Kein Mann, nirgends
Mit «Portrait de la jeune fille en feu», der seit gestern im Kino läuft, ist Céline Sciamma ein grandioses Werk gelungen – und eine souveräne Antwort auf die Männerdominanz in der Filmgeschichte.
Von Ekkehard Knörer, 18.10.2019
Vielleicht braucht es, um diesen herausragenden Film von Céline Sciamma angemessen zu würdigen, eine kleine Vorgeschichte, die vom Kino der vergangenen Jahrzehnte erzählt.
Im Sommer 1983 startete die damals 23-jährige Alison Bechdel in der feministischen Zeitung «Womannews», unbeachtet von der Mainstream-Öffentlichkeit, ihren Comicstrip «Dykes to Watch Out For». In der Folge «The Rule» aus dem Jahr 1985 erklärt eine der Figuren einmal eher nebenbei, sie sehe grundsätzlich nur Filme, auf die die folgenden drei Kriterien zuträfen: Es müssten erstens mindestens zwei Frauen mitspielen, die sich zweitens miteinander unterhalten, und zwar drittens über etwas anderes als einen Mann.
Das ist nicht viel verlangt, mag der naive Leser denken, aber wenn man dann die Filme, die man so sieht, danach durchgeht – besonders aus Hollywood, besonders ältere –, dann wird einem einiges klar.
Und weil mit der Zeit nicht nur Feministinnen und Feministen einiges klar wurde, hat dieser Kriterienkatalog eine erstaunliche Karriere gemacht: Heute ist er als sogenannter Bechdel-Test weithin bekannt.
Es gibt längst Seiten, die umfangreiche Listen erstellen mit Filmen, die am Bechdel-Test scheitern, am prominentesten Bechdeltest.com. Fündig wird man schnell und in allen Genres, natürlich in manchen mehr (Science-Fiction: «Blade Runner» zum Beispiel oder «2001»), in anderen weniger (zum Beispiel im Melodram). Mancher Streifen hat in dieser Hinsicht gar das Zeug zur Kuriosität: etwa der George-Cukor-Klassiker «The Women» von 1939. Hier sind, wie der Name andeutet, ausschliesslich Frauen zu sehen – die sich aber leider über nichts anderes unterhalten als über Männer.
Dass es heute in der Tendenz Besserung geben mag, ändert nichts daran, dass nach wie vor Filme sehr eifrig mit dem Oscar ausgezeichnet werden, die bei Bechdel durchfallen: etwa «Green Book» 2018 oder «Bohemian Rhapsody» 2019.
Nun ist so ein Test natürlich nicht bedingungslos aussagekräftig. Es gibt auch Filme, die man mit guten Gründen als feministisch deuten kann und die trotzdem an dem Test scheitern – hier eine Liste dazu. Zweitens kann der Test nur die eine Seite des Problems zeigen, da es den umgekehrten Fall, also einen Film, in dem Männer gar nicht oder nur über Frauen reden, kaum jemals gibt. Drittens sagt der Bechdel-Test über die ästhetische Qualität eines einzelnen Films per se noch nichts aus. Auch reaktionäre Säcke haben schon Meisterwerke gedreht.
Ausserdem verweist der Test nicht auf die Ursachen, sondern beleuchtet und sammelt nur das allgegenwärtige Symptom. Die sexistischen und misogynen Strukturen der Filmindustrie liegen viel tiefer. Und sie sind keineswegs schon historisch.
Klar, in allen Ländern muss man nach Regisseurinnen bis in die Siebzigerjahre hinein mit der Lupe suchen und findet doch von Japan bis Deutschland, von Italien bis Indien, von den USA bis China und Hongkong nur absolute Ausnahmefälle. Beim Autorenfilm sieht es übrigens nicht so viel besser aus, und zwar bis heute nicht. Das zeigen die aktuellen Bechdel-Test-Listen; das zeigen die Zahlen zum Verhältnis der Anzahl von Regisseurinnen und Regisseuren oder zum Sprechanteil von Frauen gegenüber Männern in den Filmen; und das zeigen erst recht genauere Analysen dazu, wer im Film als Subjekt auftritt und wer Objekt bleiben muss. Im Hintergrund, in dem es mit oft harten Bandagen um Macht und Einfluss und Geld und also immer auch um Eitelkeit und Geltungssucht geht, liegen gegen aussen opake Strukturen, die nur dann einmal sichtbar werden, wenn sie einer wie Harvey Weinstein bis weit ins Kriminelle hinein skrupellos ausnutzt.
Das soll nicht heissen, dass sich nichts tut. Immerhin gab und gibt es #MeToo. Und es gibt Solidarisierungsaktionen, die eigene Strukturen aufbauen, wie die auch im Film- und Fernsehbereich aktive Lobbygruppe Pro Quote.
Auch deshalb haben die grossen Festivals seit einigen Jahren zum Glück und aus gutem Grund eine ständige Quotendiskussion am Hals. Schliesslich bilden sie die real existierende weltweite Hegemonie männlicher Regisseure in ihrer Auswahl nicht einfach nur ab, sondern können gar nicht anders, als sie durch ihre bislang immer von männlichen Regisseuren dominierte Auswahl noch zu forcieren. Es passt nur ins Bild, dass die Leiter der drei grossen Wettbewerbsfestivals der Welt – Cannes, Venedig, Berlin – noch stets Männer waren. Auch die neue Berliner Doppelspitze kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass fürs Programm allein Carlo Chatrian, der Mann, zuständig ist. (Dafür ist in Locarno mit Lili Hinstin nun eine Frau an seine Stelle gerückt.)
Gegen die sonstige, absurde Kino-Normalität
All das kann man noch so sehr wissen: Es bleibt als simple Wahrheit doch recht theoretisch.
Bis man dann auf einen Film trifft, oder besser: bis einen dann ein Film trifft wie Céline Sciammas «Portrait de la jeune fille en feu».
Der Film lief in Cannes, neben wieder mal nicht so sehr vielen anderen Filmen von Regisseurinnen, im Wettbewerb, gewann dort – leider nur, muss man sagen – den Preis für das beste Drehbuch.
Zwei Stunden dauert dieser Film – und nur in geschätzt zwei Minuten davon kommen Männer überhaupt auch nur vor. Das ist zunächst nur ein simpler Fakt, er wird im Film gar nicht weiter betont, sondern nur mit schöner Selbstverständlichkeit durchgezogen. Trotzdem macht dieser einfache Sachverhalt spürbar, wie absurd die sonstige Kino-Normalität mit ihrem Männer-Bias ist.
Um Männer geht es bei Céline Sciamma nicht. Nicht um Männer als Helden, nicht um Männer, die jemanden oder etwas erobern, nicht um Männer und ihren Blick auf die Welt. Und es ist fast schon falsch, das alles so zu formulieren, denn es geht noch nicht einmal darum, dass es nicht um Männer geht. Céline Sciamma hat einfach einen Film gedreht, der von der männlichen Konfiguration des Kinos frei ist.
«Portrait de la jeune fille en feu» ist ein Historienfilm und spielt im 18. Jahrhundert in der Bretagne. Im Zentrum stehen vier Frauen. Nur als Abwesender spielt ein Mann eine Rolle: An ihn nämlich, einen Adligen, den sie nicht kennt, der im fernen Mailand lebt und namenlos bleibt, soll Héloïse (Adèle Haenel) verheiratet werden. So will es die Mutter (Valeria Golino), die damit auch die Hoffnung verbindet, in ihre italienische Heimat zurückkehren zu können.
Héloïse ist dabei an die Stelle ihrer Schwester gerückt, die offenbar einst lieber freiwillig von der Klippe ins Meer gesprungen ist, um sich dieser Verheiratung zu entziehen. Über das Meer nähert sich nun Marianne (Noémie Merlant). Sie ist Malerin und soll im Auftrag der Mutter ein Porträt von Héloïse malen, das dann an den Gatten in spe geschickt werden soll, damit er sich einen Eindruck von seiner Gemahlin in spe machen kann. Davon soll Héloïse natürlich nichts ahnen, Marianne wird ihr nur als vorübergehende Gesellschaft präsentiert.
Die Konstellation ist nach Art einer Versuchsanordnung so verwickelt wie klar. Zug um Zug lässt Sciamma die Dinge sich entwickeln. Es geht um Blicke – und um das, was sich den Augen entzieht.
Erst nach rund zwanzig Filmminuten kommt es zur ersten Begegnung von Marianne und Héloïse, und noch am Beginn dieser Szene steht ein Sich-Verbergen. Marianne sieht die von einer Haube verhüllte Héloïse auf die Klippe am Meer zueilen. Die Handkamera eilt mit, Mariannes Blick auf den Hinterkopf von Héloïse gerichtet, halbnah, dann Schnitt: zurück auf die hinterhereilende Marianne. Wieder Gegenschnitt: Die Haube rutscht nach hinten, die blonden Haare werden sichtbar, an der Klippe wendet Héloïse erstmals den Kopf – Marianne, und auch wir, sehen das erste Mal ihr Gesicht.
In solchen detailgenau komponierten Bildern, die ganz den beiden Frauen gehören, schildert Sciamma die sich verändernde Dynamik zwischen ihnen.
Zunächst ist da nur die Beziehung der Blicke: Wir sehen Marianne, die Héloïse als Porträtobjekt in den Blick nimmt. Und Héloïse, die sich dieser Zurichtung deutlich entzieht. Sie blickt anders zurück, als Marianne es erwartet; und Marianne blickt daraufhin anders hin als zuvor. Ein erstes Porträt gerät noch ganz steif und konventionell – und wirkt deshalb wie ein Verrat an der längst aufflammenden, wenn auch noch uneingestandenen Begierde zwischen den Frauen. Héloïse ist empört, woraufhin Marianne das Bild verwirft – Héloïse wird vom Objekt zum Subjekt ihres Porträts. Auch ein Moment von Scheherazade liegt darin, denn die aufgeschobene Frist für das neue Porträt schafft auch einen Freiraum vor der finalen Heiratsentscheidung.
Diesen Freiraum nutzen die Frauen. In einem Schlüsselmoment wird die Folge von Schnitt und Gegenschnitt, die die beiden Frauen immer auch getrennt hatte, nachdrücklich aufgehoben: Marianne, ganz in Rot gekleidet, verlässt den Platz der Malerin und tritt neben Héloïse (ganz in Grün). Die Kamera rückt sie näher aneinander, und nun schildern beide, wie sie einander die ganze Zeit schon in den Blick genommen haben.
So emanzipieren sie sich aus der Porträtkonstellation, oder sie eignen sie sich radikal an. Ihr gegenseitiges Begehren vereindeutigt beide: ja, ich will dich; ich will dich auch. Zugleich wird jede der anderen zum unendlich auslegbaren Beobachtungsobjekt.
Es kommt, endlich, zum ersten Kuss, zur Berührung, zärtlicher nun, zum – zurückhaltend dargestellten – Sex. Und dann erzählen beide einander vom Entstehen dieser Liebe, deren Befristung beiden allzeit präsent bleibt: Wann fiel das erste Mal dein anderer, dein begehrender Blick auf mich?
Wenn Héloïse und Marianne mit diesen Erzählungen nun die eigene Beziehung mythisieren, hilft ihnen Sciammas Bildsprache dabei: Der Film schreibt Héloïse und Marianne in den Orpheus-und-Eurydike-Mythos ein. Mehrfach sehen wir, durch die Augen von Marianne, wie Héloïse, Eurydike-gleich, im weissen Nachthemd vor schwarzem Grund steht: eine Einbildung, eine gespenstisch-schmerzliche Vorausahnung des Verlusts.
Sciammas Regie schreibt den abertausendfach geübten männlichen Blick auf die Frau selbstbewusst um. Man kann das durchaus als Gegendarstellung zu Jacques Rivettes «La belle noiseuse» («Die schöne Querulantin») begreifen, einem Film in der klassischen Konstellation «Maler porträtiert Frau», auch wenn Rivette dabei selbst schon die Machtverhältnisse reflektierte.
Eine grosse Autorenfilmerin, eine kluge Drehbuchautorin
So setzt Sciamma nicht weniger als eine reale Utopie ins Bild. Und es geht ihr, wie schon in ihren früheren Filmen, nicht um ein aktivistisches Kino, sondern darum, so komplex wie selbstverständlich Geschichten von denen zu erzählen, die in der westlichen Gesellschaft und in deren Künsten lange nur am Rand vorkamen.
In «Tomboy» war es Laure, eine Hauptfigur jenseits des binären Genderrasters, in «Bande des filles» die afrofranzösische Marieme. Und in «Portrait de la jeune fille en feu» kennt die Hausangestellte Sophie (Luàna Bajrami) nicht nur bewährte Mittel gegen Menstruationsschmerzen (Kirschkerne als Wärmespeicher); sondern sie, die Unterprivilegierte, bekommt auch sehr konsequent ihren eigenen Raum in den ohnehin immer grandios komponierten Bildern von Kamerafrau Claire Mathon.
So wie es den einen male gaze nicht gibt, wäre auch die Rede von dem einzig möglichen «weiblichen Blick» ganz absurd. Und natürlich liegen die Dinge angesichts einer Gesellschaft, die nach wie vor auf fast allen Ebenen hetero-patriarchal-männlich dominiert ist, sowieso kompliziert: Niemand kann sich oder die Kunst daraus befreien, ohne dass die Verhältnisse selbst freie sind. Niemand wird leugnen, dass es Individualstile gibt, die nicht restlos einer bestimmten Genderkategorie zuordenbar sind.
Und doch: «Portrait de la jeune fille en feu» ist einfach zu schlagend. Auf ganz evidente Weise ist das, was man hier sieht, etwas völlig anderes als der male gaze, den man in tausend Variationen im Kino erlebt hat.
Céline Sciamma ist eine grosse Autorenfilmerin sowie eine sehr genaue und kluge Drehbuchautorin. Und sie hat im Verbund mit ihrer Bildgestalterin einen bewundernswerten Mut zur kompositorischen Setzung – dann aber zu manchmal fast schneidender Analytik, mit der sie emotionale Glut in kühle Sequenzen übersetzt. Ihr Kino fügt der Geschichte des Kinos etwas hinzu. Es räumt Plätze frei, die vorher anders besetzt waren. Sie sind ein Zeichen der Hoffnung und dafür, dass all die anfangs beschriebenen Dinge wenigstens dabei sind, sich endlich zu ändern. Gut werden sie erst sein, wenn so etwas wie den Bechdel-Test niemand mehr braucht.
Ekkehard Knörer ist Kulturwissenschaftler, Literatur- und Filmkritiker. Er ist Mitgründer, Herausgeber und Redaktor der Zeitschrift «Cargo», Redaktor und seit 2017 Mitherausgeber der Zeitschrift «Merkur». Unter anderem schreibt er für die TAZ, für «Kolik» sowie für wissenschaftliche Zeitschriften und Sammelbände. Für die Republik schrieb er zuletzt über den Film «Joker» von Todd Phillips.