Liebe Leserinnen und Leser
Profitieren Sie auch von Kurzarbeit? Oder anders gefragt: Leiden Sie darunter?
Wie so oft im Leben kommt es auf die Perspektive an. Erlauben Sie uns, Ihnen ein paar Erklärungen zu diesem Mittel der sozialen Marktwirtschaft zu reichen. Wir lassen Sie am Ende natürlich selber entscheiden, was für Sie gilt: leiden oder profitieren?
Wenn grosse Einflüsse von aussen das Geschäft kurzfristig lahmlegen, wenn also die Schweizer Unternehmen aus eigener Kraft nichts dagegen tun können, dann dürfen sie beim Staat Kurzarbeit anfordern. (Wie Kurzarbeit geht, das erklären wir etwas weiter unten.)
In den letzten 20 Jahren kam das dreimal in erhöhtem Masse vor:
2001, als die Wirtschaftskrise mit den Anschlägen von 9/11 zusammentraf;
2008, als die Finanzkrise ausbrach;
2015, als der Frankenschock der Exportbranche schadete.
Betroffen waren jeweils ein paar tausend Angestellte, 2009 sogar knapp 100’000. Die Corona-Krise ist eine ganz neue Kategorie: 1,4 Millionen Arbeitnehmende sind gerade in Kurzarbeit. Das ist jeder vierte Arbeitsplatz im Land. Um das zu bezahlen, hat der Bund 8 Milliarden Franken auf die Seite gelegt.
Das Schöne an der Kurzarbeit: Sie ist ein Mittel zum Erhalt von Arbeitsplätzen. Denn in den meisten Branchen sind die Löhne die höchsten Kosten eines Unternehmens. Früher stellten die Arbeitgeber präventiv einen Teil der Belegschaft auf die Strasse, als am Horizont dunkle Wolken aufzogen. So konnten sie wenigstens die Lohnausgaben sparen. Heute beantragen sie Kurzarbeit.
Der Staat vergütet damit fast vollständig, was ihnen an Lohnkosten wegfallen würde. Konkret: Arbeitet jemand neu nur noch 50 Prozent, dann zahlt der Arbeitgeber die Hälfte des Lohns und die Arbeitslosenversicherung 80 Prozent der anderen Hälfte.
Für die Angestellten klingt das im Grunde nicht schlecht. Sie arbeiten vielleicht nur noch zweieinhalb statt fünf Tage die Woche und beziehen trotzdem 80 oder 90 Prozent des Lohnes. Nur: Früher konnten sie an den freien Tagen im Shoppingcenter bummeln, im Freibad planschen oder für ein langes Wochenende zu den Verwandten ins Elsass fahren. In der Corona-Krise ist das anders. Es liegt bestenfalls ein Ausflug auf den Hausberg drin. Viele würden lieber Vollzeit arbeiten.
Es trifft nicht alle gleich stark. So kann es sein, dass man statt 100 Prozent noch 80, 60 oder sogar nur noch 20 Prozent arbeitet. Einige kriegen noch 100 Prozent des Lohns, andere nur noch 80. Je nachdem, ob ihr Arbeitgeber bereit ist, seinen Beitrag auf 100 Prozent aufzurunden. Nicht wenige Unternehmen machen das so – zumindest bis Ende Juni.
Besonders bizarr ist die Situation in den grossen Medienhäusern. TX Group, NZZ, CH Media und Ringier haben letzte Woche Kurzarbeit eingeführt. Doch ihr Hauptprodukt, der Journalismus, ist in der Corona-Krise eigentlich gefragt wie nie. Weil aber gerade die Werbeeinnahmen um bis zu 80 Prozent einbrechen, sind zahlreiche Journalistinnen zur Kurzarbeit gezwungen. Wir haben die extrem schwierige Situation der Medienkonzerne hier beschrieben. Wenn Sie sich also regelmässig bei einem Medium informieren und finden, dass es einen guten Job macht: Jetzt wäre kein schlechter Moment, es mit einem Abo zu unterstützen.
(Wir von der Republik dürfen uns übrigens sehr glücklich schätzen: Da wir werbefrei sind, brechen uns da auch keine Einnahmen weg. Wir müssen darum auch keine Kurzarbeit beantragen.)
In vielen anderen Branchen ergibt es aber sehr viel Sinn, dass die Unternehmen für ihre Angestellten Kurzarbeit anmelden. Etwa in der Hotellerie und in der Coiffeurbranche. Denn reisen dürfen wir derzeit genauso wenig wie uns die Haare professionell schneiden lassen.
Aber eben: Viele Coiffeure würden es nach drei Wochen Kurzarbeit wieder vorziehen, Haare zu schneiden, anstatt schon wieder auf den Hausberg zu spazieren. Und wie geht es Ihnen: Leiden oder profitieren Sie?
Wenn Sie ein Abo haben oder Mitglied sind, dann würde es uns freuen, wenn Sie morgen Dienstag in der Corona-Debatte mit uns über Ihre Erfahrungen diskutierten.
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
Die neuesten Fallzahlen: Gemäss Zahlen, die das Statistische Amt des Kantons Zürich aus den Daten der einzelnen Kantone zusammenstellt, zählt die Schweiz heute mindestens 21’424 positiv auf Covid-19 getestete Personen. Am 24. März waren es rund 10’000 – die Fallzahlen verdoppeln sich derzeit innerhalb von mehr als 10 Tagen und damit etwas langsamer als zuvor. Gute Neuigkeiten verkündet auch der «Tages-Anzeiger»: Er berechnet die Anzahl der mutmasslich Geheilten (die von den Behörden nicht erhoben wird). Und demnach dürfte heute die Anzahl der Covid-19-Kranken in der Schweiz erstmals rückläufig sein.
Bundesrat denkt nicht an Lockerung: Es scheine «illusorisch, dass wir auf den 20. April hin viel ändern können», sagte Bundesrat Berset am Wochenende. Und auch heute betonte der Gesundheitsminister: «Wir müssen hart bleiben und Opfer bringen.» Er lobte die Schweizer Bevölkerung für dieses Wochenende: Die meisten hätten sich weitestgehend gut an die Massnahmen gehalten, stärkere Einschränkungen seien deshalb derzeit nicht vorgesehen. Der Bundesrat greife schon stark in die Grundrechte ein. «Viel mehr können wir nicht tun», so Berset.
Österreich macht Lockerungsversprechen: In der Schweiz fordern FDP und SVP, dass Geschäfte nach Ostern – unter Beibehaltung der Distanz- und Hygieneregeln – wieder öffnen dürfen. Österreich verkündete nun heute, dass kleine Geschäfte, Bau- und Gartencenter ihren Betrieb ab dem 14. April wieder hochfahren dürfen. Im Gegenzug gilt neu Maskenpflicht nicht nur in Supermärkten, sondern auch im ÖV. Bundesrat Alain Berset betonte, dass Österreich mit einer in etwa gleich grossen Bevölkerung, aber nur halb so vielen Infizierten nicht mit der Schweiz vergleichbar sei.
Material aus China: Statt Menschen transportierte die Swiss am Wochenende Kisten voller medizinischen Schutzmaterials – nicht nur im Frachtraum, sondern auch auf Sitzplätzen, wie dieses Foto eindrücklich zeigt. Die Maschine aus Shanghai ist der erste von geplant über zehn Frachtflügen. Insgesamt sollen über 35 Millionen Artikel für medizinisches Personal aus China geliefert werden. Die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich hat das Ganze vorfinanziert.
Boris Johnson auf Intensivstation: Vor 10 Tagen wurde der britische Premier positiv auf das Coronavirus getestet. Weil seine Symptome nicht abklingen, musste er am Sonntagabend hospitalisiert werden. Zwar betonte sein Sprecher am Montagvormittag, Johnson habe eine «beschwerdefreie» Nacht gehabt und sei «guter Stimmung». Am Abend aber wurde mitgeteilt, der 55-Jährige habe auf Anraten seines medizinischen Teams auf die Intensivstation verlegt werden müssen.
Die besten Tipps und interessantesten Beiträge
Warum spielt die Europäische Union in der Corona-Krise bloss eine Nebenrolle? Und wie könnte sie das ändern? Über diese Fragen schreibt Joseph de Weck eine Analyse in der Republik. Seine Antworten kurz zusammengefasst:
Die Nationalstaaten dominieren, weil Brüssel in der Gesundheitspolitik kaum Kompetenzen hat. Und doch sind alle Länder Europas auf die EU angewiesen. Besonders auf ihr Herzstück: den Binnenmarkt.
Zu Beginn der Krise allerdings versäumte es die EU-Kommission, die Regierungs- und Staatschefs auf ein gemeinsames Vorgehen einzuschwören. Und so galt zunächst überall: keiner für alle, alle für sich.
Als das den Zusammenhalt der EU zu gefährden drohte, besann sich die Kommission doch noch auf ihr bestes Argument: Gemeinsam ist man stärker als allein. Brüssel begann für alle EU-Staaten die Beschaffung der am dringendsten benötigten Medizinprodukte zu organisieren.
Nach wie vor streitet man hingegen über die Frage, wie man die wirtschaftliche Talfahrt bremsen kann. Im Moment schaut es so aus, als könnte sich das besonders Corona-geplagte Italien durchsetzen – dank der Unterstützung von Frankreich und finanzieller Hilfe der Europäischen Zentralbank, die italienische Schuldtitel en masse kauft.
Allmählich beginnt man sich nun also zu unterstützen. Nur: bei den Bürgerinnen und Bürgern ist das noch kaum angekommen.
Was sich auch zu lesen lohnt:
Pandemien haben die unangenehme Nebenwirkung, bestehende Ungleichheiten zu verstärken. So auch die zwischen Frau und Mann:
Im Homeoffice fällt die Kinderbetreuung oft Frauen zu.
Die Löhne von Frauen erholen sich nach solchen Krisen langsamer als die von Männern.
Und die Gefahr für häusliche Gewalt ist in der Quarantäne besonders gross.
Covid-19 sei ein Desaster für den Feminismus, schreibt darum das Magazin «The Atlantic». Eine OECD-Studie bestätigt: Frauen tragen gesellschaftlich betrachtet die Hauptlast der Pandemie.
Systemrelevant! Diese Klassifizierung der derzeit wichtigsten Berufe lesen und hören wir seit dem Lockdown täglich. Und gerade diese gehören meist zu den untersten Lohnklassen. Republik-Autorin Olivia Kühni relativiert – und präzisiert: «Nicht alle sogenannt systemrelevanten Jobs sind schlecht bezahlt. Doch in unterschiedlichen Branchen verdient man sehr verschieden. Und ausgerechnet in einigen der unverzichtbaren Berufe – ganz zuvorderst im Gesundheitswesen – sind die Geschlechterunterschiede bei den Löhnen gross.»
Frage aus der Community: Kann ich mich über Aerosole anstecken? (Und, ehm, was ist das überhaupt?)
Sie haben an dieser Stelle schon über Tröpfchen- und Schmierinfektionen gelesen: Ansteckungen über ausgehustete Tröpfchen oder via kontaminierte Oberflächen. Aber kann man sich auch über Luft anstecken, in der winzige, leichte Tröpfchen hängen, die eine angesteckte Person vor mehreren Minuten oder Stunden ausgeatmet hat? Das ist, was manche Wissenschafterinnen den Ansteckungsweg über Aerosole nennen.
Ob dieses Virus über längere Zeit in Kleinsttröpfchen in der Luft hängen und Menschen anstecken kann – das ist eine der grossen Fragen dieser Pandemie. Was Sie wissen sollten:
Verschiedene Forscherteams haben Luftproben gesammelt, manche haben dort Spuren von Sars-CoV-2 gefunden. Die meisten Experten gehen davon aus, dass das Virus in der Luft überleben kann.
Noch völlig ungeklärt ist, ob solche Virusspuren reichen, um einen Menschen anzustecken.
Wenn ja, dann ist dieser Ansteckungsweg selten. Andernfalls würden wir viel höhere Fallzahlen beobachten.
Und wenn ja, dann steigt das Ansteckungsrisiko vermutlich mit der Virusladung, der Sie ausgesetzt sind. Die Virusladung einer Ausatmung einer infizierten Person an der frischen Luft mag nicht reichen, um Sie anzustecken. Deren Ausatmungen während eines 45-minütigen Gesprächs in einem geschlossenen Raum möglicherweise schon.
Bis definitive Beweise vorhanden sind, wird viel Zeit und viel Forschungsarbeit vergehen.
Gehen Sie also vorsichtig davon aus, dass Ansteckungen über die Luft möglich, aber bedeutend weniger wahrscheinlich sind als Ansteckungen über grössere (ausgehustete oder ausgenieste) Tröpfchen. Wenn Sie ganz sicher gehen wollen, dann hier der Tipp einer Forscherin: Stellen Sie sich vor, dass alle Menschen, die Sie beim Spazieren oder Einkaufen treffen, rauchen würden. Und bewegen Sie sich so, dass Sie dem Rauch ausweichen.
Zum Schluss ein ganzes Paket an guten Nachrichten
Heute präsentieren wir Ihnen nicht wie üblich eine gute Nachricht, sondern den Schlüssel zu einer Serie tröstlicher Geschichten, gesammelt von den Journalistinnen der «Süddeutschen Zeitung». Es ist eine Leckerli-Sammlung für besonders harzige Lockdown-Tage, und ein paar konkrete Beispiele servieren wir hier:
Das Image des etwas verstaubten Gutscheins wandelt sich plötzlich und wird zur Hilfe für krisengebeutelte Geschäfte.
Mit Gebärdensprachendolmetschern löst Deutschland endlich sein Versprechen an Gehörlose ein. Aber auch Hörende sollten ihnen zuschauen.
Hier finden sie eine Geschichte über das Schöne am Stranden in einer fremden WG oder auf dem elterlichen Bauernhof.
Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.
Bis morgen.
Philipp Albrecht, Dennis Bühler, Marie-José Kolly und Cinzia Venafro
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.
PPPS: Sind Sie einsam? Falls ja, hilft es Ihnen vielleicht, mit jemandem zu reden – egal worüber. Das Onlineprojekt «Binenand» der Schweizer Bloggerin Kafi Freitag verbindet Menschen für spontane Unterhaltungen. Ohne Video, ohne Profilbilder – Sie hören nur die Stimme Ihrer Gesprächspartnerin.
PPPPS: Man könnte doch mit dem, was in der heimischen Stube griffbereit ist, einen auf Dalí machen – das dachte man sich im Getty Museum in Los Angeles und rief dazu auf, bekannte Bilder nachzustellen, zu fotografieren und in den sozialen Netzwerken zu teilen. Wären Sie ohne Corona auf die Idee gekommen, dass eine Scheibe Mortadella auch etwas Surrealistisches hat? Wir ebenfalls nicht.
PPPPPS: Der Zürcher Troubadour Ian Constable («Hippiekacke») hat ein Corona-Lied geschrieben, dessen Video wir Ihnen wärmstens empfehlen. Constable beschreibt, wie er sozusagen in der Lockdown-Starre an seinen kreativen Vorsätzen gescheitert ist.