Das Versprechen der Literatur
Zum Verhältnis von Literatur, Kritik und Debatte in Zeiten der Polarisierung. Und elf Thesen zur Aufgabe der Buchkritik.
Von Daniel Graf, 22.10.2018
Weil Kritik immer auch Auswahl heisst, beginnt sie vor dem ersten Wort. Literaturkritikerinnen – so lautete der Schlussgedanke in Teil eins dieses Essays – können nur einen statistisch winzigen Teil der Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt besprechen; darin liegt, noch immer, ihre Orientierungsfunktion. Und daraus folgt, dass Literaturkritik nicht nur auf Aufmerksamkeitskonjunkturen reagiert, sondern sie auch mitbeeinflusst. Kritik verstärkt Sichtbarkeit – und unterlässt es an anderer Stelle, mit besseren oder schlechteren Gründen.
Sofern sie sich mit Letzterem nicht zufriedengeben möchte, bedeutet das: Kritik muss ihre Auswahl plausibilisieren – nicht in Form von Rechtfertigungsprosa, sondern aus sich selbst heraus, mittels der eigenen Argumentation. Jede Rezension steht gewissermassen für die Wahl und die Gewichtung ihres Gegenstandes ein. Darin liegt ihre Beweislast oder -lust, je nachdem. Auf die klassische Empfehlungsfunktion allein kann sich feuilletonistische Buchkritik jedenfalls in Zeiten von algorithmengestützten Leseempfehlungen und von hochfrequentierten Rezensionsportalen nicht berufen (und konnte es vermutlich nie). Die neue mediale Konkurrenz aber zwingt die Feuilletonkritik, das eigene Tun und ihren Anspruch neu zu hinterfragen.
Vielleicht ist die Gretchenfrage dabei, wie ernst es den Kritikern mit der eigenen Methode ist. Denn Kritik als Unterscheidungskunst bedeutet auch: Wer seinen Gegenstand angemessen beurteilen will, muss ihn zugleich analytisch ausleuchten und über ihn hinausgelangen. Nicht in einen unbestimmten Raum hinein, sondern in den der eigenen Gegenwart mit ihrem je aktuellen Stand der Erkenntnis, der gesellschaftlichen Fragen und Konflikte. Deshalb hat die Gattung Rezension eine innere Tendenz zum Essay. Für das Sachbuch mag das am ehesten einleuchten, doch gilt auch und gerade für die Künste: Wo Kritik ihren Gegenstand so durchdringt, dass sie ihn begründet beurteilen kann, spricht sie immer schon von mehr als dem Gegenstand selbst. (Durchdringt, nicht überspringt.)
Vielleicht steht am Anfang eines solchen Anspruchs eine eher demütige Einsicht: Es gibt für die Literaturkritik keinen problematischeren Satz als «Literatur ist ...». Wer bei den Künsten mit Definitionen hantiert, läuft immer Gefahr, für wesenhaft-allgemein zu halten, was partikular und veränderlich ist. Ist-Sätze zur Literatur funktionieren höchstens, wo sie sich selbst gegen das allzu Einseitige wenden. Denn literarische Werke sind mehrdeutig, und Literatur ist im Ganzen ein Feld unüberschaubarer Möglichkeitsfülle, weil jedes Werk die Frage, was Literatur sei, neu und anders beantwortet. Literaturkritik braucht deshalb zunächst vor allem eines: Ambivalenz- und Vielfaltsbewusstsein.
Die Philosophin Juliane Rebentisch, eine der brillantesten Denkerinnen des Verhältnisses von Ästhetik, Politik und Ethik, entwirft in ihrem Buch «Die Kunst der Freiheit» eine Theorie der Demokratie als derjenigen Staatsform, die als einzige zur alten Frage nach dem Guten ein neues Verhältnis entwickelt hat: weil sie nicht willkürlich und dogmatisch das Gute einfach festlegt, sondern die Möglichkeit, dass eine Gesellschaft sich über das Gute verständigt, selbst als ihren höchsten Wert bestimmt. In Rebentischs Worten: «Die Möglichkeit der Veränderung jeweiliger Bestimmungen des Guten selbst als ein Gutes anzuerkennen heisst, dieser Möglichkeit einen Vorrang vor jeder inhaltlichen Bestimmung des Guten einzuräumen.» Man kann diese Denkbewegung auf die Literatur übertragen: Ästhetische Vielfalt selbst ist ihr Versprechen. Literatur als Freiheits- und Möglichkeitsraum zu verstehen, ist jeder inhaltlichen Bestimmung vorzuziehen.
Das Schönheitssüchtige und das augenöffnend Hässliche, das Leichte und das Inkommensurable, das Verstörende und das Tröstende – all das und die gesamte Spannweite vom Politischen ins Weltflüchtige, vom Traditionsseligen bis ins Innovationsversessene gehört zur Literatur, und die Kritik hat die Aufgabe, ihre Begriffe im Bewusstsein dieser Fülle zu finden. Indem sie nach dem jeweiligen Verhältnis des Werks zu seiner Gegenwart fragt.
Dieses aber kann – Stichwort Kunstautonomie – nie ein rein ästhetisches sein. Autonom heisst «eigengesetzlich», nicht «isoliert». Kunstautonomie bedeutet, die Sphäre der Kunst lässt sich ohne Berücksichtigung ihrer ureigenen Regeln nicht verstehen. Reine Gesinnungstests und blosse Inhaltsreferate sind gleich weit von diesem Anspruch entfernt. Aber: Jeder literarische Text und noch das inhaltlich gegenwartsfernste Werk entstehen zu einem konkreten historischen Zeitpunkt X, an einem bestimmten Stand der ästhetischen Produktion und Debatte. Mit dieser Geschichtlichkeit kann Kunst nicht nicht kommunizieren. Literaturkritik, die dem Rechnung trägt, hält die Kategorien des Ästhetischen, Ethischen und Politischen analytisch auseinander – allerdings nur, um ihr Wechselverhältnis dann umso präziser zu fassen und ihre Interferenzen zu registrieren.
Nur dort lässt sich das Spezifische eines Werks erfassen, eine Autorenpoetik auf der ästhetischen Landkarte verorten, wo sie gegen die Vielfalt der Konzepte gehalten wird, mit denen Literatur auf die drängenden Fragen ihrer Zeit reagiert – oder Gegenwelten dazu entwirft. Erst hier, in diesem Bereich der Unterschiede, kristallisiert sich so etwas wie Autorenpersönlichkeit heraus. Erst hier wird im Fall des Gelingens (des Werks wie der Kritik) so etwas wie eine individuelle künstlerische Signatur sichtbar, mit ihrem spezifisch ästhetischen Kommentar zum Diskursrauschen der Zeit und zu der Frage, wie wir leben wollen.
Tritt man jedoch von dieser Kernaufgabe der Literaturkritik einen Schritt zurück, kommt vielleicht etwas anderes in den Blick, das sich auf die Frage nach der gesellschaftlichen Streitkultur rückbeziehen lässt: Die Beschäftigung mit Literatur ist eine Vorzeigeschule im Umgang mit Mehrdeutigkeit und Kontingenz. Wenn ein Kernproblem unserer gegenwärtigen Diskussionskultur die ideologische «Vereindeutigung der Welt» ist (die Thomas Bauer in seinem gleichnamigen Buch beschreibt), dann stellen die Ambivalenzerfahrung und das Rollenspiel der Literatur dazu ein Gegenmodell bereit. Was sich also für die Debattenkultur von der Literatur lernen liesse, ist nicht eben wenig: Anti-Dogmatismus zum Beispiel und Komplexitätstoleranz. Fantasie und Möglichkeitsdenken statt Alternativlosigkeit und Engstirnigkeit.
Literaturkritik – und man darf hier sicher sagen: Kunstkritik generell – ist prädestiniert, solches Wissen in Erinnerung zu rufen. Womöglich nicht einmal in erster Linie durch Appelle. Sondern indem sie selbst vorführt, wie konstruktiver kritischer Diskurs aussehen kann. Der Sinn fürs Vielschichtige schärft aber auch den Blick auf das wenig Subtile und Unzweifelhafte. Die Orbáns, Trumps, Le Pens und ihre deutschsprachigen Geschwister im Geiste machen keinen Hehl daraus, was für eine Welt sie wollen. Wer andere, pluralistischere Vorstellungen hat, wird dagegenhalten müssen.
Abschliessend, vorläufig: Elf Thesen zur Literaturkritik
Vielleicht lässt sich aus dem bisher Gesagten Folgendes ableiten – als Grundlage für «Kritik als Streit». Oder als Offenlegung eines Massstabs zur Selbstkritik.
Kritik ist Unterscheidungskunst. Ihre erste Aufgabe ist die Zurückweisung von Pauschalurteil und Essenzialisierung.
Literaturkritik urteilt über Phänomene der Sprache. Durch die Übernahme von Klappentextsprech korrumpiert sie sich selbst. Adjektive ersetzen keine Argumentation.
Gute Literaturkritik ist empirisch und konkret. Sie gewinnt ihre Gedanken am Werk entlang, nicht darüber hinweg.
Literaturkritik ist nicht gleich Romankritik. Sie umfasst sämtliche Formen literarischer Texte ebenso wie das Sachbuch. Damit ist mehr gemeint, als zu sagen, ein Feuilleton müsse all das abdecken. Es geht auch um gedankliches In-Beziehung-Setzen. Das Spezifische einer Gattung, ebenso wie Phänomene des Übergangs, treten durch Vergleich plastischer hervor.
Jede allzu kategorische Scheidung von Fiction und Non-Fiction geht an den Phänomenen vorbei, zumal an der gegenwärtigen Tendenz zur Autofiktion. Weil Literatur Wissen transportiert und transformiert, partizipiert auch sie, auf ihre Weise, am Diskurs. Und weil sich das Sachbuch im hohen Mass erzählerisch-involvierender Mittel bedient, stellt sich die Frage nach dem Wie auch dort.
Wenn die Rezension eines belletristischen Werks sich darin erschöpft, die Gesinnung des Autors zu bewerten oder den Plot nachzuerzählen, hat mindestens einer einen gravierenden Fehler gemacht: die Kritikerin oder der Autor.
Kritik als blosses Urteil ist reine Machtgeste. Sie verrät den eigenen Anspruch – im einen oder anderen Sinn des Wortes.
Gegen die Romantiker: Literaturkritik und ihr Gegenstand sprechen unterschiedliche Sprachen. Kritik sollte sich um argumentative Präzision nicht mit dem Hinweis herumschummeln, sie sei selbst Literatur. Rezensenten ergreifen freiwillig die Beweislast. Das müssen sie dann auch schultern.
Anti-Dogmatismus meint nicht Neutralität. Kritisieren heisst auch sich klar werden, von welcher Position aus man spricht.
Medien sind «der Selbsterfahrungsraum der Gesellschaft», schreibt der Soziologe Armin Nassehi im aktuellen «Kursbuch». «Wenn sich Dinge in der Gesellschaft neu ordnen, dann ordnen sie sich letztlich an dem Bild, das die unterschiedlichen Instanzen der Gesellschaft vermittelt über die Medien bekommen.» Muss dann noch eigens betont werden, welche Verantwortung Medienschaffende haben?
Kritik ist reflexiv. Poetologien der Kunstkritik sind deshalb von Zeit zu Zeit nötig. Doch sind sie vor allem Absichtserklärungen. Die Wahrheit liegt auf dem Blatt.
Thomas Bauer: «Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt». Reclam, Ditzingen 2018. 128 Seiten, ca. 20 Franken.
Kursbuch 195 (September 2018). #realitycheck_medien. Murmann-Verlag, Hamburg.
Per Leo, Maximilian Steinbeis, Daniel-Pascal Zorn: «Mit Rechten reden. Ein Leitfaden». Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 183 Seiten, ca. 22 Franken.
Juliane Rebentisch: «Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz». Suhrkamp, Berlin 2012. 396 Seiten, ca. 28 Franken