Kinder aus Lesbos? Die Schweiz sagt Nein. Spitäler melden Kurzarbeit an – und was es für ein digitales Parlament bräuchte
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (95).
Von Philipp Albrecht, Andrea Arežina, Elia Blülle, Adrienne Fichter, Bettina Hamilton-Irvine und Christof Moser, 02.04.2020
Während der Corona-Krise schlägt die Stunde der Exekutive. Regierungen berufen sich auf Notstandsregelungen und rufen den Ausnahmezustand aus, um ihre Regierungsapparate hochzufahren, während die Parlamente aufgrund der Versammlungsverbote nicht tagen. Die Legislative ist vielerorts ausser Kraft. So auch in der Schweiz, wo das Parlament Mitte März seine Session abgebrochen hat.
Doch eigentlich müsste die Stunde von Online-Parlamenten schlagen. Ein Blick auf die Website der Inter-Parliamentary Union zeigt: Zwar finden in einigen demokratischen Ländern Videokonferenzen statt. Doch die meisten Parlamente verfügen nicht über adäquate digitale Instrumente für die Stimmabgabe, sodass kaum Gesetzesprojekte im Netz verhandelt werden. Das gilt auch für die Schweiz, wo das Parlament deshalb ab dem 4. Mai zu einer Sondersession zusammenkommt – physisch auf dem Messegelände der Bernexpo.
Welche Voraussetzungen müssten erfüllt sein, damit ein Parlament online tagen könnte? Es bräuchte sicherlich eine IT-Infrastruktur, denn Hackerangriffe könnten den Betrieb stören und Stimmergebnisse verfälschen. Auch ist nicht jede Parlamentarierin technisch versiert genug, um sich aus einzelnen Applikationen wie Videokonferenzen und Abstimmungs-Apps selber eine nutzbare und sichere Gesamtlösung zu konfigurieren. Ohne Beratung und Unterstützung durch IT- und Security-Spezialisten wird es also nicht gehen. Abgeordnete müssen sich zudem sicher authentifizieren können und in Sachen digitaler Stimmabgabe geschult werden. Dadurch können sie selber überprüfen, ob ihre Stimme korrekt in die Datenbank übermittelt worden ist. Der Vorteil im Vergleich zum E-Voting ist jedoch, dass das Stimmgeheimnis bei Parlamentsdebatten nicht eingehalten werden muss, da die Abstimmungen meist transparent abgebildet werden.
Nun wird belohnt, wer sich bereits vor der Krise technologisch gut aufgestellt hat. Etwa das in Digitalfragen sehr experimentierfreudige Brasilien. Sowohl das nationale Parlament als auch der Stadtrat von São Paulo tagen derzeit online. Die nationale Verwaltung hat für Abgeordnetenkammer und Senat ein System eingerichtet, das aus einer App für die Stimmabgabe besteht, einer Plattform für die Steuerung und die Moderation durch die Ratspräsidentin sowie einer Videokonferenzsoftware. Dass der Prozess heute funktioniert, ist jahrelangen Pilotprojekten und Trial-and-Error-Versuchen zu verdanken.
Auch in Kanada denkt man über ein elektronisches Parlament nach. Wie der Digitalpionier Estland derzeit verfährt, ist unklar. Auf der Website des Parlaments steht lediglich, dass Sitzungen via elektronische Mittel bald abgehalten werden sollen. In der Schweiz will das «Team Human» der SP Schweiz eine Lösung im Schweizer Hackathon «Versus Virus» entwickeln.
Das EU-Parlament hingegen taugt nicht als Vorbild: Hier wird verlangt, dass die EU-Abgeordneten via unverschlüsselte E-Mail über Massnahmen zu Covid-19 abstimmen. Abstimmungszettel werden zuvor ausgedruckt, ausgefüllt, unterschrieben und eingescannt. Ein Paradies für Hacker.
Und damit zum Briefing aus Bern.
Pandemie-Krise: Der Medikamentenvorrat wird knapp
Worum es geht: Um alle Corona-Patientinnen zu behandeln, werden die Medikamentenvorräte der Spitäler wohl bald nicht mehr reichen. Für diesen Fall gibt es das Pflichtlager des Bundes, wo lebenswichtige Medikamente auf ihren Pandemie-Einsatz warten. Die Vorräte sollten eigentlich für drei Monate reichen. Weil die Pflichtlager jedoch nur bedingt funktionierten, könnte es während der Corona-Krise in diversen Spitälern trotzdem zu Engpässen kommen, sagt nun die oberste Spitalapothekerin.
Warum Sie das wissen müssen: Covid-19-Patienten, die beatmet werden müssen, brauchen starke Schmerzmittel oder auch Antibiotika. Dass diese nun knapp werden könnten, hat damit zu tun, dass bereits in der Vergangenheit die Reserven in den Pflichtlagern des Bundes angezapft und nicht wieder voll aufgefüllt wurden. Die Beschaffung von Nachschub ist schwierig: Die meisten Medikamente werden im asiatischen Raum produziert, wo sie jetzt selber benötigt werden.
Wie es weitergeht: Kommt es bei den Schmerzmitteln zu einem Engpass, werden die Ärztinnen entscheiden müssen, wer was bekommt. So weit hätte es nicht kommen müssen, sagt die Nationalrätin und Präsidentin der Gesundheitskommission Ruth Humbel: Im Pandemieplan gebe es klare Vorschriften. Jedoch zeige sich jetzt, dass sich niemand richtig daran gehalten habe: «Dieses Problem muss nach der Krise aufgearbeitet werden.»
Bundesrat: Auch gefährdete Personen sollen arbeiten
Worum es geht: Angestellte, die zur Corona-Risikogruppe zählen, sollen zu Hause bleiben. So wollte es der Bundesrat in seiner Verordnung zur Bekämpfung des Coronavirus. Doch dann hat er den Text angepasst: Nun soll beispielsweise auch gesundheitlich gefährdetes Personal an der Kasse arbeiten. Die Gewerkschaften wehren sich dagegen.
Warum Sie das wissen müssen: Eigentlich sollten sie geschützt werden: über 65-Jährige oder Menschen, die zum Beispiel unter Bluthochdruck, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden. Die bundesrätliche «Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus» vom 17. März verlangte demnach auch, dass diese Arbeitnehmerinnen von zu Hause aus arbeiten sollten. Wenn das nicht möglich sei, müsse man sie beurlauben und ihnen weiterhin Lohn bezahlen. Am 21. März hat der Bundesrat den Artikel erweitert. Nun sollen die Betroffenen weiter am Arbeitsort beschäftigt werden, solange der Arbeitgeber Massnahmen betreffend Hygiene und Abstand sicherstellt – Stichwort Plexiglasscheiben. Die Kehrtwende könnte damit zu tun haben, dass im Laufe der Krise in versorgungsrelevanten Branchen ein Personalmangel befürchtet wird. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund fordert vom Bundesrat, diesen «Fehler» rückgängig zu machen.
Wie es weitergeht: Der Bundesrat hat auf die Einwände der Gewerkschaften reagiert. Er will die offenen Fragen in den nächsten Tagen mit den Gewerkschaften und dem Arbeitgeberverband nochmals durchgehen, wie Justizministerin Karin Keller-Sutter am Mittwoch mitteilte.
Welle von Kurzarbeit: Sogar Spitäler sind betroffen
Worum es geht: Die Schweiz wird von einer Welle von Kurzarbeit überrollt: Anfang Woche hatten gemäss den aktuellsten Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft schon 75’000 Betriebe für 910’000 Arbeitnehmerinnen Kurzarbeit beantragt. Das entspricht 17,6 Prozent aller Erwerbstätigen in der Schweiz. Überraschend ist, dass sogar Spitäler Kurzarbeit angemeldet haben.
Warum Sie das wissen müssen: Die Massnahmen, um das Coronavirus in der Schweiz einzudämmen, haben vor allem das Ziel, einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern. Dass Spitäler nun trotzdem Kurzarbeit anmelden müssen, klingt daher absurd. Es hat aber damit zu tun, dass der Bundesrat per Verordnung alle «nicht dringend angezeigten medizinischen Untersuchungen, Behandlungen und Therapien» verboten hat, damit die Spitäler genügend freie Kapazität für Corona-Patientinnen haben. Weil deswegen nun viele Betten leer stehen und die Spitäler massive Umsatzeinbussen verzeichnen, haben bereits mehrere Kliniken Kurzarbeit eingeführt. Betroffen sind auch diverse Praxen, die einen Patientenrückgang von bis zu 75 Prozent verzeichnen, weil die Leute zu Hause bleiben.
Wie es weitergeht: Die Frage, ob die Spitäler genügend Betten für alle Corona-Patientinnen bieten können, ist nicht einfach zu beantworten. Der Berner Epidemiologe Christian Althaus geht jedoch gemäss neuesten Berechnungen davon aus, dass die notwendige Kapazität auf Intensivstationen in der ersten Aprilwoche ihren Höhepunkt erreichen und unter der kritischen Grenze von 1000 Betten bleiben könnte.
Gesundheitsberufe: Infizierte sollen weiterarbeiten
Worum es geht: Angesichts der steigenden Zahlen von Neuinfektionen droht den Spitälern der Personalnotstand. Deshalb haben sie neu die Möglichkeit, Pfleger oder Ärztinnen im Dienst zu belassen, die sich allenfalls mit dem Coronavirus infiziert haben. Wer nur milde Symptome hat, soll mit einer Maske weiterarbeiten, bis das Testresultat vorliegt. Und selbst positiv Getestete sollen nach 48 Stunden wieder an die Arbeit zurück, wenn sie kein Fieber haben und eine Maske tragen. Das hat das Nationale Zentrum für Infektionsprävention entschieden.
Warum Sie das wissen müssen: Bereits vor der Corona-Krise herrschte ein Pflegenotstand: Aktuell fehlen mehrere tausend Pflegefachfrauen, die Belastung lässt viele aus dem Job aussteigen, womit sich die Situation weiter zuspitzt. Um trotzdem handlungsfähig zu bleiben, können gewisse Kantone ehemaliges Pflegepersonal zum Wiedereinstieg verpflichten. Der Bundesrat hat zudem entschieden, dass sich die Spitäler während der Corona-Krise nicht mehr an die Ruhezeiten fürs Personal halten müssen. Dass nun auch kranke Pflegerinnen weiterarbeiten sollen, ist eine zusätzliche Belastung fürs Personal und nicht ohne Risiko für die Patientinnen.
Wie es weitergeht: Die Spitäler rechnen damit, dass die Patientenzahlen steil ansteigen werden. Gleichzeitig ist auch immer mehr Personal infiziert. In Italien arbeitet jede zehnte Infizierte in der Gesundheitsbranche, in Spanien jede achte.
Asylpolitik: Schweiz nimmt keine unbegleiteten Kinder auf
Worum es geht: Der Bund beteiligt sich nicht mehr an Sofortmassnahmen für minderjährige Flüchtlinge in griechischen Camps. Die Schweiz habe aus Griechenland Gesuche erhalten, Kinder einzufliegen. Die aktuelle Situation lasse das im Moment nicht zu, teilte eine Sprecherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements am Dienstag mit.
Warum Sie das wissen müssen: Das Staatssekretariat für Migration von Bundesrätin und Justizministerin Karin Keller-Sutter hatte sich bereit erklärt, einige minderjährige und unbegleitete Schutzbedürftige mit Bezug zur Schweiz aufzunehmen. Erste wenige Gesuche waren vor der Corona-Krise positiv beantwortet worden. Jetzt soll das nicht mehr möglich sein. Die Schweiz hatte früh und vor EU-Staaten wie Deutschland in der Pandemie-Krise das Asylrecht ausser Kraft gesetzt und die Grenzen für Flüchtende geschlossen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe sieht das als Verstoss gegen das Völkerrecht. Die harte Haltung bei den unbegleiteten Minderjährigen kontrastiert mit der Rückholaktion von Schweizer Touristen aus aller Welt unter dem Hashtag #flyinghome des Aussendepartements EDA. Immerhin: Inzwischen setzte der Bund wegen der Corona-Krise vorerst auch geplante Ausschaffungen in Dublin-Staaten aus. Das Staatssekretariat für Migration will ausserdem aufgrund der Coronakrise die Unterbringungskapazitäten verdoppeln, zusätzliche Gebäude zur Verfügung stellen und die Kantone bei der Verteilung der Asylsuchenden entlasten.
Wie es weitergeht: Die Bundesasylzentren in der Schweiz sind zur Hälfte leer. In Griechenland befinden sich laut Aussagen der Regierung derzeit etwa 100’000 Asylsuchende, 41’000 von ihnen unter teilweise unmöglichen Bedingungen auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos. Die griechische Regierung nutzt die Viruskrise dafür, weitere Restriktionen gegen Migranten und Flüchtende durchzusetzen. Ohne die Evakuierung der überfüllten Lager droht die humanitäre Katastrophe weiter zu eskalieren.
Die Schlaumeier der Woche
Ein wichtiges Instrument der Schweizer Klimapolitik sind die CO2-Grenzwerte für Neuwagen. Will ein Händler Autos in die Schweiz importieren, darf die bestellte Neuwagenflotte einen durchschnittlichen Grenzwert nicht überschreiten. Nun weiss der «Tages-Anzeiger», dass die Schweizer Autoimporteure im vergangenen Dezember einen Brief vom Bundesamt für Energie erhielten, in dem stand, man habe «vermehrt mutmasslich rechtsmissbräuchliche Aktivitäten» festgestellt. Die Importeure würden die Vorschriften mit immer ausgeklügelteren Tricks umgehen. Ein Beispiel: Bis 2020 galten die CO2-Grenzwerte noch nicht für leichte Nutzfahrzeuge – wie etwa einen Zügelwagen. Deshalb bauten einige Importeure die Rücksitze und Gurten von energieintensiven Personenwagen aus. Zack, fertig! Schon importierten die Händler eine als Nutzfahrzeug getarnte Dreckschleuder – und mussten keine Busse bezahlen. Damit sparten sie Sanktionen in Höhe von etwa 10’000 Franken pro Auto. Ein ziemlich dreckiger Trick.
Illustration: Till Lauer