Wann kommt das Gegenmittel?

Noch gibt es keinen Impfstoff für Covid-19. Aber es gibt auch eine andere Möglichkeit, die Pandemie zu mildern: Medikamente. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Von Ruben Mersch (Text) und Olf de Bruin (Illustration), 02.04.2020

Hände waschen, social distancing, irgendwann ein Impfstoff: Neben diesen drei Möglichkeiten, die Corona­virus-Pandemie zu mildern, gibt es noch eine vierte: Medikamente.

Ein Medikament zur Behandlung von Covid-19 wird die Zahl der Ansteckungen nicht verringern. Es könnte aber bewirken, dass weniger Menschen, die sich mit dem Virus infizieren, stark erkranken oder gar sterben. Der potenzielle Markt für eine Covid-19-Behandlung ist gigantisch. Deshalb arbeiten verschiedene Pharma­unternehmen hart daran, als erstes ein Medikament auf den Markt zu bringen.

Wie müsste ein solches Medikament funktionieren? Welche Medikamente sind bereits in der Pipeline? Wie lange wird es dauern, bis wir die ersten Patienten behandeln können?

Und was ist, wenn ein wirksames Medikament entdeckt wird, aber die Firma, die das Patent daran hält, exorbitant hohe Preise dafür verlangt?

1. Welche Arten von Medikamenten könnten helfen?

Vereinfacht gesagt besteht ein Virus aus einer Hülle und genetischem Material. Auf Grund­lage dieser Gene produziert das Virus Proteine, von denen jedes eine spezifische Funktion hat.

Einige Proteine bilden die Hülle auf der Aussen­seite des Virus. Andere helfen dem Virus, in eine Zelle einzudringen. Wieder andere Proteine senden Anweisungen an die infizierte Zelle, sodass diese beginnt, das vom Virus injizierte genetische Material zu vervielfältigen.

Wenn es gelingt, eines dieser Proteine zu blockieren, funktioniert das Virus nicht mehr richtig, und seine Ausbreitung im Körper wird gehemmt.

Die erste Strategie, die zur Entwicklung eines Medikaments zur Behandlung von Covid-19 verfolgt wird, besteht also darin, zu erforschen, welche Proteine dieses Virus braucht, um zu funktionieren. Und dann ein Molekül zu finden, das diese Proteine blockieren kann. Allerdings ist das erst der Anfang, denn Viren mutieren. Ihre Gene – und damit auch ihre Proteine – verändern sich ständig. Im Idealfall findet man ein Molekül, das die Funktion des Proteins auch nach einer Mutation stoppen kann.

Neben der Suche nach Protein­blockern arbeiten Forscherinnen an einer weiteren Strategie. Wenn der Körper von einem Virus infiziert wird, erzeugt er Moleküle, die wie Warn­aufkleber wirken: Antikörper. Er «klebt» diese auf infizierte Zellen, damit das Immun­system «weiss», welche Zellen es angreifen soll. Künstlich hergestellte Antikörper können das Immun­system im Kampf gegen das Virus unterstützen.

2. Welche Medikamente sind bereits in der Pipeline?

Mindestens neun Pharmaunternehmen arbeiten derzeit an einem Wirkstoff, der das Sars-CoV-2-Virus hemmen kann. Der vielversprechendste Kandidat ist Remdesivir, ein Nukleosid-Analog, das es schon seit einiger Zeit gibt. Die Substanz wurde an der Universität von Alabama entdeckt und als mögliche Behandlung für zwei andere Corona­viren entwickelt: Sars und Mers.

Das Pharma­unternehmen Gilead Sciences erwarb das Patent für den Wirkstoff in der Hoffnung, dass er bei der Behandlung eines anderen tödlichen Virus wirksam sein würde: des Ebola-Virus. Da Remdesivir bei der Verringerung der Ebola-Mortalität jedoch weniger wirksam war als andere Behandlungen, wurde die Entwicklung des Wirkstoffs auf Eis gelegt.

Das änderte sich vor einigen Monaten, als man entdeckte, dass Remdesivir höchst­wahrscheinlich die Vermehrung des Sars-CoV-2-Virus hemmen würde.

Der Wirkstoff wurde bereits am Menschen getestet, sodass bekannt ist, dass er ungefährlich ist und der Körper ihn absorbiert. Jetzt muss nur noch getestet werden, ob Remdesivir tatsächlich bei Patienten wirkt, die mit dem Sars-CoV-2-Virus infiziert sind. Gilead Sciences versucht dies derzeit in mehreren gross angelegten Studien in China und den USA festzustellen. Die ersten Ergebnisse werden für Ende April erwartet.

Auch andere Pharma­unternehmen hoffen, dass einer ihrer patentierten Wirkstoffe gegen das neue Virus wirksam sein wird.

Die Pharmafirma Abbvie testet eine Kombination aus den zwei HIV-Hemmern Ritonavir und Lopinavir. Roche setzt auf Oseltamivir, ihren antiviralen Arznei­stoff zur Behandlung der saisonalen Grippe. Und das China National Center for Biotechnology Development untersucht, ob ein altes Anti-Malaria-Medikament, Chloroquin, zur Behandlung von Sars-CoV-2 geeignet ist.

Neben Forschungen mit bekannten Wirk­stoffen suchen Pharma­unternehmen aber auch nach völlig neuen Protease- und Polymerase-Hemmern, die die Ausbreitung des neuartigen Corona­virus im Körper verlangsamen könnten. Andere Firmen setzen auf Antikörper. So haben unter anderem Regeneron Pharma­ceuticals und VIR Biotechnology bereits eine Reihe von Antikörpern isoliert, von denen sie hoffen, dass sie dem Immun­system bei der Bekämpfung des Virus helfen können.

Es bleibt abzuwarten, ob eines dieser Medikamente tatsächlich etwas bewirken wird. Remdesivir ist in der Entwicklung am weitesten fortgeschritten und scheint gemäss der Welt­gesundheits­organisation nach derzeitigem Kenntnis­stand das grösste Potenzial zu haben. Es ist schwer zu sagen, wie wahrscheinlich es ist, dass Remdesivir seinem derzeitigen Potenzial gerecht wird. Im Durch­schnitt schliessen 62 Prozent der Arznei­stoffe die klinischen Studien der Phase 3 erfolgreich ab – jener Phase, in der das Medikament auf seine Wirksamkeit bei Patienten getestet wird.

3. Wann werden die ersten Patienten behandelt?

Das ist noch nicht klar. Im Schnitt dauert es fast sechs Jahre, bis ein neues antivirales Medikament entwickelt ist.

Der erste Schritt ist die Entdeckung eines Wirkstoffs mit Potenzial. Dieser wird dann im Labor einer umfangreichen Forschung unterzogen. Dann folgen Sicherheits­tests: Der Wirkstoff wird an gesunden Freiwilligen getestet, um sicher­zustellen, dass er vom Körper aufgenommen wird (Pharmako­kinetik) und keine unangenehmen oder gefährlichen Neben­wirkungen (Toxizität) verursacht. Schafft es der Wirkstoff durch erste Sicherheits­prüfungen, kann er an einer grossen Gruppe von Patienten getestet werden, damit man sieht, ob er die erwartete Wirkung auf die Krankheit hat (Wirksamkeit), ohne unannehmbare Neben­wirkungen zu verursachen.

Als Nächstes müssen alle Ergebnisse den Arzneimittel­behörden übergeben werden, die dann entscheiden, ob das Medikament auf den Markt gebracht werden kann. Remdesivir hat die ersten Schritte dieses Prozesses bereits durchlaufen. Wie erwähnt werden die ersten Ergebnisse aus der Forschung an infizierten Patienten voraussichtlich Ende April vorliegen.

Normalerweise dauert es über 300 Tage, bis die Arzneimittel­behörden diese Ergebnisse analysieren, aber die Europäische Arzneimittel-Agentur und die amerikanische Behörde für Lebens- und Arzneimittel haben angekündigt, dass sie alle Ressourcen zur Verfügung stellen werden, um die Zulassungs­verfahren für Medikamente zur Behandlung von Covid-19 zu beschleunigen.

4. Und wenn eine Pharma­firma Wucher­preise verlangt?

Vergangene Woche beschloss die US-Regierung, 8,3 Milliarden Dollar zur Bekämpfung des Corona­virus freizugeben. Ein Teil dieses Geldes wird an die Pharma­industrie gehen.

Aus diesem Grund haben einige demokratische Kongressabgeordnete gefordert, dass die Industrie Preis­beschränkungen unterworfen wird. Wenn ein Medikament oder ein Impfstoff auf den Markt kommt, der ganz oder teilweise mit staatlichen Mitteln entwickelt wurde, sollten Pharma­unternehmen also nicht die Möglichkeit haben, so viel Geld zu verlangen, wie sie wollen – vor allem dann nicht, wenn die öffentliche Gesundheit auf dem Spiel steht.

Ihre Forderung wurde zurückgewiesen.

Die letzte Fassung der Gesetz­gebung zu diesem Notfall­fonds verbietet es der US-Regierung ausdrücklich zu intervenieren, wenn die Preise der Pharma­unternehmen zu hoch sind. Man muss nicht unbedingt einen Aluhut tragen und hinter jeder Ecke Verschwörungen sehen, um zu vermuten, dass die mächtige Pharma­lobby in diesem Prozess eine Rolle gespielt haben dürfte.

Auch die Tatsache, dass der derzeitige Gesundheits­minister Alex Azar einst eine Top-Position beim Pharma­riesen Eli Lilly innehatte, dürfte hier eine Rolle gespielt haben.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Pharma­industrie während einer humanitären Krise kein leuchtendes Beispiel für Wohl­tätigkeit ist. In den späten 1990er-Jahren starben in Südafrika täglich Tausende von Menschen an Aids. Einige Aids-Hemmer waren bereits auf dem Markt, aber sie waren exorbitant teuer.

Als die südafrikanische Regierung beschloss, ihre Patent­gesetze zu ändern und den Import von Generika dieser Medikamente zu erlauben, lobbyierte die Pharma­industrie bei der US-Regierung. Die Folge: Die USA drohten Südafrika mit Wirtschafts­sanktionen. Verschiedene Unter­nehmen verklagten die südafrikanische Regierung darauf wegen Verletzung des internationalen Patent­rechts. Es bedurfte eines massiven öffentlichen Aufschreis, um die Pharma­unternehmen zum Rückzug zu bewegen und die Einfuhr von generischen Aids-Hemmern zu erlauben.

Gemäss Patentrecht in einzelnen Ländern können Patente auf lebensrettende Medikamente ausser Kraft gesetzt werden, wenn die öffentliche Gesundheit eines Landes ernsthaft bedroht ist. Die gegenwärtige Krise ist zweifellos eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Gesundheit für viele Länder.

Die Frage ist, wie die Pharma­industrie darauf reagieren wird. Wird sie vorüber­gehend eine Situation tolerieren, in der Länder ein Generikum und damit eine billigere Version eines Covid-19-Medikaments herstellen oder importieren? Oder wird sie sich – selbst in einer solchen Krise – ausschliesslich um ihre eigenen Gewinn­spannen kümmern?

5. Wird es möglich sein, Medikamente in ausreichender Menge herzustellen?

Selbst im Idealfall – wenn schnell ein wirksames Medikament entwickelt wird und die Firma, die das Patent für das Medikament besitzt, den Ländern die Herstellung eines Generikums erlaubt – bleibt ein Problem bestehen: eine genügend grosse Menge des Medikaments zu produzieren.

Angenommen, Italien gelingt es, in einigen Monaten eine neue Behandlung für Covid-19 zu finden. Wird Italien den sofortigen Export dieses Medikaments zulassen, oder wird es in erster Linie die eigene Bevölkerung behandeln wollen? Erst jüngst versuchte Donald Trump, die deutsche Firma Curevac, die an einem möglichen Impfstoff gegen das Sars-CoV-2-Virus arbeitet, davon zu überzeugen, den Standort in die USA zu verlegen. Sein Ziel: sicherstellen, dass die USA – und nur die USA – Zugang zu einem möglichen Impfstoff haben. Amerika zuerst?

Selbst in Krisen­zeiten gibt es mächtige Akteure, die Eigen­interessen über das Allgemein­wohl stellen. Die Pharma­industrie wird versuchen, das Beste aus der aktuellen Situation zu machen.

Jede Regierung ergreift derzeit zu Recht drastische Massnahmen, um die Pandemie einzudämmen. Aber es braucht auch andere Massnahmen: Wir müssen das internationale Patent­recht einer ernsthaften Prüfung unterziehen und den Medikamenten­preisen Grenzen setzen. Dies ist von entscheidender Bedeutung. Sobald ein Medikament zur Behandlung von Covid-19 entdeckt wird, müssen wir sicher sein, dass es zur Heilung kranker Menschen eingesetzt werden kann und nicht nur dazu dient, die Taschen eines Pharma­unternehmens (und seiner Aktionäre) zu füllen.

Dieser Beitrag erschien am 23. März 2020 unter dem Titel «When will there be a drug to treat Covid-19?» im nieder­ländischen Magazin «The Correspondent».