Liebe Leserinnen und Leser
Weltweit haben sich wahrscheinlich noch nie mehr Menschen gleichzeitig mit dem genau gleichen Thema befasst. Und trotzdem gibt es so viel, was wir noch nicht wissen über dieses Häufchen an genetischem Material, das uns allen gerade das Leben schwer macht.
Zu einer der dringendsten Fragen können wir Ihnen am Schluss dieses Newsletters ein Update geben: Wie viele Menschen in der Schweiz haben sich eigentlich angesteckt?
Wir hatten auch viele Fragen an Paolo Merlani, als wir ihn kontaktierten: Wie ist die Lage im Tessin? Haben Sie noch freie Betten? Was antworten Sie Menschen, die sagen, es sei alles halb so wild? Sind unsere Spitäler genug gut gerüstet? Schlafen Sie noch?
Leider hatte Paolo Merlani nur wenig Zeit für uns. Kein Wunder: Er ist Chefarzt auf der Intensivstation im Spital Lugano. Und zusätzlich verantwortlich für die Intensivmedizin der vier öffentlichen Spitäler im Kanton Tessin. «Fünf Minuten werde ich schon haben», sagte der Tessiner in bestem Züridütsch, als wir ihn vor ein paar Tagen endlich erreichten. Es waren schliesslich ganze zwanzig Minuten. Wir haben für Sie aufgezeichnet, was er erzählt hat. Vielleicht beantwortet er die eine oder andere Frage, die auch Sie sich stellen:
«Seit einem Monat arbeite ich fast nur noch für Covid-19. Meinen letzten freien Tag hatte ich am 2. Februar.
Ich stehe zwischen halb 7 und 7 Uhr morgens auf. Dann fahre ich ins Büro und mache eine Bestandesaufnahme: Was ist in der Nacht passiert? Es folgen die Stabssitzungen mit den kantonalen Spitälern, mit den Covid-Zentren und dem Spital Lugano bis mittags. Am Nachmittag versuche ich alle Probleme, die wir festgestellt haben, zu lösen. Das dauert oft bis 20, 21, manchmal auch bis 22 Uhr. Dazwischen kriege ich ungefähr 300 Mails und 50 Anrufe. Ich bin nicht an der Front – bei den Patientinnen. Ich kümmere mich im Hintergrund um die Koordination und Organisation der Ressourcen.
Was heisst das? Vor Covid-19 hatten wir ungefähr 40 Intensivbetten in den öffentlichen Spitälern und 12 in den Privatkliniken. Jetzt sind es insgesamt fast 130 Betten. Für die 350’000 Menschen, die im Tessin leben, sind das viele. Wir haben die Ressourcen gebündelt. Für mich bedeutet das: Die Ärzte, die Pflegerinnen, die Beatmungsgeräte, die Medikamente – alles muss reorganisiert werden.
Das grosse Problem ist, dass wir nicht wissen, was noch auf uns zukommt. Genügt unsere Bettenzahl? Vergangenes Wochenende erreichten wir beinahe die Obergrenze. Zum Glück konnten wir 3 Patienten in die Deutschschweiz verlegen, das hat uns etwas Luft gegeben.
Stellen Sie sich folgende Metapher vor: Im Normalfall haben wir in den Spitälern eine Mauer aufgebaut. Sie ist 5 Meter hoch und soll uns in schwierigen Situationen schützen. Diese Mauer haben wir nun wegen Covid-19 auf 30 Meter aufgestockt. Nur: Wie hoch wird die Covid-Welle noch werden? Ein Intensivmediziner muss immer das Schlimmste befürchten. Es ist gefährlich, in meinem Job ein Optimist zu sein.
Ich glaube, inzwischen haben die meisten Intensivmediziner in der Schweiz begriffen, wie ernst die Lage ist. Ich bin in regelmässigem Kontakt mit den grossen Uni-Zentren und den Kantonsspitälern. Die meisten haben uns gehört und reagieren richtig. Sie wissen, dass sie im Vergleich zu uns zwei Wochen Verzögerung haben, und bereiten sich dementsprechend vor. Sie füllen zum Beispiel ihre Reserven an Medikamenten und Schutzkleidung.
Diese Zeit jetzt, das ist klar, wird mich und mein Personal prägen – für den Rest unserer Karriere. Wir realisieren, wie verletzlich unsere Welt ist. Wir dachten, dass die Erfindung von Antibiotika epidemische Krankheiten ausradieren würde. Und dann kamen Krankheiten wie Sars, die gezeigt haben, dass wir jederzeit mit einer Pandemie rechnen müssen.
Die Krankheit Covid-19: Das ist keine normale Grippe. Überhaupt nicht. Sie ist viel gefährlicher und wird mehr Menschen töten. Wenn die Influenza eine ein Meter hohe Welle ist, dann ist Covid-19 ein Tsunami. Wie schlimm er uns am Ende trifft, ist stark davon abhängig, ob die Massnahmen des Bundes greifen, ob es die Menschen schaffen, auf ihre interpersonellen Kontakte zu verzichten – und ob die Welle nicht noch weiter wächst.»
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
Die neuesten Fallzahlen: Gemäss Zahlen, die das Statistische Amt des Kantons Zürich aus den Daten der einzelnen Kantone zusammenstellt, zählt die Schweiz heute mindestens 18’120 Infizierte. Am 23. März waren es erst rund 9000 – die Fallzahlen verdoppeln sich derzeit innerhalb von 9 bis 10 Tagen. Vor rund einer Woche betrug die Verdoppelungszeit noch etwa 4 Tage.
Big Brother im Aargau: Wer im Rüeblikanton auf die Strasse oder in Parks geht, muss davon ausgehen, dass der Staat ihn virtuell beobachtet. Per Echtzeitüberwachung gehen Polizisten seit heute auf digitale Patrouille, über neu installierte Geräte, aber auch über bestehende Überwachungsanlagen und Kameras von Dritten. Man wolle das Verbot von Menschenansammlungen kontrollieren: «Mit den beschränkt zur Verfügung stehenden polizeilichen Kräften ist eine angemessene Kontrolle nicht umzusetzen», sagt der Aargauer Regierungsrat in einer Mitteilung. Die neuen Kameras dürfen vorerst ohne Bewilligung der Datenschutzbeauftragten montiert werden. Tafeln werden auf den «grossen Bruder» hinweisen.
Zürich bezahlt Krippenplätze: Die Stadt Zürich übernimmt rückwirkend ab Mitte März die Kosten für die Kinderbetreuung. Rund 350 Krippen und 90 Tagesfamilien erhalten vorerst bis Ende April genügend Geld, um die laufenden Kosten zu decken. So macht Zürich Druck auf Bund und Kanton: Die Finanzierung erfolge «unter der Annahme, dass auch der Bund und der Kanton Zürich Unterstützungsmassnahmen für die betroffenen Betreuungseinrichtungen für Kinder im Vorschulalter erarbeiten», so das Sozialdepartement. Geschenkt werde nichts: Die Stadt spricht explizit von einer «Vorfinanzierung», die man bei Bund und Kanton «zurückfordert».
Quarantäne für Geflüchtete: Das Coronavirus ist auch in einem griechischen Flüchtlingslager angekommen: Im Norden von Athen wurde Anfang Woche eine Frau positiv getestet. Mittlerweile sind mindestens 20 weitere Bewohner an Covid-19 erkrankt. Der griechische Coronavirus-Krisenstab hat die geschätzt 2500 Personen im betroffenen Flüchtlingslager für 14 Tage unter Quarantäne gestellt.
Bund prüft neues Testregime: Wer in Zürich stationär in ein Spital eintritt, soll auch ohne Symptome auf Covid-19 getestet werden. Dies empfiehlt neu das Gesundheitsdepartement des Kantons. Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) begrüsst die Empfehlung. Er sieht das als Pilotversuch, um weitere Ansteckungen im regulären Spitalbetrieb zu verhindern. «Wir sind daran, die Testempfehlungen zu überarbeiten», so Koch.
Die besten Tipps und interessantesten Artikel
Ärzte und Pflegepersonal bereiten ihre Intensivstationen auf wachsende Patientenzahlen vor. Nebst Betten, Beatmungsgeräten und Personal würde helfen: Medikamente.
Medikamente gegen Covid-19 sind noch keine auf dem Markt, zurzeit kann man lediglich die Symptome behandeln, welche die Krankheit hervorruft – und auch hier werden die Medikamente knapp.
Wie ein Covid-19-Medikament funktionieren müsste, welche Stoffe schon getestet werden und wie lange wir noch warten müssen, bis unsere Ärztinnen sie verschreiben können, lesen Sie in diesem Artikel des niederländischen Magazins «The Correspondent». Wir haben ihn eingekauft und auf Deutsch übersetzt.
Gäbe es zudem einen Impfstoff (und genügend davon), so könnte man die Verbreitung von Sars-CoV-2 bremsen. In dieser Folge von «The Daily», dem täglichen Podcast der «New York Times», spricht eine Forscherin über ihre Arbeit an einem Impfstoff. Sie und ihr Team legen einen nie da gewesenen Sprint hin: Dauert die Entwicklung eines Impfstoffs in der Regel 10, manchmal auch 15 Jahre, so wollen sie ihn diesmal in einem Jahr bereit haben.
Das Schöne an dieser Geschichte: Wissenschaftlerinnen auf der ganzen Welt arbeiten zusammen, tauschen Daten und Resultate aus.
Das Hässliche daran: Regierungen versuchen die Forschungsgruppen, die am meisten Erfolg versprechen, an sich zu reissen. Denn wenn erst einmal ein Impfstoff bereitsteht, so wird es anfangs nicht genug davon für alle geben. Manche Wissenschaftler plädieren dafür, Impfstoffe weltweit prioritär an Personen aus Risikogruppen zu verteilen. Manche Regierungen sehen das etwas anders.
Frage aus der Community: Sie, wir, morgen an dieser Stelle
Wir hatten eine. Versprochen! Aber dann ist die heutige gute Nachricht ziemlich lang geworden. Und weil wir uns fest vorgenommen haben, diesen Newsletter nicht allzu fest wuchern zu lassen, machen wir an dieser Stelle den Schni–
Zum Schluss eine gute Nachricht: Die Dunkelziffer wird heller
Wie viele Menschen in der Schweiz haben Covid-19? Das Bundesamt für Gesundheit gibt dazu täglich einen Situationsbericht heraus. Und in der Ausgabe von gestern hat das BAG einen neuen Abschnitt hinzugefügt: Es veröffentlichte die Zahlen des Meldesystems der Hausärzte, genannt Sentinella. Diese Stichprobe von Arztpraxen dient als Grundlage, um schweizweit die Zahl der Konsultationen für bestimmte Krankheiten hochzurechnen.
Und diese Zahlen zeigen: In den vergangenen vier Wochen könnten rund 97’000 Verdachtsfälle auf Covid-19 bei Hausärzten eingegangen sein.
Zusätzlich zu den Konsultationen in Praxen oder bei Hausbesuchen meldeten die Ärztinnen zahlreiche telefonische Konsultationen wegen Covid-19. (Wir haben das BAG auch nach diesen Zahlen gefragt. Aber die Behörde konnte keine Hochrechnung ermitteln, weil diese Erhebungsart – die telefonische Konsultation – erst neu bei Sentinella integriert ist.)
Warum sind diese Zahlen relevant?
Diese Schätzungen werden nicht standardmässig vom BAG erfasst, sie entgehen also in der Regel dem obligatorischen Meldesystem. Und sie erfassen Personen, die Symptome der Krankheit Covid-19 aufweisen, jedoch nicht in die Risikogruppen fallen und sich deshalb nicht testen lassen konnten. (Weil viele Hausärzte und Praxen nicht die Voraussetzungen für Tests mitbringen.)
Sie gehören also zur Dunkelziffer an Covid-19-Fällen, die nicht getestet wurden.
Mit dem Sentinella-System überwachen Gesundheitsbehörden in ganz Europa seit Jahren übertragbare Krankheiten. Bis vor kurzem hat das BAG anhand der Sentinella-Daten wöchentlich einen Grippebericht publiziert. Doch nun liess das BAG auch einige der Sentinella-Patienten auf Covid-19 testen. Resultat: 2 von 7 getesteten Patienten in der Stichprobe vom 21. bis 27. März waren tatsächlich infiziert. Die Dunkelziffer wird mit diesen Werten also etwas heller. Und das BAG erfasst künftig die Sentinella-Daten zu Verdachtsfällen bei Covid-19 separat.
Diese 97’000 Verdachtsfälle sind beschränkt aussagekräftig, wie das BAG in einer Fussnote anmerkt. Denn es handelt sich um eine Hochrechnung. Nur rund 160 Ärzte arbeiten mit dem Sentinella-Meldesystem, das BAG sucht deswegen weitere freiwillige Arztpraxen.
Aber die Hochrechnungen decken sich mit den Entwicklungen in anderen europäischen Ländern. Und wenn sie sich ungefähr bewahrheiten würden, dann wäre das eine ausgezeichnete Nachricht. Das würde nämlich auch bedeuten, dass sich schon ganz viele Menschen infiziert haben, ohne allzu heftig krank zu werden.
Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.
Bis morgen
Ronja Beck, Adrienne Fichter, Oliver Fuchs, Marie-José Kolly und Cinzia Venafro
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.
PPPS: Ein wichtiges Instrument gegen die Pandemie ist das sogenannte contact tracing. Dabei versucht man möglichst alle Menschen nachzuvollziehen, mit denen eine erkrankte Person zuvor Kontakt hatte. In Europa diskutiert man im Moment gerade, ob eine App dabei helfen könnte. Kuba geht die Sache analoger an: mit 30’000 Medizinstudenten, die jeden Tag von Haus zu Haus gehen.
PPPPS: Wir sind alle gleich – und manche sind gleicher als andere. Reiche können sich auch zu Corona-Zeiten vom Rest absetzen und in Luxus-Quarantäne begeben: Ein Zuger Anbieter von Luxusunterkünften hat eine Marktlücke entdeckt und bietet neu einen «Covid-19 Service» an. Coronatest-Roomservice für 500 Dollar, Rund-um-die-Uhr-Versorgung inklusive Quarantänekoch für 4800 Dollar. Pro Tag. Plus grosszügiges Trinkgeld, damit auch ja kein Kellner in die Suppe spuckt.