicht, sagen sie, wie es in seinen Leit­artikeln manchmal scheint, wenn er Angela Merkel in feinstem AfD-Sprech als «Untote» bezeichnet.

Wer mit ihm in Ruhe über die AfD diskutiert, erlebe einen ziemlich differenzierten Journalisten. Aber wenn Gujer unter Druck stehe, zum Beispiel jetzt gerade wegen der Finanzen, dann drehe er derart im roten Bereich, dass sich das unter anderem auf die Sprache niederschlage – die CDU, «mit einer Krankheit infiziert».

Eric Gujer, nachdem sich in Thüringen FDP-Mann Thomas Kemmerich nur mit den Stimmen der AfD zum Minister­präsidenten wählen lassen konnte, erlebte die NZZ einen Shitstorm. Dass die FDP mit der AfD zusammen­gehe, sei kein Makel, hiess es in der NZZ – entgegen allen Kommentatoren von links bis rechts in Deutschland. Sogar «Welt»-Chef­redaktor Ulf Poschhardt twitterte: «Wer sich von einem widerwärtigen Rechts­radikalen wie Björn Höcke wählen lässt, hat Schande über den Liberalismus gebracht.» Sehen Sie das anders?
Ich würde auf jeden Fall als FDP und als CDU/CSU einen klaren Unverein­barkeits­beschluss gegenüber der AfD verfolgen. Aber es ist etwas anderes, ob man sich mit den Stimmen einer Partei wählen lässt. Eine Stimme ist keine Koalition. Das haben die Leute alle nicht verstanden. Was die FDP in Thüringen getan hat, ist kein Zusammen­gehen. Aus dem Umstand, dass Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD gewählt wurde, folgt ja zuerst einmal noch keine politische Abhängigkeit. Das erfolgt im nächsten Schritt, wenn sich Herr Kemmerich hätte überlegen müssen, wie er auf dieser Basis regieren will. Und dann hätte er sich von der AfD dulden lassen müssen, und das wäre ein Fehler gewesen. Deshalb hätte ich mich an der Stelle von Herrn Kemmerich gar nicht zur Wahl gestellt. Weil klar ist, er wird im Tages­betrieb keine tragfähige Mehrheit zustande bringen. Aber die reine Wahl der Person ist etwas anderes: Die SP wählt auch Bundesräte der SVP.

Sie würden sagen, SVP und AfD sind vergleichbar?
Das sage ich damit nicht.

Okay. Also?
Der reine Wahlakt einer Person bedeutet noch keine Zusammen­arbeit. Zurück zu Thüringen: Die Wahl allein ist deshalb noch kein Tabu­bruch. Die Frage ist, sollen FDP und CDU mit der AfD eine Koalition eingehen?

Was antworten Sie?
Nein.

1962 geboren, seit 1986 für die «Neue Zürcher Zeitung» tätig. Nach 24 Jahren als Ausland­korrespondent kehrte er 2013 als Leiter des NZZ-Ausland­ressorts an die Falkenstrasse zurück.

Ruprecht Polenz, Ex-General­sekretär der CDU, kritisierte in der Republik die NZZ scharf. Er sagte: «Ich bin über diese Einschätzung sehr erschrocken. Sie ignoriert historische Erkenntnisse. Die Faschisten sind dort, wo sie an die Macht gekommen sind, immer nur an die Macht gekommen, wenn die Konservativen ihnen dazu die Plattform geboten haben.» Was antworten Sie dem CDU-Mann?
Ich halte das für eine völlig falsche Analogie. Die BRD ist nicht die Weimarer Republik. Diese ist nicht nur an den Nazis gescheitert, sondern auch an den Kommunisten. Und viel wichtiger: daran, dass die demokratische Mitte schwach und zerstritten war. Der Vergleich suggeriert einen Alarmismus, der fehl am Platz ist. Deutschland ist eine stabile Demokratie. Die Deutschen dürften ruhig mit ein wenig mehr Selbst­bewusstsein auf die Errungen­schaften von siebzig Jahren bundes­deutscher Demokratie stolz sein und damit auch wissen, dass eine rechts­populistische Partei wie die AfD daran nichts ändern wird.

Würden Sie sagen, die AfD sei eine rechts­populistische oder eine rechts­extreme oder eine faschistische Partei?
Sie hat Wutbürger. Sie hat Rechts­populisten. Sie hat Rechts­extremisten. Das Wort Faschismus, das Sie hier verwenden: Ich bin Historiker und scheue mich davor, es zu gebrauchen. Es besteht die Gefahr einer Entwertung. Jeder schreit heute Nazi, die anderen schreien Lügen­presse. Beides ist schnell eine Übertreibung. Es hat sicher Rechts­extremisten in der AfD, und man beobachtet eine Radikalisierung der Partei. Wo die Partei enden wird, weiss ich nicht.

Es gibt einen ziemlich konkreten Grund, warum in Deutschland derart heftig auf die AfD reagiert wird: die Mord­serien durch Rechts­extreme, die Untätigkeit der Behörden, das wiederholte Verschwinden von Untersuchungsakten. Von wem, würden Sie sagen, geht in Deutschland derzeit die grösste Gefahr aus?
Vom Rechtsterrorismus.

Würden Sie sagen, dieser Rechts­terrorismus passiere in einem luftleeren Raum oder werde durch die Politik befördert?
So etwas geschieht nicht in einem luftleeren Raum. Gleichzeitig habe ich den deutschen Herbst selber erlebt und gesehen, wie schnell Menschen als geistige Brand­stifter abgestempelt werden. Heinrich Böll galt plötzlich als Wegbereiter der RAF. Das ist ein Klima, das für die Demokratie viel gefährlicher ist als der eine oder andere linke oder rechte Schrei­hals. Man muss den Rechts­terrorismus konsequent bekämpfen mit dem ganzen Instrumentarium, das man für den islamistischen Terrorismus entwickelt hat. Gleichzeitig muss die demokratische Öffentlichkeit sehr aufpassen, wo sie die Grenze zieht, und nicht jeden, der anders denkt, zum Sympathisanten von Terroristen erklären. Und ich wundere mich, dass gerade in Deutschland so wenige Menschen an diese Zeit zurück­denken, wo man schnell zum Sympathisanten der RAF erklärt wurde. Glauben Sie, all die Berufs­verbote für Lehrer und Briefträger, die Mitglied einer kommunistischen Partei waren, haben der deutschen Demokratie genutzt?

Ich sehe heute keine Berufs­verbote. Stattdessen erfährt man immer wieder, dass mutmassliche Rechts­terroristen für die Sicherheits­behörden arbeiten.
Erinnern Sie sich an einen Mann mit einem Deutschland-Hütchen, der gegen Journalisten ausfällig geworden ist? Es stellte sich heraus, dass der Mann im öffentlichen Dienst arbeitet, und sofort forderten Leute, er dürfe nicht im öffentlichen Dienst sein. Ich finde derartige Vorgänge nicht zuträglich für eine Demokratie.

(Beim erwähnten Vorfall hatte ein Mann an einer Demonstration der rechts­extremen Pegida in Dresden im öffentlichen Raum filmende Journalisten angepöbelt. Die Empörung entstand später, weil die Polizei auf Drängen des Mannes die Journalisten widerrechtlich fast eine Stunde festsetzte und sie an ihrer Arbeit hinderte und bekannt wurde, dass der pöbelnde Pegida-Mann Mitarbeiter des sächsischen Landes­kriminal­amtes ist und Zugang zu polizeilichen Ermittlungs­daten hat. Der Mann hatte sich an jener Demonstration in einer Gruppe Rechts­radikaler aufgehalten, welche die vorbei­fahrende Angela Merkel als «Volks­verräterin» beschimpfte. Er wurde später, wie das Innen­ministerium mitteilte, auf einen Posten in der Landes­direktion versetzt.)

«Gujer hat nicht viele Freunde», sagt ein beruflicher Gefährte. «Es verhält sich sogar so, dass er auf der Redaktion nicht nur keine Freunde hatte. Er hatte einige intime Feinde, was sehr ungewöhnlich war. Eine Reihe von Leuten auf der Redaktion haben extrem negativ auf ihn reagiert. Ein langjähriger Deutschland­korrespondent und er: Man ging sich gegen­seitig fast an die Gurgel. Ein anderer Redaktor und Gujer: quasi offener Krieg. Man konnte sich nicht riechen. Der legendäre Redaktor K. sprach nur vom ‹Giftzwerg›. Eine heftige emotionale Antipathie, die Aussen­stehende schwer erklären konnten. Gleichzeitig bemüht er sich, keine Hass­figur zu sein. Es ist ihm bewusst, dass er eine negative Wirkung haben kann.»

Als wir uns nach dem zweiten Gespräch verabschieden, sagt er beim Abschied, als ich direkt danebenstehe, zu seiner Kommunikations­chefin, die alles mitgeschrieben, mitaufgenommen und sich sogar zweimal ins Gespräch eingemischt hat, ob sie nachher noch direkt zu ihm ins Büro komme, Debriefing quasi: Wie war ich?

Ja, wie war er?

Beim Gespräch sage ich zu ihm, dass er auf mich so ziemlich wie das Gegenteil eines Hunter S. Thompson wirke oder eines Tucholsky. Er wirke auf mich auch nicht wie ein typischer Chef­redaktor. Am ehesten treffe es wohl die Aura eines Geheimdienstchefs.

Gujer tut, was Gujer häufig tut: Gegenfrage.

«Was ist denn zum Beispiel die typische Aura eines Chefredaktors?»

«Eigentlich geht es ja eher darum, wie Sie auf mich wirken: schwer greifbar, kühl, misstrauisch.»

«Ich weiss nicht, was das mit Nachrichten­dienst zu tun haben soll.»

«Penetrante Überheblichkeit – so würde ich ihn charakterisieren», sagt ein langjähriger Weggefährte. «Als er zum Chef­redaktor ernannt wurde, bezeichnete ihn der damalige CEO Veit Dengler als ‹intellektuellen Leucht­turm›. Anderen wäre das peinlich gewesen. Gujer fand das absolut treffend.»

«Er hat allen immer zu verstehen gegeben, dass er zu Höherem berufen ist», sagt ein ehemaliger Kollege. «Hat sich immer sofort für höhere Jobs beworben, was ja in Ordnung ist. Aber es war für ihn ein Stich ins Herz, dass man ihm, der in Moskau war, in Berlin war, diesen so wichtigen Orten, die frei werdende Stelle als Ausland­chef verweigerte und in der Not einen Mann installierte, der davor an völlig unbedeutenden Orten wie Zagreb gearbeitet hatte. Es hatte eine Konsultation gegeben, und die gesamten Kollegen, Redaktorinnen, Korrespondenten, stellten sich gegen Gujer. Es war eine regelrechte Wand des Widerstands. Also installierte man einen Mann namens Martin Woker. Der sagte von Anfang an, er mache den Job nur vier Jahre, und als er abtrat, verzichtete der damalige Chefredaktor Markus Spillmann auf eine Konsultation, und Gujer wurde Auslandchef.»

«Später, als er Chefredaktor war, hat er seinen Mentor Jürg Dedial, den Mann, dem er seine ganze Karriere zu verdanken hat, mit einem Schreib­verbot belegt», sagt ein pensionierter Redaktor, der sein ganzes Leben auf der NZZ verbrachte. «Dedial war ein Mann mit gewaltigen Verdiensten für die Zeitung. Er hatte Gujer während des Volontariats ausgebildet, und später war er sein betreuender Redaktor, als Gujer Korrespondent war. Als Gujer 2015 Chef­redaktor wurde, hatte der inzwischen pensionierte Dedial vor der General­versammlung Flugblätter verteilt, dass man die hauseigene Druckerei in Schlieren nicht wie geplant schliessen dürfe. Und dass man endlich aufhören solle, Millionen in private Abenteuer des CEO Veit Dengler zu stecken, etwa in dessen späteren Riesenflop, die NZZ-Expansion nach Österreich. Gujer teilte Dedial, seinem Mentor, in einem Schreiben mit, er dürfe nie wieder für die Zeitung schreiben, und argumentierte mit mangelnder Loyalität. Und nicht nur das. Gujer liess auch alle von Dedial verfassten Vorrats­artikel löschen, Nachrufe auf bekannte Persönlichkeiten, falls einer an einem Sonntag­abend stirbt. Gujer ist von einer Rachsucht getrieben, die der Zeitung schadet.»

Oder die Geschichte mit Gujers Frau: Claudia Schwartz. Feuilletonistin. Ebenfalls seit Jahr­zehnten beim Blatt. Es kursieren seit Jahren unzählige Geschichten, dass sie sich in Produktions­abläufe einmische und mit «Eric» drohe, wenn nicht getan werde, was sie sage. Quasi völlig bizarre Kompetenz­überschreitung. Das Problem dabei: Diese Geschichten seien alle wahr, sagen alle, die man in der NZZ fragt. Stapel­weise Beschwerden beim HR. Wahr auch, dass der Mann, der im Gespräch so kühl und distanziert wird, dann mit hochrotem Kopf aus dem Büro geschossen komme und herumbrülle, es werde sofort getan, was seine Frau sage. Irgendwie, sagen Leute, die Gujer länger kennen, tue er dies aus einer Mischung aus Überforderung heraus, Unsicherheit, Arroganz und schlechtem Gewissen (Letzteres, weil er seine Frau in der Hierarchie überholt habe). Gujer sagt im Gespräch, dies so zu kolportieren, sei sexistisch, und ich tendiere beinahe dazu, ihm beizustimmen – aber gleichzeitig sind die Quellen, die das kolportieren, zu zahlreich (darunter viele Frauen), um es einfach nicht zu schreiben. Langer Rede kurzer Sinn: mieses Arbeits­klima, viele Abgänge. Angst und Schrecken an der Falkenstrasse. Siehe dazu Gegendarstellung.

Das Blatt, das sich nach dem Kalten Krieg ideologisch geöffnet und begonnen hatte, die Militär­karriere, FDP-Verbindung und all den Kram als nicht mehr zwingend anzusehen für die Rekrutierung der Redaktoren (und dann auch vermehrt Redaktorinnen), wurde unter Chef­redaktor Gujer wieder enger, härter, elitärer – Offenheit und Neugierde für eine viel­schichtige Welt wichen Sterilität, Schwarz-Weiss-Denken, Zynismus: die Welt ein schlechter Ort voller Gefahren, vor denen man sich wappnen muss.

Deutschland über alles

Rainer Zitelmann ist ein deutscher Professor. Irgendwann einmal vor langer Zeit, als es kurz in Mode war, war er offenbar Marxist. Viel später dann, aber auch schon lange her, Anfang der Neunziger, war er Mitherausgeber eines Sammel­bands mit dem Titel «Schatten der Vergangenheit», ein Buch, dessen Ziel es war, so die Herausgeber, eine «Versachlichung der Auseinander­setzung mit der NS-Zeit» herzustellen, also quasi alles, was bisher zur NS-Zeit publiziert worden war: unsachlich. Jetzt endlich Rainer Zitelmann: sachlich. Das Buch, so bewertete es der Historiker Alexander Ruoff später (und mit ihm viele andere Historiker), sei Teil einer Diskurs­strategie der Neuen Rechten, mit der «Auschwitz nicht mehr geleugnet, wohl aber der Versuch unternommen wird, die Verantwortung für die deutsche Nation abzuschwächen oder ganz von ihr zu weisen».

Höchste Zeit also, dass Rainer Zitelmann über Covid-19 nachdenkt. Das tat er in der NZZ Ende März, und er kam dabei zu dem für regel­mässige Leserinnen des Zürcher Traditions­blatts nicht mehr wirklich erstaunlichen Ergebnis, dass nämlich schuld am ganzen Schlamassel wer ist? Sie ahnen es, geschätztes Bildungs­bürgertum: die politische Korrektheit.

«In Deutschland beispiels­weise», schrieb Zitelmann, «wurde mit Inbrunst über das dritte Geschlecht, Political Correctness und ähnlich wichtige Fragen diskutiert, aber heute wundert sich jeder, warum nicht einmal ausreichend Atem­schutz­masken vorhanden sind.»

«Das hier. Das hier ist so unfassbar dumm», antwortete Saša Stanišić, aktueller Träger des Deutschen Buch­preises, in einer Replik auf Twitter. «So dumm auch, dass da also in dieser Redaktion kein einziger Mensch sitzt, der sagt: Hör mal zu, Alter, das ist so irrsinnig dumm, was du da sagst, diese Sachen überhaupt neben­einanderzustellen, geh zurück unter deinen Stein.»

«Wenn die Zeit gekommen ist für eine gute automatisierte Übersetzung, dann wird die NZZ auch auf Englisch erscheinen»: Eric Gujer sieht die Zukunft seiner Zeitung jenseits der Schweizer Grenze.

Die Episode ist sinnbildlich für die Deutschlandstrategie von Eric Gujer. Das Muster dasselbe, seit sich die NZZ aufgemacht hat, mit einem Berliner Büro den deutschen Markt zu erobern: Rechts vom ultrarechten ehemaligen Verfassungs­schutz­chef Hans-Georg Maassen hat man auf Social Media den Applaus auf ziemlich sicher, links davon Kopf­schütteln, Empörung.

Wenn du über die Deutschland­strategie nachdenkst, sagen NZZ-Mitarbeiter, aktive, ehemalige, sehr erfahrene, dem Blatt seit einem halben Jahrhundert verbundene, musst du Folgendes beachten: Das zentrale Problem an der Strategie, und das ist offensichtlich gar niemandem wirklich aufgefallen, und darin liegt der Grund, sagen sie, warum das Blatt in Deutschland nicht mehr wie früher als geschätzter nüchterner Aussen­blick, sondern als Twitter-Krawall­blatt wahrgenommen wird, ist der von Gujer verantwortete Bruch mit einer eisernen Tradition des Blattes. Ein Bruch, der den von ihm 2017 via Newsletter eingeführten angeblichen «anderen Blick» ad absurdum führe: Gujer hat – vermutlich aus Kosten­gründen – mit der Tradition des Blattes gebrochen, dass man niemals, niemals, niemals Journalistinnen aus dem betreffenden Land mit festem Vertrag einstellt.

Das ist keine Frage des Passes, sondern eine Frage der journalistischen Sozialisation: NZZ-Korrespondenten in der Ausland- und Wirtschafts­bericht­erstattung mussten Schweizer sein oder Leute, die zumindest in der Schweiz journalistisch sozialisiert worden sind. Eben wegen des «anderen Blicks», des «Swiss Icon».

Beim Berliner Büro läuft es andersrum: Der Chef kam von der «Süddeutschen». Man wirbt mit dem über Jahrzehnte sorgsam aufgebauten und gepflegten Renommee des anderen, des Schweizer Blicks, während man es gleichzeitig ruiniert.

Der Kurs in Deutschland, so die gängige Einschätzung (die Gujer vehement bestreitet): irgendwo rechts von der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Zeiten­weise wurde alles, was aus dem Berliner Büro kam, von der AfD hochgejubelt, der permanente Anti-Merkel-Kurs in einem Land, das zwanzig Jahre Stabilität erlebt hatte. Ein ehemaliger Redaktor, der lange mit Gujer zusammen­arbeitete, sagt: Man setzte sich ins falsche Boot, und damit kamen die falschen Freunde. Gujers Strategie offenbarte sich, als der Applaus zeitweise fast nur noch aus AfD-Kreisen kam und man einen differenzierteren Kurs fuhr: Es ging gar nicht so sehr um Ideologie. Er ist nicht völkisch. Er ist nicht AfD. Aber er testet aus, wo der Markt liegt, und geht dabei zu weit, rudert dann ein Stück zurück und so weiter.

«Wir haben nicht die Absicht, in Deutschland eine andere Positionierung zu vertreten als in der Schweiz. Es gibt keine zwei Linien», sagt Gujer auf die Kritik am politischen Kurs seiner Zeitung in Deutschland. Eine aktuelle Untersuchung habe ergeben, dass sich die neue Leserschaft in Deutschland aus der Mitte des klassischen Bürgertums zusammensetze: Der Anteil an FDP- und Grünen-Wählern sei im Vergleich zu den Lesern anderer Tages­zeitungen in Deutschland überdurchschnittlich.

Während intern ziemlich die Angst umgeht, dass sich der neue Kurs niemals rechnen kann (günstige Digital-Abos in Deutschland, die über die Verluste in der Schweiz hinweghelfen sollen) und dass Deutschland völlig unverhältnis­mässig viel Raum in der Zeitung eingeräumt wird, plant Gujer Grosses.

«Wir werden die Bericht­erstattung in Deutschland weiter ausbauen», sagt er. «Die deutsche Leserschaft ist stark wachsend. Wir haben dort jetzt knapp 20’000 zahlende Kunden. Wir sehen es jetzt in der Corona-Krise: Die Leute schätzen unseren sachlichen Content. Und die Deutschland­strategie ist letztlich nur der Schritt zu einer noch grösseren Leserschaft. Wenn die Zeit gekommen ist für eine gute automatisierte Übersetzung, dann wird die NZZ auch auf Englisch erscheinen. Wir glauben, dass wir als einzige Schweizer Zeitung Inhalte haben, die auch international nachgefragt werden könnten.»

Champagnerlaune. Oder?

Die Verluste in der Schweiz …
Von welchen Verlusten sprechen Sie? Wir haben keine Verluste.

Die aktuellen Untersuchungen der Wemf AG beziffern die verkaufte Auflage der NZZ auf 76’023. Zum Vergleich: 2015, als Sie Chefredaktor wurden, lag die verkaufte Auflage noch bei 106’000 Exemplaren.
Auch bei der NZZ macht sich der strukturelle Rückgang bei den Print-Abos bemerkbar. Aber dieser wird durch die Online-Abos überkompensiert.

Wie sehen die Zahlen aus?
Wir hatten Stand Ende 2019, als NZZ-Medien­gruppe, 166’000 Abos. Das ist ein Wachstum von knapp 7 Prozent. In einem Markt, wo Sie sonst Rückläufe zwischen 3 und 12 Prozent haben. Im ersten Quartal 2020 hat sich diese Entwicklung fortgesetzt und im Zuge der Bericht­erstattung zur Corona-Krise deutlich verstärkt (Anmerkung der Redaktion: Die Gespräche waren geführt worden, bevor die NZZ Kurzarbeit anmeldete). Über alle Titel gesehen verzeichnete die NZZ im März 2020 ein Wachstum der Print- und Digital-Abonnements um 5 Prozent auf über 177’000. Im Einzel­verkauf konnte die gedruckte NZZ um rund 10 Prozent zulegen.

Das ist ja grossartig.
Während der «Tages-Anzeiger» in den letzten Jahren gesunken ist, sind wir bei den Abos gewachsen. Und das ist doch eigentlich eine wunderbare Story.

Gratulation.
Danke. Ich finde es erstaunlich, dass gerade Sie als Reporter eines Online-Mediums diese Entwicklungen im Digitalen komplett ausblenden und sich alleine auf die Wemf-Zahlen stützen, denn Wemf-Zahlen sind noch immer in der Wahrnehmung Print-Zahlen. Als einzige Schweizer Bezahl­zeitung haben wir unterdessen digital eine höhere Reichweite als gedruckt.

Was kostet eigentlich ein Print-Abo bei der NZZ?
Ein Print-Abo ist natürlich deutlich teurer als das günstigste Einstiegs­abonnement im Digitalen.

Was kostet ein Print-Abo?
Es kommt darauf an, in welcher Kombination. Ein NZZ-Print- und Digital-Abo mit diversen Extras kostet 814 Franken jährlich.

Wenn Sie vom Zuwachs sprechen, können Sie diesen Zuwachs aufschlüsseln: Die Digital-Abos in Deutschland sind zum Schnäppchen­preis zu haben. 10 Euro im Monat in Deutschland. 100 Euro im Jahr. Den ersten Monat gibt es sogar ab 1 Euro. In der Schweiz wiederum kostet ein Digital-Abo 240 Franken. Wenn dann sogar Print und Deutschland-Digital im selben Topf aufgeführt ist: Kann ein 1-Euro-Abo ein 814-Franken-Abo aufrechnen?
Wir haben keine 1-Euro-Abos.

Zehn Euro.
Richtig ist, dass der Average Revenue per User im Print höher ist. Mit dem Print-Leser verdienen Sie im Schnitt mehr als mit dem Digital­leser. Dem gegenüber aber steht, dass Sie dank dem Digitalen eine sehr viel grössere Reichweite haben können und potenzielle Kunden­gruppen erreichen, die Sie sonst nie erreichen würden. Natürlich müssen Sie digital mehr Abos verkaufen als im Print. Aber das schaffen wir ja auch. Wie gesagt, wir sind um 7 Prozent gewachsen im vergangenen Jahr und konnten das Wachstum in den letzten Monaten deutlich ausbauen. Sie müssen mehr verkaufen, aber die Kosten sind dafür auch niedriger. Sie haben keine Distribution. Sie müssen nicht drucken. Das kommt in die Gegen­rechnung. Manche behaupten, dass dies gar nicht aufgehen könne. Wenn dem so wäre, wäre auch die Republik zum Tod verurteilt.

Macht die Zunahme im Digitalen die Verluste im Print wett?
Wir haben unseren Umsatz und Ertrag im Leser­markt gesteigert, und zwar ganz wesentlich wegen unseres Gesamt­wachstums. Mehr als 2018. Mehr als 2017. Mehr als 2016. Mehr als 2015. Der Geschäfts­bericht 2019 wird in diesen Tagen publiziert. Daraus können Sie entnehmen: Im Leser­markt steigern wir Umsatz und Ertrag.

Ein paar Tage später schickt mir Seta Thakur die Medien­mitteilung zum Geschäfts­bericht. Dort heisst es: «In einem anhaltend anspruchs­vollen Markt­umfeld setzt die NZZ-Medien­gruppe auf langfristiges Wachstum im Nutzer­markt. Mit rund 166’000 zahlenden Kunden per Ende 2019, was einer Steigerung von rund sieben Prozent entspricht, ist sie diesbezüglich gut auf Kurs. Das Betriebs­ergebnis ging, vor allem aufgrund des strukturellen Rückgangs im Werbe­markt Print, um 3,3 Millionen Franken auf 17,5 Millionen Franken zurück.»

Kurz darauf: Kurzarbeit wegen Corona.

Irgendwie klingt das plötzlich alles nicht mehr so rosig. So stabil. Nicht nach Champagnerlaune.

Das Problem an der Sache, wie Fachleute sagen: Eric Gujer kann noch so viel über den Zuwachs an Digital-Abos sprechen. Finanziell reicht das nirgendwo hin, und zwar, weil man für Digital­inserate nur einen Bruchteil dessen verlangen kann, was Print­inserate kosten. Der Zuwachs an Digital-Abos kompensiert in keiner Weise den Wegfall der Print­inserate (was der Grund ist, warum derzeit alle grossen Verlage – auch die NZZ – trotz aktuell hoher digitaler Zugriffe, die gefeiert werden, auf Kurzarbeit umsteigen).

Unser Wirtschaftsredaktor Philipp Albrecht sagt: «Frag doch mal Seta Thakur, wie es um das Verhältnis Einnahmen aus digitaler versus Print­werbung so steht.»

E-Mail: «Sehr geehrte Seta Thakur, wie steht es um das Verhältnis Einnahmen aus digitaler versus Printwerbung?»

Die Antwort, jetzt weniger blumig und vor allem diesmal ohne Zahlen:

«Sehr geehrter Daniel Ryser

Print erzielt nach wie vor mehr Werbe­einnahmen als Digital.

Besten Gruss

Seta Thakur.»

Nach vielen Vermutungen, Geschwurbel, Gejubel um Abo­zuwachs in Deutschland, mit dem man den Verlust der prohibitiv teuren Schweizer Print-Abos ausgleiche, kann man auf Seite 18 des soeben erschienenen Geschäftsberichts 2019 dann nachlesen, dass die Rechnung derzeit nicht aufgeht. Zwar verzeichnet die NZZ offenbar tatsächlich einen Zuwachs an Abos vor allem in Deutschland und verdiente 2019 damit 100’000 Franken mehr – gleichzeitig habe man im Werbe­markt 3,6 Millionen Franken weniger eingenommen.

Die Generalversammlung findet am 18. April statt. «Da es keine Live-GV geben wird und spontane Anträge nicht vorgesehen sind», sagt ein Aktionär, «wird sich die Szene von 2004 nicht wieder­holen können, als trotz eines Verlust­ausweises ebenfalls Dividende hätte ausgeschüttet werden sollen. Aufgrund einer spontanen Wort­meldung eines Aktionärs kam der Antrag durch, lieber in die Zukunft zu investieren und keine Dividende auszuzahlen.»

Manuel Rentsch, Wirtschafts­redaktor von SRF 3, hat inzwischen gerechnet: Bei 200 Franken pro Aktie nach aktuellem Geschäfts­gang (und 40’000 Aktien) werden an der NZZ-Generalversammlung 8 Millionen Franken Dividenden ausbezahlt. «Es ist offensichtlich», sagt mir ein NZZ-Aktionär: «Der Journalismus bräuchte das Geld ganz dringend, denn die Zahlen sind nicht gut. Die Corona-Krise sorgt zwar für einen temporären Leser­zuwachs, aber diese digitalen Abos können den Wegfall der Inserate niemals kompensieren. Diese Millionen, die sie jetzt ausschüttet, bräuchte die NZZ ganz dringend. Während ich Ihnen gleichzeitig versichern kann: Kein einziger unserer Aktionäre hätte die Dividende nötig.»

Es erscheint als eigene Überlebens­strategie, dass Gujer in den Gesprächen, die wir führten, mehrfach betont, dass der Wegbruch an Lesern in der Schweiz nichts, aber auch gar nichts mit der von ihm geprägten politischen Ausrichtung des Blattes zu tun habe, man habe das sogar analytisch überprüft: «Die wenigsten, die uns als Leser verlassen haben, haben politische Gründe angegeben. Eher Preis­argumente. Oder man liest keine Zeitung mehr. Aber das Schöne ist, dass wir im Gegensatz zu allen anderen Zeitungen in der Schweiz die Verluste auf der einen Seite im Digitalen überkompensieren können.»

Gestatten: Eric Gujer, Chefredaktor NZZ, der einen Umsatz­rückgang im Werbe­markt von 3,6 Millionen Franken mit einem Umsatz­zuwachs im Abo-Bereich von 100’000 Franken «überkompensiert».

Gujer sagt, da vertraue er lieber den eigenen Analysen als dem «Medium Ryser», wenn ich ihm antworte, dass ich mit Dutzenden Leuten gesprochen hätte – vom weltoffenen Lehrer über die Professorin zum Ex-UBS-Bereichs­leiter zum marxistischen Studenten und zur Wirtschafts­journalistin –, die alle die NZZ aus politischen Gründen abbestellt hätten, vor allem wegen des journalistischen Umgangs mit der rechts­radikalen AfD.

Gujer lächelt das mit einem Kopf­schütteln weg, und natürlich kann man durchaus sagen, dass es völlig unwesentlich ist, dass in meinen komplett vernachlässigbaren, in Bubbles erstickenden linken Zecken­kreisen niemand mehr die NZZ liest, weil man es zum Beispiel in einer Welt der Trumps, Erdoğans, Putins, Orbáns, Bolsonaros und Johnsons irgendwann als intellektuelle Beleidigung empfand, wöchentlich erzählt zu bekommen, dass wir offenbar – zumindest in der Wahrnehmung an der Falkenstrasse – kurz vor einer totalitären Diktatur eines queer­feministischen Regen­bogens stehen. Aber 30’000 verloren gegangene Print-Jahres­abos lassen sich womöglich doch nicht so einfach mit Bubble und «lesen einfach keine Zeitung mehr» schönreden. Gäbe es den von Gujer vehement bestrittenen Zusammen­hang mit politischen Gründen – wie unterschiedlich diese Gründe bei den Zehn­tausenden, die in der Schweiz seit 2015 ihr teures Print-Abo der «Neuen Zürcher Zeitung» gekündigt haben, letztlich auch aussehen würden –, es wäre sein Ende.

Gegendarstellung vom 20.05.2020

Der Artikel «Wie war ich?», erschienen in der Republik am 15. April 2020, enthält falsche Tatsachenbehauptungen:

– Es wird behauptet, dass im Gefolge des Artikels «Die Schweiz braucht keine Staats­medien» teure Schweizer Print­abonnemente abbestellt und nicht zurück­gekommen seien. Diese Aussage stimmt nicht.

– Es steht, Herr Gujer habe mit der eisernen Tradition des Blattes gebrochen, dass die NZZ niemals Journalisten aus dem betreffenden Land mit festem Vertrag einstellt. Diese Aussage ist falsch, es gab in der NZZ keine solche Tradition.

– Es wird behauptet, Eric Gujer habe im Anschluss an das Gespräch mit der Republik an die Kommunikations­chefin sinngemäss die Frage gestellt: «Wie war ich»? Diese Behauptung ist falsch, eine solche Frage wurde von Herrn Gujer zu keiner Zeit gestellt.

– Es wird behauptet, Eric Gujer habe alle von Jürg Dedial verfassten Vorrats­artikel löschen lassen. Diese Aussage widerspricht den Tatsachen.

– Es wird Eric Gujer die Aussage unterstellt, dass er den Umsatz­rückgang im Werbe­markt von 3,6 Millionen Franken mit einem Umsatz­wachstum im Abo-Bereich von 100’000 Franken «über­kompensiere». Richtig ist, dass das Umsatz­wachstum im Abo-Bereich von 100’000 Franken den Rückgang der Print-Abonnements über­kompensiert, und nur diese Aussage hat Herr Gujer gemacht.

– Es steht, dass Claudia Schwartz sich in Produktions­abläufe einmische und mit «Eric» drohe, wenn nicht getan werde, was sie sage. Diese Behauptungen entsprechen nicht den Tatsachen.

– Es wird behauptet, dass es «stapel­weise Beschwerden beim HR» über Claudia Schwartz gebe. Diese Aussage ist falsch.

Eric Gujer
Neue Zürcher Zeitung AG
Claudia Schwartz

Die Redaktion hält an ihrer Darstellung fest.