Auch mit Sicherheitsabstand gemeinsam stärker: EU-Mitgliedsstaaten in einer Videokonferenz mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron (26. März 2020). Ian Langsdon/EPA/Keystone

Wohin führt die höhere Gewalt Europa?

Schritt für Schritt überwinden die europäischen Staaten in der Corona-Krise ihre nationalen Egoismen. Das entspricht dem Drehbuch der EU-Gründer. Und ist zugleich eine Gefahr für die Geschichts­schreibung in den Köpfen von Europas Bürgern.

Eine Analyse von Joseph de Weck, 06.04.2020

Im Jahr 2014 feierte der Regisseur Ruben Östlund mit seinem Film «Force Majeure» («Höhere Gewalt») einen Welterfolg. Der Plot: Eine schwedische Familie sitzt auf der sonnigen Terrasse einer Pisten­beiz in den französischen Alpen. Plötzlich rollt eine Lawine auf das Restaurant zu. Die Mutter wirft sich schützend über die beiden Kinder. Der Vater steht auf, greift nach seinem Handy und flüchtet sich in Sicherheit.

Was zunächst wie eine Lawine aussieht, ist aber nur eine Schnee­staub­wolke. Doch die Impuls­reaktion des egoistischen Vaters stürzt die Ehe in die Krise. Nun weiss die Frau: Im Ernst­fall ist auf ihren Mann kein Verlass.

Eine ähnlich fundamentale Vertrauens­krise durchlebt die Europäische Union. Nur ist die Corona-Pandemie tatsächlich eine tödliche Lawine.

Die EU, der Ernstfall – und die vier Phasen der Krisen­bewältigung.

1. Phase: Keiner für alle, alle für sich

Im epidemiologischen Kampf gegen das Corona­virus spielt die EU keine Schlüssel­rolle. Brüssel hat in der Gesundheits­politik kaum Kompetenzen: Die Gesundheits­infrastruktur ist eine nationale Angelegenheit, Schul­schliessungen und Ausgangs­sperren obliegen den Mitgliedsstaaten.

Allerdings sind diese auf die EU angewiesen, um handlungs­fähig zu bleiben. Ob klein oder gross: Kein europäisches Land ist in der Lage, sich autark mit Medikamenten und Nahrungs­mitteln zu versorgen. Alle sind auf das Funktionieren des Binnen­markts angewiesen – des Herzstücks der EU.

Umso tragischer war es zu Beginn der Krise, dass ein französisch-deutscher Doppel­schlag den europäischen Markt ins Koma beförderte. Staatspräsident Emmanuel Macron gab den Startschuss. Am 3. März liess er alle Masken und sonstigen medizinischen Schutz­kleidungen im Land beschlagnahmen. Daraufhin verfügte Berlin reflexartig ein Verbot des Exports aller zum Schutz des Krankenhaus­personals benötigten Güter.

Auch die Schweiz war davon betroffen. Es kam zu einer Anklageschrift des italienischen Botschafters bei der EU: Der Botschafter warf den Partner­staaten vor, sein Land in der Stunde der Not im Stich zu lassen. Paris stellte zwar schnell klar, dass Frankreich die Güter lediglich den Markt­kräften und nicht Italien entziehen wolle. Doch die Reflex­handlung verriet, welches Prinzip gilt, sobald es hart auf hart kommt: keiner für alle, alle für sich.

Bald folgte der nächste Tiefpunkt. Polen, Tschechien und Dänemark hatten bereits das Schengen-Abkommen ausgesetzt, die nationalen Grenzen geschlossen. Macron seinerseits appellierte, schwer betroffene Regionen zu isolieren, nicht aber die nationalen Grenzen zu schliessen, sondern die EU-Aussen­grenze. Doch das hielt Deutschland nicht davon ab, dem Beispiel zu folgen und einseitig die Grenzen zu seinen neun Nachbar­staaten zu sperren – auch zu Frankreich, obwohl Paris längst eine rigorose Ausgangs­sperre beschlossen hatte und die Grenz­schliessung deshalb unnötig war.

Die Grenzen sind dicht – hier in Kehl (D) zwischen Deutschland und Frankreich. Ulrich Hufnagel/Xinhua/Keystone

Die EU-Kommission, die eigentlich über die europäischen Freiheiten wachen sollte, beobachtete die Demontage des Binnen­markts und des Schengener Abkommens hilf- und ratlos. Die neue Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen hatte das Virus völlig unterschätzt, was sie später auch zugab.

Am 9. März sah sich die italienische Regierung gezwungen, eine nationale Ausgangs­sperre zu verfügen. Gleichentags hielt die ausgebildete Ärztin von der Leyen eine Medienkonferenz zu ihren ersten hundert Tagen im Amt – und feierte Europas Green New Deal.

Die Journalistinnen wollten jedoch in erster Linie wissen, wie Brüssel die Corona-Krise handhaben werde. Ursula von der Leyen antwortete lediglich: Ein Krisen­ausschuss der EU-Kommission berate sich einmal pro Woche zu diesen Fragen – ein verheerendes Signal des Desinteresses an die Adresse der EU-Mitglieds­länder und ihre rund 450 Millionen Einwohner.

Der Apparat in Brüssel hatte es offensichtlich versäumt, die Regierungs- und Staatschefs auf ein gemeinsames Vorgehen einzuschwören. Wieder einmal hatte die Europäische Union in einer Krise an Ansehen verloren.

2. Phase: Die Macht des Faktischen

In Östlunds Film «Force Majeure» verdrängt der Vater für eine Weile seine Impuls­handlung. Dann redet er sich ein, sie sei eine normale Reaktion. Zuletzt setzt er alles daran, seinen Fehler wettzumachen: Die Zukunft der Familie steht auf dem Spiel.

In einem ähnlichen Erkenntnis- und Rehabilitierungs­prozess befindet sich Europa. Dies nicht zum ersten Mal: Bereits während der Eurokrise flüchteten sich Deutschland und Frankreich anfänglich aus der Verantwortung. Erst als die Europäische Währungs­union zu kollabieren drohte, rangen sich die starken Länder dazu durch, den Schwachen unter die Arme zu greifen.

Dieses Muster ist gewisser­massen in der europäischen DNA angelegt. Schon Jean Monnet, massgeblicher Wegbereiter des europäischen Vorhabens, war in den 1950er-Jahren klar, dass die Macht des Faktischen mehr zur Integration beitragen würde als die Führungs­stärke der Politiker.

Darum setzte der Cognac-Händler und spätere hohe Beamte für sein Europa-Projekt in erster Linie auf die Schaffung eines europäischen Binnen­markts. Handel sollte den Wohlstand fördern – entscheidend war für Monnet aber etwas anderes: Die vom Binnen­markt begünstigte europäische Arbeits­teilung untergräbt die wirtschaftliche und mithin die politische Eigen­ständigkeit der Nationen. Sie zwingt diese zur Zusammenarbeit.

Der Vordenker des europäischen Binnenmarktes: Jean Monnet (1952). Maurice Jarnoux/Paris Match/Getty Images

Der Mechanismus funktioniert nach wie vor: An der deutsch-französischen Grenze bildeten sich zu Beginn der Corona-Krise kilometerlange Staus. An der Grenze zu Polen mussten Lastwagen gar bis zu 30 Stunden auf die Abfertigung warten. Deutsche Supermärkte befürchteten bei dem Chaos an den Grenzstationen leere Regale. Und deutsche Hersteller von Beatmungs­geräten sind auf ihre europäischen Zulieferer angewiesen.

Brüssel als Streitschlichter und Ordnungs­hüter war also bald wieder gefragt. Um die Versorgung mit Nahrungs­mitteln wieder ins Rollen zu bringen, tat die EU-Kommission das, was sie am besten kann: Sie verabschiedete Richtlinien – für die Abfertigung des Güterverkehrs an innereuropäischen Grenzen. Der Stau an der deutsch-polnischen Grenze löste sich allmählich auf.

Dann zeigte Brüssel, dass Brüssel gar nicht so machtlos ist. Mit der Rückendeckung kleinerer EU-Mitglieder drohte Ursula von der Leyen, im Schnell­verfahren die Bundes­republik vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu ziehen: wegen des deutschen Verbots, Masken auszuführen. Berlin lenkte schnell ein und erwirkte im Gegenzug ein EU-weites Export­verbot für medizinische Schutzgüter.

Und nun besinnt sich die EU-Kommission wieder auf ihr bestes Argument: Gemeinsam ist man stärker als allein. Neu organisiert Brüssel für alle EU-Länder die Beschaffung der am dringendsten benötigten Medizinprodukte (Masken, Handschuhe, Schutz­anzüge, Brillen etc.) zwecks Stärkung der Verhandlungs­macht und Unter­bindung eines Bieter­kampfs unter EU-Staaten. Zudem legt die EU-Kommission eine «strategische Reserve» von medizinischen Geräten und Medikamenten an, die je nach Dringlichkeit in die EU-Mitglieds­länder geliefert werden.

Nachbarschaftshilfe: Ein französischer Militärtransporter bringt Corona-infizierte Franzosen zur Behandlung nach Deutschland. Lukas Schulze/Getty Images

Bei Emmanuel Macron, etwas langsamer auch bei Bundes­kanzlerin Angela Merkel, wächst inzwischen die Erkenntnis, dass ihre anfangs nationalistische Politik den Zusammen­halt der EU gefährdet. Die deutsche Bundes­wehr fliegt neuerdings Patienten aus Norditalien und aus dem Elsass in deutsche Spitäler. Und Macron gibt italienischen Zeitungen Interviews und fragt, warum sie lieber über russische und chinesische Hilfslieferungen berichten, obwohl Deutschland und Frankreich einiges mehr an Material liefern.

3. Phase: Ein weiterer Integrationsschritt?

Hat man einen schlechten Eindruck hinterlassen, braucht es viel, um das Image aufzuhellen. Die EU hat jetzt das Glück, eine zweite Chance zu erhalten. In den Vorder­grund rückt nämlich die wirtschaftliche Dimension der Krise.

Das Eindämmen des Virus verschlingt gewaltige Mittel. Der Staat muss nicht nur das Gesundheits­system aufrüsten, sondern auch die Existenz von Menschen und Firmen über die Ausgangs­sperre hinaus sichern. Die Krise dürfte viele Menschen dazu anhalten, mehr zu sparen. Der Staat wird voraussichtlich mit Konjunktur­spritzen die Nachfrage ankurbeln müssen.

Italiens Schuldenstand liegt jedoch bereits bei 135 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Und die Finanz­märkte zweifeln, dass Rom die kommenden Schulden abzahlen kann. Kein Wunder, verdoppelten sich die Zinsen auf italienische Staatsanleihen Anfang März innerhalb weniger Tage.

Höhere Finanzierungs­kosten sind eine Gefahr für den Römer Haushalt. Klar ist: Ohne europäische Schützen­hilfe wird Italien die Krise nicht stemmen.

Wie diese Hilfe aussehen soll, wurde an einer Video­konferenz der EU-Staats- und -Regierungs­chefs vergangene Woche besprochen. Zwei Lager standen sich dort gegenüber: Eine Gruppe um Deutschland will den in der Eurokrise gegründeten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) aktivieren. Wie damals Griechenland würde Italien ein Kredit­paket mit Sparauflagen aufgedrückt. Für Italiens Regierung ist das jedoch inakzeptabel. Sie fordert, dass Europa die Kosten der Krise gemeinsam trägt.

Italien hat gar nicht so schlechte Karten in dem Verhandlungs­poker – aus folgenden vier Gründen:

Erstens ist Italien «too big to fail». Griechenland konnte seinerzeit in die Enge gedrängt werden, da sich die Europäer den Euro-Austritt des kleinen Landes leisten konnten. Ein Staats­bankrott Italiens würde jedoch eine Finanz­krise mit globaler Ausstrahlung auslösen und das Ende der Eurozone bedeuten. Das verschafft Italien im Verhandlungs­poker einen Vorteil. Steht die Währungs­union auf der Kippe, hat Berlin noch mehr zu verlieren.

Zweitens bildet sich eine Allianz gegen Deutschland. Frankreich hat in der Europa­politik eine 180-Grad-Wende vollzogen. Bei Amtsantritt setzte Emmanuel Macron wie seine Vorgänger auf den «deutsch-französischen Motor»: Berlin und Paris sollten einen Kompromiss aushandeln und diesen den anderen Ländern verkaufen. Angela Merkel stellte sich jedoch als Total­ausfall heraus. Nie war sie eine flammende Europäerin gewesen, und am Ende ihrer letzten Amtszeit entgleitet ihr zunehmend die Kontrolle über das politische Geschehen in Berlin.

Auch bei Emmanuel Macron wächst die Erkenntnis, dass nationale Sololäufe wenig hilfreich sind. Michel Euler/AP Photo/Keystone

Statt auf Merkel Rücksicht zu nehmen, solidarisiert sich Macron nun offen mit Rom. Paris hat eine Allianz von neun EU-Ländern geschmiedet, welche die finanziellen Kosten der Krise teilweise auf EU-Ebene verlagern und vergemeinschaften wollen. Neben den üblichen Verdächtigen – den ärmeren und krisen­geschüttelten Staaten wie Portugal oder Spanien – sind neu auch EU-Mitglieder mit tiefem Schulden­stand wie Luxemburg (21 Prozent des BIP), Irland (64 Prozent) und Slowenien (70 Prozent) dabei. Und auch die baltischen Staaten überlegen sich, das Lager zu wechseln.

Drittens trifft das Virus unverschuldet. Das von deutschen Medien gern bediente Narrativ der spendier­freudigen Südländer, die durch Brüssel und die Märkte diszipliniert werden müssten, läuft in dieser Krise ins Leere. Durch die langjährige Austeritätspolitik sind die Gesundheitssysteme in manchen Staaten ohnehin schon schwach. Das Corona­virus trifft sie unverschuldet – und härter als andere EU-Länder. Italien fiskalische Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen, wäre überdies falsch: Seit 2011 steht die Regierung auf der Sparbremse und erwirtschaftet Jahr für Jahr einen Überschuss beim sogenannten Primärsaldo – die Staats­einnahmen (ohne Kredit­aufnahme) übersteigen die Staats­ausgaben (ohne Zinszahlungen).

Viertens erhält Italien Unter­stützung von der Zentralbank. Rom hat neben der Moral und Macron einen noch wichtigeren Alliierten: die Europäische Zentral­bank (EZB) in Frankfurt. Als die Zinsen auf italienischen Staats­anleihen in die Höhe schossen, verkündete EZB-Präsidentin Christine Lagarde nach einer Krisensitzung, bis Ende Jahr (Staats-)Anleihen für 750 Milliarden Euro zu kaufen.

«Es gibt keine Grenzen für unser Engagement für den Euro», erläuterte sie einen Tag später auf Twitter – und brach mit einem Tabu der Euro­politik: Die EZB gibt die Beschränkung auf, wonach sie höchstens ein Drittel aller Staatsanleihen eines Euro-Mitgliedslands halten darf. Konkret heisst das: Die EZB kann nun so viele italienische Schuldtitel kaufen, wie sie will. Sie ist jetzt zu dem geworden, was Deutschland nie wollte: zum «Kreditgeber der letzten Instanz» von Euroländern mit Finanzierungs­schwierigkeiten.

Dieser historische Schritt verschiebt die Verhandlungs­dynamik in Richtung der Pariser Allianz: Weigern sich Berlin, Wien und Amsterdam weiterhin, die Kosten der Corona-Krise gemeinsam mitzutragen, müssen sie damit leben, dass Italien künftig in erster Linie über die EZB finanziert wird. Das läuft im Extremfall auf eine faktische Vergemeinschaftung der Schulden heraus.

Italien muss aus diesen Gründen nicht wie Griechenland 2015 klein beigeben und ein ESM-Kredit­programm akzeptieren, da es auf die EZB zählen kann. Will Deutschland wieder etwas Kontrolle über die Situation erlangen, muss es seine Position überdenken und den Verhandlungs­prozess neu lancieren. Erste Anzeichen gibt es bereits dafür. Berlin signalisiert Unter­stützung für den Brüsseler Vorschlag einer europäischen Arbeitslosen­rückversicherung. Merkels CDU hatte sich bislang gegen das Projekt gestemmt.

4. Phase: Welche Erzählung bleibt von der Krise?

Doch bei der Corona-Krise geht es nicht nur um Schutz­masken und Geld. Sondern auch ums grosse Ganze – um das europäische nation building.

Kriege und Katastrophen sind oft Zeiten, in denen altgediente Staats­gebilde einbrechen. Eliten danken ab, neue Institutionen werden geboren. Dies gilt im Besonderen für die EU.

Ohne das Jahrhundert­trauma zweier Weltkriege und der Shoa gäbe es sie erst gar nicht. Auch jeder weitere Integrations­schritt benötigte seine Krise. «Europa wird in Krisen errichtet und wird die Summe der Lösungen dieser Krisen sein», schrieb Jean Monnet in seinen Memoiren.

Das Europa, das die Gründer­väter seiner Generation entwarfen, beruht auf einer speziellen Dialektik: Einerseits schafft wirtschaftliche Integration Verflechtungen, die einen Rückfall ins Nationale verhindern. Andererseits muss das wirtschaftliche Zusammen­wachsen periodisch Krisen hervorrufen, die sich nur dank stärkerer politischer Integration meistern lassen.

Märkte wie der EU-Binnenmarkt sind keineswegs «natürliche» Institutionen. Wie der Wirtschafts­historiker Niall Ferguson in seiner heftig debattierten Geschichte des britischen Empire darlegte, funktionieren sie erst, wenn ein politisches Macht­zentrum sie durchsetzt und legitimiert. Europa ist seit sieben Jahrzehnten auf dem Weg, zu einem solchen Zentrum zu gedeihen.

Wie jede vergangene Krise legt auch die jetzige viele Dysfunktionen des europäischen Staaten­bunds offen. Und wie aus jeder vergangenen Krise dürfte die EU auch aus der Corona-Krise institutionell gestärkt hervorgehen.

Die Union wird gemeinsame Institutionen im Gesundheits­wesen geschaffen haben wie die «strategische Reserve». Sie wird Produktions­kapazitäten im Bereich der Medizinal­produkte von Asien zurück nach Europa geholt haben. Sie wird gelernt haben, temporär nationale Grenzen zu schliessen, ohne den Binnen­markt zu gefährden. Und durch die neusten EZB-Instrumente wird sie die grösste Schwach­stelle der gemeinsamen Währung Euro behoben haben.

Doch die «Was mich nicht umbringt, macht mich stärker»-Strategie hat auch ihre Tücken. Krisen sind immer auch die Geburts­stunde neuer Mythen und Narrative.

Es gibt kaum eine Nation auf der Welt, die nicht als Ausgangs­punkt ihrer kollektiven Erzählung einen Kampf gegen irgendeinen gemeinsamen Feind hat. Für die Schweiz ist dies der Widerstand gegen die Habsburger, für die Franzosen die Nieder­schlagung der Feudal­gesellschaft und für die Amerikaner der Unabhängigkeits­krieg gegen Grossbritannien.

Ob die gemeinsame Schlacht gewonnen wurde oder nicht, ist nebensächlich. Es kommt darauf an, dass bis anhin lose verbundene Gemeinden oder Gesellschafts­gruppen ihre kurzfristigen Interessen beiseite­schieben und im Augenblick der Gefahr zusammen­stehen. Von da aus ist es ein Einfaches, eine nationale oder eben eine europäische Erzählung zu spinnen.

Doch in der Arbeit an einem solchen Krisen­narrativ versagt Europa bislang. Vor allem riskiert es, trotz der anlaufenden Hilfen die Menschen in Italien zu verlieren.

Die Zustimmung der europäischen Bürger zur EU ist über die mittlere Frist relativ konstant. Die Ausnahme ist Italien: Anfang der 2000er-Jahre erklärten fast 60 Prozent der Italienerinnen, sie vertrauten der EU, heute sind es nur noch 36 Prozent. Nach der Euro- und der Flüchtlings­krise fühlt sich das Land in der Corona-Krise abermals von den EU-Partnern im Stich gelassen.

In Italien droht sich das französische Masken­export­verbot tief ins kollektive Gedächtnis einzugraben. Zudem kommunizieren Kommissions­präsidentin von der Leyen und EZB-Präsidentin Lagarde höchst ungeschickt. Von der Leyen betitelte die von Italien geforderten Corona-Anleihen zur Vergemeinschaftung der Krisen­kosten als «Slogan». Lagarde erklärte zu Beginn der Krise, die EZB sei nicht dazu da, die Zinsen auf italienischen Staats­anleihen zu senken. In Italien sorgen solch unüberlegte Statements jeweils für einen Aufschrei. Italiens soziale Netzwerke und selbst die Mainstream­blätter sind voller Verschwörungs­theorien und Artikel, die ausgerechnet diese Französin als Berlins Lakaiin porträtieren.

Finden sie das richtige Krisennarrativ? EU-Ratspräsident Charles Michel, EZB-Chefin Christine Lagarde (rechts) und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 16. März in Brüssel. EU Council/Anadolu Agency/Getty Images

Die Geschichte zeigt es zur Genüge: Wenn ein unsichtbares Virus Leid bringt, suchen die Menschen nach greifbareren Schuldigen – Juden, Hexen, Arme. Die Wissenschafts­journalistin Laura Spinney erläutert dies am Beispiel eines Cholera-Ausbruchs in Paris im März 1832. Die Pariser warfen der Regierung vor, auf Anweisung von König Louis-Philippe I. die Brunnen zu vergiften. Zwar war dies evidenterweise eine Verschwörungs­theorie, aber die Armen starben dahin. Die Krise entfachte die Junirevolte, die mit äusserster Gewalt nieder­geschlagen wurde und als Kulminations­punkt von Victor Hugos Meister­werk «Les Misérables» dient. Der einst als «Bürger­könig» gelobte Louis-Philippe erholte sich nie richtig davon – in der Revolution von 1848 wurde er vom Thron und ins britische Exil gejagt.

Damit sich die Erzählung des von Europa «verratenen» Italien nicht verfestigt, braucht es vor allem eines: ein öffentliches Bekenntnis zur gelebten Solidarität. Eine Geste, die zeigt, dass auch Deutschland als massgebende Kraft bereit ist, für Europa über den eigenen Schatten zu springen und Opfer zu erbringen. Mehr als um das Geld an sich geht es in der Debatte um EU-Finanz­hilfen für Italien um dieses Signal.

In «Force Majeure» geht die schwedische Familie gegen Ende des Films wieder auf die Piste und gerät dabei in dichten Nebel. Die Frau verliert (vermutlich absichtlich) den Blick­kontakt zur Familie und ruft scheinbar verletzt um Hilfe. Diesmal kommt der Mann seiner Frau zur Hilfe. Die Ehe ist damit noch nicht gerettet, aber es ist zumindest die Voraussetzung dafür, dass sie überhaupt noch eine Zukunfts­perspektive hat.

Zum Autor

Joseph de Weck ist Historiker und Politologe in Paris. Er berät Unternehmen zu geopolitischen und makro­ökonomischen Risiken und ist Kolumnist des «Berlin Policy Journal» der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).