Serie «Demokratie-Check» – Teil 7

Ohne Kultur keine Demokratie

Die Kunstfreiheit war lange nicht mehr so bedroht wie heute. Die Attacken der Autoritären zeigen umso deutlicher: Kunst und Kultur sind kein «Nice-to-have», sondern eine Grund­bedingung der Demokratie. Wenn ihre Rolle nicht verklärt wird. Demokratie-Check, Teil 7.

Von Daniel Graf, 13.03.2020

Es gibt zwei entgegen­gesetzte, aber gleicher­massen irrtümliche Vorstellungen über die gesellschaftliche Rolle von Kultur. Der ersten zufolge kommt sie dann ins Spiel, wenn die wirklich wichtigen Dinge getan sind: ein angenehmer Luxus, nice to have, aber im Grunde entbehrlich. Nach der zweiten ist Kultur per se die Bastion des Guten, Wahren, Schönen, eine Schule der Tugend, die die Menschen längst schon zielsicher zur moralischen Reife geführt hätte, würden sie nicht ständig schwänzen.

Für die Ersteren also ist Kultur eine Art Zitate-Lieferant für Sonntags­reden. Letztere halten gleich selber eine.

Und die Künste selbst? Was erzählen sie uns über die Wirkung und die Funktion von Kultur?

In einem der heraus­ragenden Filme der letzten Zeit, Céline Sciammas «Portrait de la jeune fille en feu», gibt es eine Szene, die die Kraft der Literatur emphatischer einfängt als der flammendste Lese-Appell. Da sitzt die Porträt­malerin Marianne neben Sophie, der letzten verbliebenen Dienerin in diesem fast menschen­leeren Schloss, Héloïse liest aus Ovids «Meta­morphosen» vor, und die Hitze auf den Gesichtern der drei Frauen kommt nicht allein vom Kaminfeuer.

Serie «Demokratie-Check»

Alle reden von der Krise der Demokratie – wir auch. Und wir wollen wissen: Was ist es, was die Demokratie im Innersten zusammen­hält? Von welchen Kräften gehen aktuell die grössten Bedrohungen aus? Wie und wodurch erweist sich die Demokratie als widerstands­fähig? Zur Übersicht.

Teil 2

Der Mehrheit die Stirn bieten

Teil 3

Die Schweiz als Avantgarde des Populismus

Teil 4

Wie ist die Demokratie noch zu retten?

Teil 5

Die Di­gi­ta­li­sie­rung ist politisch

Teil 6

Wie gefährlich ist der Neo­liberalismus?

Sie lesen: Teil 7

Ohne Kultur keine Demokratie

Teil 8

Wie stabil sind De­mo­kra­ti­en?

Teil 9

«Die Demokratie wird krank bei zu viel Un­gleich­heit»

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«Il est convaincant», «er ist sehr überzeugend», sagt Sophie erleichtert, als Orpheus den Tod von Eurydike mit einer Klage besingt, die selbst die Rache­göttinnen zu Tränen rührt. Und tatsächlich, entgegen allen Gesetz­mässigkeiten darf Orpheus seine Geliebte aus dem Toten­reich zurück ins Leben führen, allerdings unter einer Bedingung: Wenn er sich unterwegs nach ihr umsieht, muss sie für immer in der Unter­welt bleiben. Und dann, kurz vor dem Ziel, noch immer ist die Kamera auf Sophies Gesicht gerichtet: «Mais c’est horrible!» Warum? Warum dreht er sich im letzten Moment um ohne Grund?

Ein Moment für die Kraft der Literatur: Héloïse (Adèle Haenel) … Lilien Films
... Marianne (Noémie Merlant) ... Lilien Films
… und Sophie (Luàna Bajrami) im Film «Portrait de la jeune fille en feu». Lilien Films

Es gibt Gründe, entgegnet Marianne, die Künstlerin, die das Buch überhaupt erst auf diesen abgelegenen Landsitz in der Bretagne gebracht hat. Und Héloïse glaubt ihr beizupflichten: Die Ungeduld habe den Liebenden überwältigt. Marianne aber erhebt Einspruch: «Es war nicht die Entscheidung des Liebenden, sondern des Dichters.» Orpheus, soll das heissen, hat Eurydike bewusst geopfert, für die Kunst. Um für immer ihren Tod und seinen Schmerz besingen zu können.

Schon das gibt der Erzählung von Orpheus und Eurydike nach über 2000-jähriger Über­lieferung einen ungewöhnlichen Akzent. Doch nun entgegnet Héloïse ihrerseits und gibt der Geschichte eine weitere, für Sciammas Film selbst noch wichtigere Wendung: Vielleicht habe ja sie, Eurydike, ihm gesagt: Dreh dich um.

Tableaux vivants

Man kann diese kurze Szene als Sinnbild lesen. «Portrait de la jeune fille en feu» entwirft auch ein Porträt der Kunst, und in der Leseszene am Tisch zeichnen Céline Sciamma und ihre Kamera­frau Claire Mathon dessen wichtigste Konturen.

Kunst, so könnte man Sciamma hier übersetzen,

  • ist offen: Kaum eine Erzählung hat über alle Kunst­sparten hinweg mehr Bearbeitungen, kaum ein Text mehr Deutungen erfahren als der Mythos von Orpheus und Eurydike. Aber Sciamma beziehungs­weise ihre Figuren lesen ihn mit grosser Plausibilität noch einmal neu.

  • Kunst ist intensiv: Was die drei Frauen lesen und hören, geht sie direkt an, äussert sich als emotionale Beteiligung. Und überträgt sich, eine Ebene weiter, auf den Zuschauer: als ästhetische Erfahrung, in der sinnliches Erleben und Reflexion zusammenwirken.

  • Kunst ist kollektiv: Indem sie menschliche Grund­fragen verhandelt, schafft sie einen gemeinsamen, über­individuellen Bezugs­rahmen. Ästhetische Erfahrung setzt bei unserer subjektiven Wahrnehmung an und weitet sie ins Soziale.

Man kann Kultur, in den Worten des Ökonomen und Kultur­theoretikers Felwine Sarr, verstehen als «die Gesamt­heit jener geistigen Werke, deren Herstellung Kreativität voraussetzt». Was wir im engeren Sinne Kunst nennen, ist ein Teil davon. Kultur ist aber immer mehr als eine Summe von Werken, denn sie schliesst deren Rezeption mit ein. Als «Suche nach Zwecken, nach Zielen und Gründen, überhaupt zu leben» (Sarr) ist sie weniger eine «Tatsache» als vielmehr ein «Verfahren» – eine vielstimmige soziale Praxis. Und zwar auch dann, wenn wir allein im Kino oder im Theater sitzen. Weil wir uns dann immer schon zu den Erfahrungen anderer in Beziehung setzen.

Solidarité(s)

Das führt auf einen der wichtigsten Punkte, nicht nur bei Sciamma, sondern für die grundlegende demokratische Bedeutung der Kultur: ihr solidaritäts­stiftendes Potenzial.

«Portrait de la jeune fille en feu» spielt in der Stände­gesellschaft des 18. Jahr­hunderts. Marianne, die Künstlerin, ist aufs Schloss beordert worden, um Héloïse zu porträtieren – weil der Mailänder Adlige, dem Héloïses Mutter ihre Tochter zwangs­verheiraten will, mit dem Bild schon einmal einen Vorgeschmack bekommen soll. Die Leseszene um den Eurydike-Mythos ist also auch ein Gegen­entwurf zum instrumentellen Kunst­gebrauch der Feudal­gesellschaft. Und indem sie die Adlige, die Kunst­schaffende und die Dienerin bei der gemeinsamen Lektüre und Deutungs­arbeit zeigt, setzt Sciamma die Über­windung sozialer Grenzen durch geteilte ästhetische Erfahrung ins Bild.

Die Pointe aber ist: Mit der Leseszene der drei Frauen hat der Film längst auch für uns als Zuschauerinnen eine inklusive, antielitäre Kunst­erfahrung geschaffen. Weil Sciamma die unter­schiedlichsten Zugänge ermöglicht.

Man kann all die film-, literatur- und kunst­historischen Anspielungen aufschlüsseln oder nicht; wir können den Fäden, die hier für die Geschichte von Marianne und Héloïse ausgeworfen werden, nachgehen oder sie einfach übersehen und uns, wie Sophie, auf sehr direkte Weise affizieren lassen: Das, was zwischen den drei Frauen geschieht, begreifen wir so oder so. Und spüren, dass von diesem fiktiven Gespräch aus dem 18. Jahr­hundert eine Linie ins Heute und zu uns führt.

Die Kunst der Demokratie

In einem klugen, soeben erschienenen Buch hat sich der Hamburger Kultur­senator Carsten Brosda sehr grundsätzlich mit dem Zusammen­hang von Kultur und offener Gesellschaft beschäftigt. Es trägt den schönen Titel «Die Kunst der Demokratie» und hält der «Nice-to-have»-Vorstellung von Kunst Sätze wie diesen entgegen:

Kunst und Kultur kreisen um die Sinnfragen, um jene Dimension der Kohärenz, die eine Gesellschaft braucht, um nicht nur in funktionalistischen Mechanismen, sondern auch in normativ-pragmatischer Verständigung zu sich selbst zu finden.

Man merkt: Die Sprache des Buches hat einen etwas anderen Affektions­grad als die Bild­sprache von Sciamma.

Aber Brosda verweist auf Entscheidendes: Kultur bewirkt die «Schaffung und Überlieferung jener Wert­vorstellungen und Sinn­strukturen, die mithelfen, eine Gesellschaft zusammen­zuhalten». Kulturelle Praxis also ist die «gemeinschaft­liche Erzeugung gesellschaft­licher Werte und Normen». Und diese Erzeugung (nicht Verkündung!) erfolgt eben nicht als theoretisches Pflicht­programm, sondern nach dem Lustprinzip – weil kulturelle Werke in ihrer Präsenz und Ereignis­haftigkeit uns zunächst einmal sinnlich erfassen.

Darin liegt ihre Bedeutung für die demokratische Praxis: In der Verbindung von Reflexion und sinnlicher Erfahrung befördert Kultur die Selbst­verständigung einer Gesell­schaft und sorgt für deren fort­laufende Selbst­korrekturen. Zu ihren wichtigsten Mitteln gehören Kritik, Irritation, aber auch Inspiration – das Entwerfen und Wachhalten von gesellschaft­lichen Utopien und Möglichkeits­räumen. Auch und besonders in dieser trans­formativen Kraft liegt ihr Wert für die Demokratie. Indem Kunst das angeblich Selbst­verständliche aufbricht, stellt sie Normen und Werte auf den Prüfstand, Konventionen und Hierarchien infrage. Das betrifft auch die Künste selbst und ihre Geschichte.

Noch einmal das Beispiel «Portrait de la jeune fille en feu». Wenn Héloïse am Ende der Lese­szene den Blick auf Eurydike als Akteurin lenkt, erhebt sie damit Einspruch: gegen die männliche Helden­fixierung und gegen einen männer­dominierten Kanon, der die Geschichte der Künste bis in die Gegen­wart prägt. In einer im Jahr 1770 spielenden Szene zeigt der Film uns heute, welcher Wandel bereits stattgefunden hat, aber auch, wie viel noch immer zu tun ist. Und was im Film auf die Orpheus-Szene folgt, ist tatsächlich, wie im Mythos, Gesang – aber keine orphische Klage, sondern ein Frauen­chor als Schlüssel­szene solidarischen Empowerments; begleitet von den Blicken zwischen Marianne und Héloïse als Manifest einer alternativen Liebeskonzeption.

Irrtümer, Teil 2

Wenn Kultur also hilft, die «symbolischen und ideellen Ressourcen des Zusammen­lebens» bereitzustellen (Carsten Brosda), die eine Demokratie dringend braucht: Was ist dann schief an der Vorstellung von der Kultur als Hort des Guten?

Abgesehen von dem naheliegenden Einwand, dass es auch faschistische, totalitäre oder chauvinistische Kunst gibt: Es ist ja gerade der Witz kultureller Aushandlungs­prozesse, dass Vorstellungen des Guten und Wünschens­werten historischen Veränderungen unterliegen und grund­sätzlich umstritten sind. Wer also die Kunst mit dem Hinweis verteidigen will, sie schaffe das Gute, argumentiert erstens einseitig. Zweitens schiebt er der Kunst immer schon eine inhaltliche Definition des Guten unter und legt sie letzten Endes auf einen Zweck fest: die didaktische Verbreitung vorgefertigter Ideen. Das aber ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was Kunst als kritische und potenziell subversive Praxis ausmacht.

Mit Blick auf ihr Verhältnis zur Demokratie lohnt es sich, noch einmal an einige Schlüssel­sätze der Philosophin Juliane Rebentisch zu erinnern: Demokratie, schreibt Rebentisch in ihrem Buch «Die Kunst der Freiheit», ist diejenige Regierungs­form, die keine dogmatische und unveränderliche Definition des Guten vornimmt, sondern sich «für Neubestimmungen des Guten, für die Möglichkeit einer gerechteren Ordnung also, offen hält». Demokratie heisst also: die Möglichkeit, das Gute jeweils neu zu bestimmen, «selbst als ein Gutes anzuerkennen» – und «dieser Möglichkeit einen Vorrang vor jeder inhaltlichen Bestimmung des Guten einzuräumen».

Hierin liegt eine tiefere Gemeinsamkeit der Systeme Kunst und Demokratie: Sie lassen sich beide nicht inhaltlich definieren, sondern über ihr methodisches Prinzip. Für die Kunst heisst das: Sie ist keine Botschafts­verkünderin, sondern ein Ort, wo Ideen erst im kollektiven Gespräch erprobt und Werte daraufhin befragt werden, ob und wie weit sie Gültigkeit beanspruchen können.

Auch dann also, wenn mit hehren Absichten die Kunst für die Verteidigung der Demokratie in Stellung gebracht werden soll, tun wir gut daran, sie gegen jede vordefinierte inhaltliche Indienst­nahme zu verteidigen. Kunst hat zwar eine demokratie­relevante Wirkung. Aber daraus einen Auftrag und einen Effizienz­anspruch abzuleiten, würde die Voraussetzungen ihrer Wirkungs­fähigkeit gerade zunichte­machen. Carsten Brosda schreibt deshalb zu Recht:

Es ist ein seltsames Paradoxon: Wenn wir eine Kunst wollen, die utopisches Potenzial entfaltet, eine Orientierungs­funktion für den Einzelnen bietet und sinn­stiftend in unsere Gesellschaft hineinwirkt – dann müssen wir politisch, sozial und wirtschaftlich darauf verzichten, Kunst unter dem Paradigma der Nützlichkeit zu betrachten.

Überspitzt: Die Kunst kann die Demokratie am besten retten, wenn wir aufhören, darin ihre Daseins­berechtigung zu sehen.

Die Kunst und ihre Feinde

Man kann aktuell nicht über Kunst und Kultur reden, ohne auch von ihren Bedrohungen zu sprechen. Vor wenigen Tagen fand in Zürich eine internationale Konferenz namens «Art at Risk» statt – eine Formel von leider globaler Relevanz.

Die Zensur in autoritären Regimen wie China, Iran oder Russland ist eine so altbekannte wie virulente Einschränkung der Kunst­freiheit – nicht zuletzt auch dadurch, dass sie zu Selbst­zensur bei Kultur­schaffenden führt. Mit dem Aufstieg der Neuen Rechten sind Kunst­feindlichkeit und Repression nun weltweit auch in (vormals) demokratischen Staaten auf dem Vormarsch. Autokraten und identitäre Bewegungen schüren Hass und Ressentiments gegen Künstlerinnen und Intellektuelle, nationalistische und rechts­extreme Parteien arbeiten unverhohlen an einer ideologischen Instrumentalisierung der Kunst. Vielerorts hat das längst handfeste realpolitische Konsequenzen.

Zynisch könnte man sagen: Die Orbáns und Trumps haben die besondere Bedeutung der Kultur für ein Gemein­wesen besser verstanden als manch linksliberaler Kultur­verächter. Wem eine kritische und pluralistische Öffentlichkeit ein Dorn im Auge ist, bekämpft diejenigen, die sie befördern.

Die PiS-Regierung in Polen hat die Kultur­förderung auf national­patriotische Projekte ausgerichtet und den Kultur­sektor mit einer Entlassungs­welle auf Partei­linie gebracht. Beobachter sprechen längst von Gleichschaltung.

Ungarn hat ein neues Gesetz zur «strategischen Lenkung der kulturellen Sektoren durch die Regierung» verabschiedet – der ursprüngliche Entwurf hatte gleich noch die Abschaffung des nationalen Kultur­fonds und massive Subventions­kürzungen vorgesehen. Die Lehrpläne an den Schulen schreiben mittler­weile die Werke faschistischer und anti­semitischer Autoren als Pflichtlektüre vor, während Autoren von Weltrang wie Péter Nádas, Péter Esterházy oder Imre Kertész marginalisiert werden.

Der neue flämische Minister­präsident Jan Jambon von der rechts­liberalen Partei N-VA hat drastische Mittelkürzungen für die international gefeierte Kunst­szene Flanderns angekündigt. Ähnliches hat Trump schon seit Beginn seiner Amtszeit im Sinn. Derzeit nimmt er den vierten Anlauf, das Budget der staatlichen Förder­einrichtungen für Kultur und Geistes­wissenschaften massiv zusammen­zustreichen (die vorigen drei Male scheiterte er im Kongress).

In Brasilien hat Jair Bolsonaro als eine seiner ersten Amts­handlungen das Kultur­ministerium abgeschafft – ein Akt auch von grosser symbol­politischer Signal­wirkung. Kunst- und intellektuellen­feindliche Propaganda, repressive Kultur­politik und geschürte Ressentiments in der Bevölkerung verstärken sich wechselseitig und eskalieren die gesellschaftlichen Fliehkräfte zum Kulturkampf.

Doch so weit muss man geografisch gar nicht gehen: Was die AfD in Deutschland kultur­politisch betreibt, kann man nachlesen oder sich vor Augen führen. Man kriegt so vielleicht einen Eindruck davon, was erst los sein wird, sollte die Partei Regierungs­macht erhalten.

Die Begleiterscheinung von all dem: Mord­drohungen gegen Künstler und Kabarettistinnen, in Polen, in Deutschland, weltweit.

Diese Dimensionen und die Qualität der Bedrohung durch die völkisch-nationalistische Kultur­kampf-Ideologie sollte dringend in den Blick nehmen, wer beim Thema «Angriff auf die Kunst­freiheit» zuerst über die Exzesse einer angeblich völlig masslos gewordenen Political Correctness sprechen will.

«Zensur von unten»?

Dennoch steht ausser Frage: Auch fundamentalistische Auslegungen linker Identitäts­politik sind ein Problem, nicht nur für die Kunst­freiheit. Wo immer die Grenze von Kritik ins Repressive über­schritten wird, kann das selbst nicht ohne Einspruch bleiben. Wo Verbote von unliebsamen Kunst­werken gefordert werden, egal aus welcher Richtung, sollte eine Gesell­schaft allein schon aus historischem Bewusst­sein wachsam sein. Es ist deshalb ein gutes Zeichen, dass die Öffentlich­keit empfindlich reagiert, wenn Gemälde wegen Sexismus­verdachts aus Museen verschwinden sollen oder Kuratorinnen sie im voraus­eilenden Gehorsam gleich selbst abhängen.

Trotzdem wird es an diesem Punkt wesentlich komplizierter, als simple Feindbild­konstruktionen à la «Minderheits­politik vs. Kunst­freiheit» suggerieren. Zum einen, weil jeweils erst im Einzelfall zu klären wäre, wo tatsächlich eine Art versuchte «Zensur von unten» vorliegt – und nicht vielmehr harsche, aber noch legitime Kritik. Zum anderen, weil bei diesen Diskussionen häufig sehr schnell unübersichtlich wird, von wem eigentlich welche Aggression ausgeht.

Dass all jene, die einen Kultur­kampf von rechts aussen schüren, nur allzu gerne Meldungen mit der Schlagwort­kombination «Zensur» und «links» verbreiten, könnte zumindest Anlass sein, erst genauer hinzuschauen, bevor man laut- und meinungs­stark in einen Empörungs­chor einstimmt. Denn Präzision, Differenzierung und Diskussions­kultur sind häufig die ersten Opfer in diesen Debatten.

Das war schon bei der Aufregung um die angebliche Zensur eines Gomringer-Gedichtes durch Studentinnen der Berliner Alice Salomon Hochschule der Fall: Um ein Verbot des Gedichts ging es dabei zu keinem Zeitpunkt. Die Studentinnen vertraten vielmehr das Anliegen, den Text, den sie als sexistisch interpretierten, von der Häuser­wand ihrer Schule zu nehmen, und brachten dafür Argumente vor. Das kann man verständlich oder mit guten Gründen problematisch finden – Zensur aber ist etwas anderes. Und mangelnde Abweichungs­toleranz war in der öffentlichen Debatte auf beiden Seiten des diskursiven Grabens zu beobachten.

Ein wenig anders war die Dynamik in der Kontroverse um das Gemälde «Open Casket», bei der die weisse Künstlerin Dana Schutz heftig wegen Aneignung und Ausbeutung der Leidens­geschichte von Black Americans kritisiert wurde. Auch hier hat es gedauert, bis die nuancierteren Stimmen zu Wort kamen. Aber wen wundert das rück­blickend, wenn die Künstlerin Hannah Black die Diskussion gleich mit der kategorischen Forderung eröffnete: «The painting must go.» In dieser Tonlage kommt auch berechtigte Kritik in den Verdacht eines Zensurbegehrens.

Derzeit tobt wieder ein Streit um kulturelle Aneignung in den USA, dieses Mal im Literatur­betrieb. Der Autorin Jeanine Cummins und ihrem Verlag wird wegen des soeben erschienenen Romans «American Dirt» vorgeworfen, das Leid mexikanischer Flüchtlinge kommerziell auszubeuten. Dazu muss man wissen: Das Manuskript wurde unter neun Verlagen am Ende für ein sieben­stelliges Garantie­honorar versteigert. «American Dirt» wurde als der Text zur «migrantischen Erfahrung» beworben, es gab euphorische Empfehlungen von Autoren wie Don Winslow und Stephen King, und spätestens als Oprah Winfrey das Buch für ihren Buchclub auswählte, war der Weg zum Verkaufs­schlager geebnet.

Nun aber spitzte sich auch die Kontroverse zu. Die Autorin Myriam Gurba hatte eine vernichtende Kritik veröffentlicht, die schliesslich, verstärkt durch weitere Stimmen, die Debatte komplett drehte: Der Roman sei ein «Trauma-Porno» voller Stereotype, realitätsfern, durch und durch vom white gaze, der Perspektive der Weissen, geprägt. Eine Protest­welle gegen das Buch und gegen die fehlende Diversität im amerikanischen Literatur­betrieb setzte ein, Promis distanzierten sich von ihren Lese­empfehlungen, Fragen zur ethnischen Identität der Autorin (und zur Höhe ihres Honorars) rückten ins Zentrum – allerdings auch weil Jeanine Cummins selbst in Interviews der Hinweis wichtig war, sie habe eine puerto-ricanische Grossmutter. Was wiederum einen neuen Akzent gegenüber einem älteren Text von ihr setzte, in dem sie erklärte, als Weisse nicht über Erfahrungen mit Rassismus schreiben zu können. Auf einem ersten Höhepunkt des inzwischen vielstimmigen und lautstarken Protests sagte der Verlag die gross angelegte Lesetour ab: Man habe um die Sicherheit von Autorin und Buch­händlern gefürchtet.

Aber das ist nur die eine Seite. Denn abgesehen davon, dass der Verleger selbst die «unsensible» Vermarktung einräumte und die sachliche Kritik am Roman weit über die latein­amerikanische Community hinaus geteilt wird: Es ist Myriam Gurba, die Autorin der kritischen Rezension, der seither in Hass­botschaften der Tod gewünscht wird. Und zahlreiche andere Autorinnen haben offenbar ähnliche Erfahrungen gemacht, wenn sie Marginalisierung und weisse Dominanz­kultur thematisieren.

In der anhaltenden Debatte zu «American Dirt» wird also zumindest eines deutlich: Allein als Beispiel minderheits­politischer Attacken auf die hehre Kunst geht sie sicher nicht auf. Die Kontroverse ist mindestens auch eine Geschichte über Macht­strukturen im Kultur­betrieb, den alten Konflikt zwischen Kunst und Kommerz und über die Aggressionen, denen anti­rassistische Kritik ihrerseits ausgesetzt ist. In Kürze wird «American Dirt» dann auch auf Deutsch erscheinen – und zwar im Rowohlt-Verlag, der sich aktuell schon mitten in der nächsten Auseinander­setzung befindet. Denn auch um die Veröffentlichung von Woody Allens Autobiografie ist auf beiden Seiten des Atlantiks ein heftiger Streit entbrannt.

Unabhängig von der Bewertung all der jeweiligen Einzel­fälle: Vielleicht ist es in der Hitze solcher Debatten sinnvoll, noch einmal an Grund­sätzliches zu erinnern. Wenn Kunst­rezeption sich nicht mehr für das Wie, sondern nur noch für die Frage «Wer spricht?» interessiert, verkennt das ein zentrales Versprechen von Kunst: die Fähigkeit, die Grenzen der eigenen Ich-Identität gerade überschreiten, sich wenigstens ein Stück weit (und im Bewusstsein einer unhinter­gehbaren Differenz) in andere hinein­versetzen zu können. Darin liegt allerdings auch eine künstlerische Heraus­forderung. Und wie diese gehandhabt wird, muss – sachlich – kritisierbar sein. Wer Verbote oder gar die Zerstörung unliebsamer Kunst fordert oder gleich ihre Urheber bedroht, statt mit Argumenten friedlichen Protest zu äussern; aber auch, wer Kritik an Macht­strukturen oder stereo­typen Darstellungen in der Kunst gewaltsam mundtot machen will, offenbart nicht bloss ein problematisches Verhältnis zur Kunst­freiheit. Sondern auch ein bedenkliches Begehren nach der Tilgung von Ambivalenzen, die aushalten zu können eine demokratische Grund­anforderung ist.

Man muss also kein Kunst­liebhaber sein, um vehement Einspruch einzulegen, wenn Kunst als Ort des pluralistischen und kritischen Diskurses beschnitten oder einem ganz bestimmten ideologischen Zweck unterworfen werden soll.

Blicke (oder: Du bist gemeint)

Nur wo die Kunst frei von inhaltlichen Vorab-Festlegungen ist, kann sie bewirken, was die grössten Versprechen an ihr Publikum sind: Perspektiven erweitern. Das eigene Denken anregen. Irritierbar bleiben.

Die Krux dabei: Um die Lust an irritierender Kunst zu entwickeln, muss man sich zuerst einmal auf sie einlassen – und Zugang bekommen. Viele Menschen aber haben das Gefühl: Kunst – not for me.

Es bleibt deshalb die wichtigste Aufgabe der Kultur­politik, möglichst inklusiv Zugänge und Anreize zu schaffen. Zugleich liegt hier eine zentrale Heraus­forderung des Kultur­journalismus: Kunst jenseits von Bildungs­dünkel und elitärem Distinktions­bedürfnis zu vermitteln, aber auch ohne falsche Einfachheits-Versprechen.

Das stärkste Potenzial, das die Künste selbst mitbringen: ihre sinnliche Erfahrbarkeit.

Für das entscheidende Geschehen in «Portrait de la jeune fille en feu» bräuchte es nicht einmal Wörter. Von Anfang an – und das sehen wir sehr direkt – spielt sich die Dynamik zwischen Héloïse und Marianne in Blicken ab. Wir merken, lange vor dem ersten Kuss oder einem entsprechenden Wort, dass das hier eine Liebes­geschichte ist. Wenn es zu der Lese­szene mit der Eurydike-Erzählung kommt, ahnen wir, dass die beiden nicht nur einen alten Mythos ausdeuten, sondern auch das Rätsel ihrer Beziehung erkunden. Und womöglich erkennen wir, wie die beiden mit diesem Kunst­gespräch, quasi über Bande, auch eine Verabredung treffen. Die wir vielleicht erst vom Ende her zu deuten wissen.

Warum wissen, ahnen, vermuten wir als Zuschauer? Nicht weil der Film uns etwas «erklärt». Sondern weil sich uns etwas zeigt. Kunst «sagt» nicht, «lehrt» nicht, sie «macht». Sie vollzieht etwas, und was das sein könnte, erfahren wir nur, indem wir es – auf unsere Weise – mitvollziehen. Jede Kunst, die sich als Raum der Freiheit versteht, ist deshalb auf ein hörend-schauend-denkendes Gegenüber, kurz: auf aktive Rezipienten aus. Sie überwältigt nicht, weder moralisch noch mit politischen Botschaften, sondern ermöglicht ästhetische Erfahrung, die in einen Sinn zu übersetzen jeder und jedem selbst überlassen bleibt.

Klingt etwas zu harmonisch? Völlig richtig. Denn ein Stachel bleibt. Und das betrifft nicht nur das Problem sozialer Ausschluss­verfahren. Sondern führt auch noch einmal zurück auf Fragen linker Identitäts­politik und die blinden Flecken in der Geschichte der Künste.

Universalismus revisited

Weil ästhetische Erfahrung immer Auseinander­setzung mit dem Werk eines anderen ist und an dessen Rezeption wiederum auch andere teilhaben, bedeutet kulturelle Praxis immer, Eigenes und Fremdes in Beziehung zu setzen. Als Verfahren kollektiver «Produktion von Sinn und Bedeutung» (Felwine Sarr) ist Kunst an keinerlei politische, geografische, ethnische oder soziale Grenze gebunden, ja sie kann, von ihrer innersten Logik her, keine dieser Grenz­ziehungen als unüberwindbar akzeptieren.

Und dennoch sind auch die Geschichte und die Gegenwart der Künste von Ausschluss­mechanismen gekennzeichnet. Was «Portrait de la jeune fille en feu» mit Blick auf das Geschlechter­verhältnis im Kunstkanon in Erinnerung ruft, thematisieren Denkerinnen und Denker wie Achille Mbembe, Chimamanda Ngozi Adichie oder Dipesh Chakrabarty mit Blick auf postkoloniale Gerechtigkeit: Der Universalismus als das grosse Gleichheits­versprechen der Aufklärung war nie wirklich universell. Der Gedanke, dass Menschen bei allen Unter­schieden immer auch durch gleiche Rechte und ein gleiches Recht auf Teilhabe verbunden sind, war und ist für bestimmte Personen­gruppen stärker verwirklicht als für andere. Was sich als Werte­system hinter dem Schlag­wort «Universalismus» verbirgt, meint in der Regel westliche Ideale, hervor­gebracht in einem westlichen Diskurs. Und wie tief die Kluft zwischen europäischem Selbst­bild und Realität sein kann, zeigt sich derzeit wieder in aller Drastik an den EU-Aussengrenzen.

Was also tun? Die Idee des Universalismus verabschieden?

Auf keinen Fall, sagt der kamerunische Intellektuelle Achille Mbembe, einer der einfluss­reichsten Denker der Gegenwart. Aber es müssen an der Aushandlung dessen, was als universell gelten kann, endlich alle gleich­berechtigt beteiligt sein.

Es geht also, wie der Literatur­wissenschaftler Markus Messling kürzlich formulierte, um die «Hervor­bringung einer neuen Universalität», die aus einem echten globalen Dialog auf Augen­höhe entsteht.

Das Gemeinsame, schreibt Mbembe im Epilog seiner «Kritik der schwarzen Vernunft», beginnt mit dem «Wunsch, in vollem Umfang Mensch zu sein.»

Dieser Wunsch nach der Fülle des Mensch­seins ist etwas, das wir alle miteinander teilen. Gemeinsam ist uns übrigens in immer höherem Masse auch die Nähe des Fernen. Denn wir teilen uns nun einmal, ob wir das wollen oder nicht, diese Welt, die alles ist, was ist, und alles ist, was wir haben.

Das sind, genau besehen, schon zwei wesentliche Gemeinsamkeiten. Ob daraus mehr wird als ein Anfang auf dem Weg zu einer neuen Universalität, wird auch davon abhängen, wie weit die Bereitschaft zur Selbst­korrektur reicht, die der kulturellen Praxis als Potenzial immanent ist.

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