Liebe Leserinnen und Leser
Wir starten mit zwei guten Nachrichten in die neue Woche.
Die erste: Die Pandemie hat sich in manchen Ländern ein wenig verlangsamt. Das heisst: Sie schritt weiter voran – aber etwas weniger rasant als noch vor einer Woche.
Trotzdem wächst die Zahl der Ansteckungen weiter. Bald werden über eine Million Menschen einen positiven Befund bekommen haben. Mehr Angesteckte, das bedeutet auch mehr Kranke, mehr Schwerkranke, mehr Patientinnen, die Intensivpflege benötigen, auf Intensivstationen, die mancherorts jetzt schon überlastet sind. Und wenn es an Betten, an Beatmungsgeräten, an Personal fehlt, dann stellt sich die grosse und unfassbar schwierige Frage: Wer darf leben, wenn nicht alle leben können? Und wer soll das entscheiden? Diesen Fragen ist die Ethikerin Nina Streeck für die Republik nachgegangen.
In Italien mussten Ärztinnen aus Kapazitätsgründen schon vor Wochen über Leben und Tod entscheiden. Heute stehen spanische und französische Ärzte vor denselben Fragen. In New York sind die Ressourcen knapp, sehr knapp – Ärzte stehen kurz vor der sogenannten Triage: Wen behandeln? Wen nicht? Und so müssen wir auch in der Schweiz darüber diskutieren, was wäre, wenn es so weit kommen würde.
Wie wahrscheinlich ist es? Wissenschaftler rechnen epidemiologische Modelle, um einzuschätzen, wann und wo Spitäler welche Ressourcen bereitstellen müssen, wenn sie können. Doch in diesen Modellen gibt es Dunkelziffern, Annahmen, Wahrscheinlichkeiten – Ungewissheiten.
Welche?
Das möchten wir Ihnen zeigen. Die Republik hat ein vereinfachtes Modell für die Schweizer Epidemie gerechnet. Nicht um Prognosen zu publizieren (wir sind keine Epidemiologen!). Sondern um Sie Schritt für Schritt erleben zu lassen, welche Überlegungen, welche Zahlen und welche Mechanismen ineinandergreifen bei der Frage: Reicht der Platz auf unseren Intensivstationen?
Das führt uns zur zweiten guten Nachricht: Die neuesten Resultate aus der Epidemiologie dürfen uns in der Schweiz hoffnungsvoll stimmen. Sie finden Sie entweder im erwähnten Republik-Artikel. Oder kompakt am Schluss dieses Newsletters.
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
Die neuesten Fallzahlen: Gemäss Daten, die das Statistische Amt des Kantons Zürich aus den Daten der einzelnen Kantone zusammenstellt, zählt die Schweiz heute mindestens 15’674 infizierte Personen. Am Freitag waren es noch 12’934. Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind aktuell etwas mehr als 280 Patienten auf Beatmungsgeräte angewiesen. Es gäbe noch «sehr viele [Geräte] mehr», als momentan gebraucht würden.
Schweizer Wirtschaftshilfe wird rege genutzt: Schweizer Banken haben bereits 32’000 Überbrückungskredite in Höhe von 6,6 Milliarden Franken an kriselnde Unternehmen vergeben. Um ihre Liquidität zu sichern, können Schweizer Firmen seit Donnerstag bis zu einer halben Million Franken bei der Bank ihres Vertrauens ausleihen. Der Bund deckt die Kredite. Wegen der grossen Nachfrage prüft er nun, ob er den Topf von 20 Milliarden Franken aufstocken will.
Maskenpflicht in Österreich: Ab Mittwoch darf in Österreich nur noch einkaufen gehen, wer eine Schutzmaske trägt. Das hat Bundeskanzler Sebastian Kurz heute Vormittag verkündet. Er will die Schutzmasken über grosse Supermarktketten verteilen lassen, sobald sie in ausreichender Zahl vorhanden sind. Auf das Vorgehen der Österreicher angesprochen, sagte Daniel Koch vom BAG, dass eine solche Massnahme für die Schweiz nicht vorgesehen sei.
Machtergreifung in Ungarn: Das ungarische Parlament hat heute ein umstrittenes Notstandsgesetz verabschiedet. Ministerpräsident Viktor Orbán kann neu eigenhändig per Verordnung regieren – ohne Kontrolle durch das Parlament. Besonders problematisch: Das Gesetz hat kein Ablaufdatum. Der Europarat und die Uno haben es bereits vor dem Votum durch das Parlament stark kritisiert. Sie sehen die Demokratie und die Menschenrechte durch Orbáns neue Vollmacht in Gefahr.
Ölpreis fällt auf Rekordtief: Die Ölnachfrage ist mit der Pandemie eingebrochen. Der gleichzeitige Preiskampf zwischen den Ölnationen Saudiarabien und Russland liess die Preise noch tiefer fallen. Heute konnte man ein Ölfass der (für Europa wichtigsten) Sorte Brent zeitweise für 22,58 US-Dollar kaufen; Mitte Februar kostete es noch fast 60 Dollar. So tief ist der Kurs seit 2002 nicht mehr gesunken.
Die besten Tipps und interessantesten Artikel
Die Corona-Pandemie ist nicht nur eine gesundheitliche Krise, sondern je länger, je mehr auch eine gewaltige Herausforderung für die Wirtschaft. Deshalb haben alle Wirtschaftsprofessorinnen der Universität Zürich ein gemeinsames Positionspapier verfasst. Sie wollen darin aufzeigen, wie die Schweizer Volkswirtschaft die Krise unbeschadet überstehen kann. Das sind ihre wichtigsten Vorschläge:
Testen, testen, testen … die wichtigste Massnahme aus ökonomischer Sicht. Mit möglichst vielen Tests kann man infizierte Personen erkennen sowie ihre Kontakte nachverfolgen und isolieren. Die Kosten dafür seien im Vergleich zu den gewaltigen Kosten des Lockdown gering.
Grosse Investitionen ins Gesundheitssystem. Dadurch könnten mehr Patientinnen besser und schneller behandelt werden.
Die Volkswirtschaft einfrieren. Der Staat muss Arbeitsplätze schützen und die Lohneinkommen absichern. Solche Massnahmen garantieren, dass die Wirtschaft nach dem Lockdown schnell Fahrt aufnimmt, die Menschen rasch wieder konsumieren und Geld ausgeben.
Was sich daneben auch zu lesen und zu browsen lohnt:
Das Corona-Journal von Carolin Emcke. Die deutsche Philosophin und Autorin führt in der «Süddeutschen» ein Tagebuch mit politisch-persönlichen Notizen zur Krise. Sie sucht darin Antworten auf die Fragen der Stunde: «Wo ist Europa? Fällt uns im ersten Moment wirklich nichts Besseres ein als ‹Jeder Staat für sich allein›?»
Eine Reportage aus der «New York Times» darüber, wie in Europa viele reiche Städter in ihre Zweitwohnungen flüchten – und so das Virus in ländliche Gebiete mit einer spärlichen Gesundheitsversorgung schleppen.
Ein Blick auf die vergessenen Themen. Der Hessische Rundfunk setzt sich in einem Podcast mit Themen auseinander, die im Pandemie-Chaos unterzugehen drohen: Welches sind die neuesten Nachrichten aus dem US-Wahlkampf – und was passiert eigentlich in Syrien?
Frage aus der Community: Kann ich mich über den Atem einer kranken Person anstecken?
Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie mal den Weg einer schwerer atmenden Joggerin kreuzen. Das Risiko, sich so anzustecken, ist minim. Das sagt zumindest die Weltgesundheitsorganisation (WHO), gestützt auf bisherige wissenschaftliche Erkenntnisse. Bei einer Analyse von mehr als 75’000 Covid-19-Fällen in China liess sich keine Übertragung über sogenannte Aerosole nachweisen. Das sind Minipartikel, die über eine längere Zeit als Tröpfchen und über weitere Strecken durch die Luft schweben können. Eine Untersuchung von amerikanischen Forschern zeigte zwar, dass dies im Prinzip möglich ist. Das klinische Setting ihres Experiments lässt sich jedoch nicht auf unsere Lebenswelt übertragen, wie die WHO festhält.
Wie immer an dieser Stelle gilt: Wir wissen noch kaum etwas über dieses Coronavirus mit absoluter Sicherheit. Seien Sie also vorsichtig und halten Sie in der Öffentlichkeit mindestens zwei Meter Abstand zu Ihren Mitmenschen. Menschen im medizinischen Bereich rät die WHO zu besonderen Schutzmassnahmen. Besonders solchen, die Erkrankte beispielsweise intubieren oder eine Lungenspiegelung durchführen. In diesen spezifischen Fällen könnte, wie die Gesundheitsorganisation festhält, eine Übertragung über Aerosole möglich sein.
Zum Schluss eine hoffnungsvolle Nachricht für die Schweiz: Unsere Spitäler könnten es schaffen
Nicht nur Ärztinnen und Pfleger, auch Epidemiologinnen arbeiteten am Wochenende. Christian Althaus von der Universität Bern hat uns am Sonntagabend die brandneuen (aber noch vorläufigen) Ergebnisse seiner Berechnungen zugeschickt. Erfreuliche Ergebnisse: Die aktuellen Massnahmen in der Schweiz wirken, und sie konnten die Verbreitung des Virus um etwa 74 Prozent verringern.
Althaus’ Forschung legt nahe, dass damit der notwendige Bedarf auf Intensivstationen bei unter 1000 Betten bleiben könnte. Und hier möchten wir gleich eine weitere erfreuliche Nachricht anfügen: Mittlerweile wären schweizweit sogar 1200 Plätze auf Intensivstationen verfügbar, wie das Bundesamt für Gesundheit der Republik am vergangenen Freitag mitteilte.
Für den Moment sieht es danach aus, als würde die Schweiz knapp an einer grösseren Katastrophe vorbeischlittern. Wir müssen aber drei einschränkende Bemerkungen hinterherschicken:
Prognosen haftet immer Unsicherheit an.
Es ist eine Berechnung von einem Epidemiologen.
Lockern wir den «Lockdown light», kann es zu weiteren grossen Ansteckungswellen kommen.
Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.
Bis morgen
Ronja Beck, Oliver Fuchs, Marie-José Kolly und Elia Blülle
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.
PPPS: Walmart ist das weltweit umsatzstärkste Unternehmen und in den USA vor allem bekannt für riesige Einkaufszentren. Nun hat der Vize-Konzernchef in den Verkaufszahlen einen neuen Trend entdeckt. Seit die Menschen im Homeoffice arbeiten und mit ihren Kollegen über Videokonferenzen kommunizieren, hat sich die Nachfrage im Modesegment stark verändert: Walmart verkauft im Moment viel mehr Oberteile als Hosen.
PPPPS: Die Südtiroler Band Frei.Wild, die sich in der Vergangenheit gerne in die äussere rechte Ecke gesungen hat, hatte eine ganz lustige Idee: Während die Covid-19-Fallzahlen weltweit in die Höhe schnellten, veröffentlichten sie Anfang März einen Song über «die Corona-Panikmache». Dumm nur, dass kurz darauf ihr Tontechniker an Covid-19 erkrankte. Und sich die Bandmitglieder mit kratzenden Hälsen in Quarantäne begeben mussten. Den Songtext haben sie dann schnell, schnell angepasst. Und so heisst es neu: «Verdammt, wir lagen so falsch.»