Die Sache mit dem Boden, dem Wohnen, dem Mieten
Die Wohnrauminitiative will Genossenschaften fördern. Doch dahinter steckt viel mehr. Die wichtigsten Fakten und vier Perspektiven von Expertinnen.
Von Bettina Hamilton-Irvine, Olivia Kühni und Christof Moser, 04.02.2020
Auftakt: Die Expertenrunde
Warum reden alle über teure Mieten und niemand über hohe Bodenpreise? Welche Bedeutung hat es, wer das Land besitzt?
Gibt es ein Recht auf günstiges Wohnen? Wer trägt die Verantwortung für bezahlbaren Wohnraum?
Warum werden Wohnungen oft an Orten gebaut, an denen niemand wohnen will? Warum entsteht so wenig Raum für neue Wohnformen?
Über diese Fragen haben wir mit vier Expertinnen gesprochen und ihre Perspektiven eingeholt:
Hans Egloff, SVP, Präsident Hauseigentümerverband Schweiz (HEV);
Manuela Schiller, AL, Präsidentin Mieterinnen- und Mieterverband Stadt Zürich;
Jürg Sollberger, Architekt, Präsident des Regionalverbands Bern-Solothurn der Wohnbaugenossenschaften Schweiz;
Stefan Kurath, Architekt, Professor am Institut für Urban Landscape an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Ihre Antworten haben wir zu einem Gespräch montiert.
Herr Egloff, braucht es mehr bezahlbaren Wohnraum?
Hans Egloff: Was heisst bezahlbarer Wohnraum? Der Begriff ist relativ und heisst für jeden etwas anderes. Man kann sich an der Statistik orientieren, zum Beispiel die Lohnentwicklung anschauen und die Entwicklung der Mietpreise, und man wird feststellen: Der Wohnkostenanteil pro Haushaltseinkommen liegt immer etwa zwischen 19 und 22 Prozent. Heisst: Was vor 30 Jahren bezahlbar war, ist es heute auch.
Frau Schiller, wo würden Sie ansetzen, um die Wohnsituation in der Schweiz zu verbessern?
Manuela Schiller: Beim Boden. Es hat alles mit dem Boden zu tun. Ich persönlich frage mich, wieso Boden ein privates Gut ist. In der Schweiz gibt es Einigkeit, dass Grundbedürfnisse Service public sind – müsste dann nicht auch der Boden Allgemeingut sein? Man könnte ihn ja im Baurecht abgeben, auch an Private.
Herr Sollberger, warum stagniert der gemeinnützige Wohnungsbau?
Jürg Sollberger: Ich spüre das im Alltag: Die Genossenschaften bemühen sich, reichen Offerten ein, um an Terrain zu kommen – und verlieren am freien Markt, und das konstant. Das ist eine Folge des immer knapper werdenden Bodens, der zu teuer geworden ist für gemeinnützige Projekte.
Herr Kurath, der Boden wird knapp. Müssen wir uns mehr einschränken, weniger Platz einnehmen?
Stefan Kurath: Das wäre ein Teil der Lösung. Ich bin überzeugt, dass auch Wohnungen in einem kleinen Wohnungsschnitt gefragt wären. Investoren könnten durchaus von den Genossenschaften lernen und Wohnungen erstellen, die nur 30 Quadratmeter Wohnfläche pro Person aufweisen, dafür aber mehr Gemeinschaftsfläche haben. Irgendwann wird zudem sicher jemand herausfinden, dass auch kleinere Räume weggehen, wenn er diese bereitstellt – und dass er mit mehr Wohnungen auf kleinerem Raum mehr Geld einnehmen kann.
1. Die Initiative
Die Initiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» des Mieterinnen- und Mieterverbands verpflichtet den Bund, gemeinsam mit den Kantonen dafür zu sorgen, dass schweizweit mindestens 10 Prozent aller neu erstellten Wohnungen gemeinnützig sind. Bei aktuell rund 50’000 neu gebauten Wohnungen jährlich wären das also um die 5000 Wohnungen.
Die Kantone und Gemeinden können für sich ein Vorkaufsrecht für geeignete Grundstücke einführen. Sie haben zudem ein Vorkaufsrecht, wenn Grundstücke des Bundes oder bundesnaher Betriebe zum Verkauf stehen. Dieses Land könnten sie zum Beispiel Genossenschaften im Baurecht abgeben.
Der Bund soll zudem sicherstellen, dass Programme zur Förderung von energetischen Sanierungen nicht zum Verlust von günstigen Wohnungen führen. So weit die Forderungen der Initiative.
Befürworter wollen damit einen Teil des Bodens dem Markt entziehen und ihn von Bürgerinnen selber verwalten lassen. Gegner sprechen von einer Verstaatlichung des Wohnungsmarkts und bezeichnen die Initiative als unnötig, teuer und sinnlos.
Herr Egloff, was steckt Ihrer Ansicht nach hinter der Initiative?
Egloff: Öffentlichkeitswirkung, Mitgliederwachstum. Wenn ein Verband eine Initiative macht, ist das auch Marketing. Es geht darum, die eigenen Anliegen in der Öffentlichkeit zu diskutieren, für sich zu reklamieren. Jedenfalls spielen diese Faktoren eine Rolle, wenn der Hauseigentümerverband aktiv wird. Ein konkretes Beispiel: Werden wir die Abschaffung der Eigenmietwertbesteuerung nicht durchbringen, ist schon ziemlich sicher, dass wir eine Volksinitiative lancieren werden.
Frau Schiller, auf dem Land gibt es wenig Bedarf an günstigen Wohnungen, und in der Stadt fehlt das Land. Das ist die Hauptkritik an der Initiative. Was sagen Sie dazu?
Schiller: Es wird nichts Starres vorgegeben. Zwar wird vorgeschrieben, dass 10 Prozent der Neubauten gemeinnützig gebaut werden müssen. Aber das muss nicht in jeder Gemeinde, in jedem Kanton sein. Und gleichzeitig gibt man den Kantonen und Gemeinden Instrumente, die sie nutzen können, aber nicht müssen – wie das Vorkaufsrecht. Der Schuh drückt in der ganzen Schweiz. Auch auf dem Land gibt es Bedarf an gemeinnützigem Wohnraum. Und auch auf dem Land werden viele Wohnungen dort gebaut, wo die Menschen nicht hinziehen wollen.
Wie kann man denn sicherstellen, dass die gemeinnützigen Wohnungen an den richtigen Orten entstehen? In den Kernstädten, wo es besonders nötig wäre, scheinen die Möglichkeiten ziemlich ausgeschöpft.
Schiller: Klar gibt es in Zürich nicht mehr viele Landreserven. Aber wenn nun das Vorkaufsrecht käme, würden Gemeinden eher wieder zu Land kommen – selbst wenn sie dafür einen Marktpreis zahlen müssten.
Manuela Schiller, 62, ist selbstständige Anwältin und Präsidentin des Mieterinnen- und Mieterverbands der Stadt Zürich. Sie ist Mitglied der AL. Nachdem sie vorher 35 Jahre lang in Genossenschaftswohnungen lebte, wohnt die zweifache Mutter und zweifache Grossmutter seit vier Jahren mit ihrem Mann in einem Einfamilienhaus in Zürich-Altstetten, das 1,2 Millionen Franken gekostet hat. Den 400 Quadratmeter grossen Garten betreut vor allem der Sohn, der mit seiner Familie gleich nebenan lebt.
Herr Sollberger, braucht es auf dem Land mehr gemeinnützigen Wohnungsbau?
Sollberger: Die Initiative verlangt ja nicht, dass in Huttwil 10 Prozent gemeinnützige Wohnungen gebaut werden, es geht um den Schnitt. Wir haben Wohnbedarf, das ist die Motivation für gemeinnützigen Wohnungsbau – und der braucht einen wesentlich höheren Anteil am Wohnungsmarkt als die aktuellen 5 Prozent.
Egloff: Das vorgeschlagene Vorkaufsrecht für Kantone und Gemeinden ist ein Eingriff in die Eigentumsrechte und in die Privatautonomie. Da sträuben sich bei mir als Liberalem alle Nackenhaare. Dazu kommt: Das Vorkaufsrecht führt dazu, dass sich ausser den Genossenschaften alle Player zurückhalten werden, wenn es um die Bebauung grosser Areale geht. Wenn Sie ein solches Bauprojekt ins Auge fassen, müssen Sie mehrere Millionen investieren, bevor der Vertrag unterschrieben ist. Das Vorkaufsrecht könnte im Ergebnis jedesmal bedeuten, dass Sie diese Investitionen tätigen, ohne dass Ihnen am Ende das Land gehört. Das macht keiner.
2. Die Sache mit den Mieten
Manche Befürworterinnen argumentieren, es brauche die Initiative, weil die Mieten in der Schweiz so stark gestiegen seien. Das stimmt so pauschal nicht. Vielmehr ist der Wohnungsmarkt geteilt.
In der Schweiz entstehen im Moment jedes Jahr rund 50’000 neue Wohnungen.
Trotzdem sind die Angebotsmieten seit 2000 insgesamt gestiegen, am stärksten – um durchschnittlich 60 Prozent – in den Grossstädten Basel, Bern, Genf und Zürich.
Am meisten stiegen die Mieten bei Neubezügen; Mieterinnen, die schon sehr lange in einer Wohnung wohnen, zahlen kaufkraftbereinigt eher weniger als vor 20 Jahren.
Herr Egloff, wie sorgt man für bezahlbare Wohnungen?
Egloff: Der richtige Weg ist die Subjekthilfe. Das heisst, der Staat hält sich vom Immobilienmarkt fern. Jeder und jede sucht sich Wohnraum auf dem freien Markt. Und dort, wo es nicht reicht, um die Wohnkosten zu decken, unterstützt der Staat. Das System haben wir auch bei den Krankenkassen mit den Prämienverbilligungen.
Ein Traum für die Immobilienbranche! Ein staatliches Programm zur Finanzierung der Renditen.
Egloff: Es wird sogar der Begriff Subventionen ins Feld geführt. Das ist total verkehrt. Es geht um jene, die sich keinen Wohnraum leisten können. Es ist bisher auch niemand auf die Idee gekommen, die Verbilligung der Krankenkassenprämien als Subvention für Ärzte oder Spitäler zu bezeichnen.
Sollberger: Mit Subjekthilfen subventioniert man einfach den Markt, der nach eigenen Gesetzen funktioniert. Der Vergleich mit den Krankenkassen hinkt: Der Staat kontrolliert die Prämienentwicklung, die Immobilienpreise nicht. Die Zinsen gehen runter und die Mieten hoch. Der Bund hat zu wenig Mittel, das zu verhindern, und das Mietrecht ist offensichtlich zu schwach.
Jürg Sollberger, 64, ist Architekt und Präsident des Regionalverbands Bern-Solothurn der Wohnbaugenossenschaften Schweiz, dem 174 Genossenschaften mit insgesamt knapp 20’000 Wohnungen angehören. Seit seine beiden Kinder ausgeflogen sind, lebt er mit seiner Frau in einer Eigentumswohnung in Bern, in der Siedlung einer gemeinnützigen Genossenschaft, die 120 Mietwohnungen und 60 Eigentumswohnungen umfasst.
Herr Egloff, Sie sprechen von jenen, die sich keine Wohnungen mehr leisten können. Was ist mit jenen, die schlicht nicht so hohe Mieten bezahlen wollen, sondern fairere Preise?
Egloff: Das Problem ist doch einfach: Boden ist ein beschränktes Gut, und damit sind es auch die Wohnungen darauf. Und die Frage ist, ob es ein Menschenrecht ist, im Stadtzentrum in einer Dreizimmerwohnung mit Dachterrasse leben zu können und dafür 2000 Franken zu bezahlen. Diese Wohnungen gibt es, aber nicht unbegrenzt, und nicht alle können sie haben. Das ist letztlich auch bei anderen Gütern so.
Wie sehen Sie das, Herr Kurath?
Kurath: Das Bedürfnis nach günstigem Wohnraum ist gross. Gleichzeitig erleben wir eine Mietpreisentwicklung nach oben, vor allem in den städtischen Gebieten. Die Initiative ist eine politische Reaktion darauf.
3. Die Sache mit dem Boden
Boden ist nicht irgendein Gut. Jeder braucht ihn, aber niemand hat ihn selber geschaffen. Wer also hat ein Anrecht darauf? Und was geschieht, wenn er knapp wird?
Das Schweizer Recht versucht an mehreren Stellen, Renditen auf Boden zu beschränken oder einen Teil davon über Steuern an die Gemeinschaft zu verteilen. Die Grenzen für bäuerliche Pachtzinsen sind klar definiert; Mieten müssen sich am Referenzzinssatz für Hypotheken und damit im Grunde an den Kosten der Vermieter orientieren. Wenn Agrarland zu Bauland umgezont wird, mit dem entsprechenden Wertgewinn über Nacht, müssen Kantone mindestens 20 Prozent davon besteuern.
Boden, besonders Bauland, ist in der Schweiz sehr knapp. Siedlungen machen zwar nur rund 8 Prozent des Landes aus, sind aber zwischen 1985 und 2009 um 23 Prozent gewachsen.
Besonders in den Zentren geht das Bauland aus. Würde man keine neuen Gebiete einzonen, würde es in Zürich bereits nächstes Jahr ausgehen, auch in den Agglomerationen Bern, Basel und Genf innerhalb weniger Jahre.
Das hat wenig überraschend dramatische Auswirkungen auf die Bodenpreise. Sie haben sich beispielsweise in der Stadt Zürich seit 2005 mehr als verdoppelt, auf heute im Schnitt 3400 Franken pro Quadratmeter.
Ist bezahlbares Bauland zu finden das grösste Problem für die Genossenschaften, Herr Sollberger?
Sollberger: Das ist so.
Müssen wir Land der Spekulation entziehen?
Sollberger: Ja, wir müssen über den Boden und die Rechte daran reden. Das ist ein wertvolles, knappes Gut, das wir jetzt zum Glück auch raumplanerisch besser schützen.
Herr Kurath, warum reden alle über teure Mieten und niemand über die Bodenpreise?
Kurath: Es heisst gern: Die Architekten bauen zu teuer. Aber letztlich sind es die Bodenpreise und die Renditevorstellungen, welche die Mietpreise in die Höhe treiben.
Wo würden Sie ansetzen, um die Situation zu verbessern?
Kurath: Der Baulandpreis hat natürlich viel mit Knappheit zu tun. Gleichzeitig gehen wir mit dem Boden ziemlich verschwenderisch um. Man könnte eine massiv höhere Ausnutzung erreichen, indem man mehr Geschosse baut – ohne qualitative Einbusse. Es gibt sehr dicht besiedelte Städte, die trotzdem eine sehr hohe Lebensqualität haben.
Gibt es andere Möglichkeiten, um an mehr Land zu kommen?
Kurath: Es gibt einflussreiche Akteure wie die SBB, die einst sehr günstig Land bekommen haben, das eigentlich der Öffentlichkeit gehören würde. Da gäbe es ein grosses Potenzial für genossenschaftliches Wohnen. Stattdessen entstehen da nun renditegetriebene Konstrukte, um Pensionskassen und Gehälter zu sanieren. Das ist total daneben. Da müsste zumindest ein Teil der Öffentlichkeit zurückgegeben werden.
Stefan Kurath, 44, ist Architekt mit eigenen Büros in Zürich und Graubünden sowie Professor für Architektur und Städtebau am Institut Urban Landscape an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Er findet: Es braucht den politischen Architekten. Stefan Kurath wohnt zu viert in einer 5,5-Zimmer-Genossenschaftswohnung in Zürich, die 3000 Franken pro Monat kostet.
In der Stadt Zürich hat das Stimmvolk beschlossen, dass der Anteil an gemeinnützigen Wohnungen auf ein Drittel steigen soll. Doch in den ersten vier Jahren nach Annahme der Vorlage ist er gerade einmal um 0,5 Prozent gestiegen. Sind die Möglichkeiten in den Städten ausgeschöpft?
Kurath: In den Städten hängt vieles vom Zugang zu den Grundstücken ab. Da diese aber oft an den Meistbietenden verkauft werden, ist es schon mal vorbei mit kostengünstig. Und wer Land hat, hat dieses meistens schon bebaut. Bei den bestehenden Ausnutzungsreserven ist ein Ersatzneubau oft nicht wirtschaftlich. Das heisst, man müsste die Ausnutzung erhöhen, damit man wirtschaftlich bauen kann.
Frau Schiller, die Schweiz hat die tiefste Eigentumsquote in ganz Europa. Wieso sind wir ein Land von Mietern?
Schiller: Wegen der Bodenpreise. Wer kann sich denn noch eine Eigentumswohnung leisten? Besonders unschön ist zudem, dass nicht nur unsere Mieten, sondern auch unsere Renten über das Pensionskassensystem indirekt von den Bodenpreisen abhängen. Die Pensionskassen müssen Rendite erwirtschaften.
4. Die Sache mit den Pensionskassen
Die Einrichtungen der beruflichen Vorsorge müssen das ihnen anvertraute Geld anlegen und eine Rendite erwirtschaften, um den Versicherten die versprochenen Renten auszahlen zu können. Pensionskassen waren deshalb schon immer wichtige und grosse Investoren.
In den letzten Jahrzehnten ist das von den Pensionskassen verwaltete Vermögen stark gewachsen – unter anderem, weil auch die Bevölkerung zugenommen hat und die Einkommen gestiegen sind. All dieses Geld will angelegt sein. Viele Anlagen – insbesondere Staatsobligationen – rentieren aber zurzeit nicht. Aktien werfen mehr ab, bergen aber auch mehr Risiko.
Daher haben Pensionskassen in den letzten Jahren viel Geld in Immobilien gepumpt – also Boden und Liegenschaften gekauft –, was die Bodenpreise weiter anheizt. Gleichzeitig stehen auch Pensionskassen unter Druck, die Mieteinnahmen so hoch wie möglich zu halten.
Die meisten Pensionskassen haben eine Sollrendite von 2 bis 3 Prozent. Das ist viel – ein individuelles Vorsorgekonto (3. Säule) beispielsweise bringt im Moment nur etwa 0,4 Prozent Zins.
Das Vermögen der Pensionskassen ist in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Es beträgt heute rund 1100 Milliarden, rund 50 Prozent mehr als vor 15 Jahren.
Frau Schiller, was stört Sie daran, wenn Pensionskassen in Immobilien investieren?
Schiller: Als ich anfing, beim Mieterverband Rechtsberatungen zu machen, haben wir den Leuten gesagt: Das Beste ist, wenn du bei der Stadt oder einer Genossenschaft wohnst; und das Zweitbeste ist, wenn du bei einer Pensionskasse wohnst. Denn die Pensionskassen hatten günstige Mieten, gute Verwaltungen, gepflegte Wohnungen. Doch irgendwann hiess es, die Pensionskassen müssten jetzt Rendite machen. Heute sind die Pensionskassen, gemeinsam mit den Immobilienfonds der Banken und Versicherungen, ein Treiber der Mietzinsentwicklung. Und auch davon, dass es so viel Leerstand gibt auf dem Land.
Wenn Pensionskassen Rendite machen, kommt uns das letztlich nicht allen zugute?
Schiller: Man müsste die ganze Altersvorsorge ändern, denn es kann nicht sein, dass unser Rentensystem nur funktioniert, wenn die Pensionskassen Rendite mit Immobilien machen. Ganz krass ist das Beispiel Brunaupark in Zürich, wo ich die Anwältin der Personen bin, denen gekündet wurde: Dort will die CS-Pensionskasse Häuser abreissen, die noch keine 30 Jahre alt, renoviert und in tadellosem Zustand sind. Nun sollen auch ganz viele pensionierte CS-Mitarbeiter dort rausgeschmissen werden, weil die Pensionskasse sich eine höhere Rendite erhofft. Das ergibt weder städtebaulich noch sozialpolitisch noch ökologisch irgendeinen Sinn.
Herr Kurath, wieso entstehen so viele Wohnungen an Orten, an denen man sie nicht braucht, dafür nicht genügend dort, wo man sie braucht?
Kurath: Dass so viel gebaut wird, hat mit dem Zinsumfeld zu tun. Mittlerweile haben wir Negativzinsen, womit der Leerstand keine Rolle mehr spielt – Pensionskassen investieren also lieber in Immobilien, als dass sie den Negativzins zahlen.
Das erklärt den Bauboom. Wie sieht es mit den Standorten aus?
Kurath: Ausserhalb der Zentren sind Baulandverfügungen einfacher und die Bodenpreise günstiger. Dazu kommt das voraussichtliche Bevölkerungswachstum: Wenn wir von einer Prognose von 10 Millionen Einwohnern ausgehen, während wir heute bei 8 Millionen sind, dann denken sich Investoren, dass die Wohnungen schon irgendwann gefüllt werden. Was zudem oft vergessen geht: Der Bauprozess ist verzögert. Bei den Objekten, die heute gebaut werden, wurde der Investitionsentscheid vor fünf Jahren gefällt. Wir werden also noch fünf Jahre lang die Auswirkungen der aktuellen Negativzinsen spüren.
5. Die Sache mit dem Wohnen
Die Wohnkosten sind für die meisten Haushalte der grösste Posten im Haushaltsbudget. Volkswirtschaftlich und gesellschaftlich ist Wohnen also von grösster Bedeutung.
Weil niemand ohne Wohnraum leben kann, kümmern sich gleich drei Artikel in der Bundesverfassung um dieses Thema – so viele wie bei keinem anderen Thema:
Artikel 41 BV schreibt vor, dass sich Bund und Kantone «in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative» dafür einsetzen, dass «Wohnungssuchende für sich und ihre Familie eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden können».
Artikel 108 BV hält fest, dass sich der Bund für die Förderung von Hauseigentum und gemeinnützigem Wohnungsbau einsetzen muss.
Artikel 109 BV deckelt die Renditen, indem der Bund ermächtigt wird, «Vorschriften gegen Missbräuche im Mietwesen» zu erlassen.
Frau Schiller, gibt es ein Recht auf Wohnen?
Schiller: Ja. Zwar gibt es schon Artikel 41 in der Bundesverfassung, der die Sozialrechte festlegt, und dort wird auch das Wohnen erwähnt. Aber das ist nur ein Zielartikel, der nicht konkret ist. Mit einer Ergänzung sollen nun Kantone und Gemeinden die Möglichkeit bekommen, die Situation wirklich zu verbessern.
Welche Bedeutung hat Wohnen?
Schiller: Es hat ganz viel mit Identität zu tun. Wenn jemand lange an einem Ort gewohnt hat und dort wirklich zu Hause ist, ist es ein Schock, wenn er gezwungen wird, anderswo neu anzufangen. In der Stadt Zürich gibt es zurzeit vielerorts Kündigungen, weil im leeren Zustand saniert wird. Und die Leute fallen aus allen Wolken, weil sie denken, dass sie Rechte haben, die sie gar nicht haben.
Ist es moralisch verwerflich, mit Immobilien Geld zu machen?
Schiller: Es ist nicht nur moralisch nicht in Ordnung. Ich würde noch weiter gehen und sagen, es ist generell für einen Staat, für eine Gemeinschaft nicht in Ordnung. Wohnen ist ein Grundrecht.
Herr Kurath, ist Immobilienspekulation verwerflich?
Kurath: Wohnungen sollen nicht einfach der Spekulation dienen, sondern dem Grundrecht auf Wohnen. Heute zahlen aber viele Menschen überteuerte Mieten auf Renditegrundstücken. Die Initiative will offensichtlich ein Grundsatzproblem lösen, das tatsächlich besteht.
Soll man mit Land und Immobilien kein Geld machen dürfen?
Kurath: Natürlich muss der Staat nicht Wohnungen zur Verfügung stellen. Der Markt muss bis zu einem gewissen Punkt spielen, und für den Aufwand brauchen Investoren eine Gegenleistung. Schwierig wird es dort, wo masslos übertrieben wird, weil der Markt sich nicht mehr selber regulieren kann – wie beispielsweise in der Stadt Zürich, wo man teilweise für miserable Wohnungen enorme Summen aufwerfen muss. Schwierig wird es auch dort, wo die sehr teuren Wohnungen reines Betongold sind und die Besitzer sie leer stehen lassen. Die öffentliche Hand steht in der Verantwortung, Gegensteuer zu geben.
Herr Sollberger, gibt es ein Recht darauf, in einem beliebten Zentrum zu wohnen?
Sollberger: Es kann nicht jeder im Zentrum leben. Aber jede Person soll dort leben können, wo ihr Lebensmittelpunkt liegt. Die Segregationsentwicklungen, die wir zum Beispiel in Bern sehen, dass Leute aus den traditionellen Stadtquartieren nach Flamatt oder Münchenbuchsee verdrängt werden und dann in die Stadt pendeln müssen, das ist keine gute Entwicklung.
Frau Schiller, kann man Mietern nicht zumuten, an einen Ort zu ziehen, wo es günstigere Wohnungen gibt?
Schiller: Wenn ich mit einer 70-jährigen Frau, die aus ihrer Wohnung geworfen wird, zur Schlichtungsbehörde gehe, dann sagen ihr die Anwälte der Hauseigentümer das, was jetzt die Gegner der Initiative sagen: Sie können ja in den Aargau ziehen, es gibt keinen Grund, wieso Sie hier bleiben müssen. Es gibt kein Recht, in Zürich zu wohnen. Aber für diese Frau ist das eine Entwurzelung.
Herr Kurath, ist Gentrifizierung immer schlecht?
Kurath: Gentrifizierung ist eine Folge der Abwertung der Bausubstanz: Wenn etwas alt wird, kommt es irgendwann zum Ersatz, und dann gibt es eine Veränderung.
Gentrifizierung lässt sich also gar nicht verhindern?
Kurath: Wenn irgendwo ein Stadtteil neu gemacht wird, veraltet das Quartier nebenan. Und wenn dieses erneuert wird, ist bereits das andere wieder alt. Blickt man aus einer Perspektive von rund 100 Jahren auf den Prozess, sprechen wir nicht nur von Verdrängung. Irgendwann kommen diejenigen wieder zurück, die wegziehen mussten.
Also eher ein Kreislauf.
Kurath: Genau. Wichtig ist aber, dass das Ganze sozial verträglich geschieht. Und hier wäre die öffentliche Hand gefragt, um die Effekte abzufedern.
Wie denn?
Kurath: Alte Bausubstanz kann günstig vermietet werden. Die könnte man teilweise stehen lassen. Man sollte nicht flächendeckend ganze Quartiere erneuern, sondern sich Strategien überlegen, wie man mit Teilsanierungen und Teilersatz arbeiten kann. Das würde gleichzeitig die Wohnangebote stärker durchmischen.
6. Die Sache mit den Genossenschaften
Im 19. Jahrhundert kam es zu einem regelrechten Gründerboom – damals entstanden auch die ersten Wohnbaugenossenschaften. Zu Gründungswellen kam es wegen der Wohnungsnot nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, vor allem in den Städten.
Genossenschaften funktionieren nach dem Prinzip «Hilfe durch Selbsthilfe». Sie orientieren sich oft an Werten wie Selbstverantwortung, Partizipation und Gerechtigkeit und verlangen von ihren Bewohnern lediglich eine kostendeckende Miete. Im Wohnungsbau gelten sie zwischen Eigentum und Miete als «der dritte Weg».
Der Bau von Genossenschaftswohnungen ist ein Weg, um das Geschäft mit dem knappen Boden zu dämpfen: Damit werden Grundstücke dem Markt entzogen, und Bewohner müssen lediglich eine kostendeckende Miete zahlen.
In der Schweiz gibt es rund 2000 gemeinnützige Bauträger, zu denen Genossenschaften, aber auch Stiftungen und Vereine gehören. Diese besitzen rund 185’000 Wohnungen. Ihr Anteil stagniert bei ungefähr 5 Prozent aller Haushalte.
Ihre Verteilung ist sehr ungleich: In den grossen Kernstädten ist ihr Anteil um den Faktor zehn grösser als auf dem Land.
Der Bund betreibt den sogenannten «Fonds de Roulement» («Umlauffonds»), aus dem er gemeinnützigen Wohnbauträgern zinsgünstige Darlehen gewähren kann. Seit 2003 wurden damit jährlich rund 1500 preisgünstige Wohnungen unterstützt.
Genossenschaftliches Wohnen verbraucht nur 75 Prozent des Bodens, den konventionelle Mietwohnungen brauchen, und nur 40 Prozent im Vergleich zu Wohneigentum.
Eine 3-Zimmer-Wohnung auf dem freien Markt kostet im Schnitt 16,5 Prozent mehr als eine vergleichbare Wohnung in einer Genossenschaft. In überhitzten Zentren und Regionen beträgt der Unterschied 26 Prozent.
Frau Schiller, warum wollen in den Städten alle in Genossenschaften wohnen?
Schiller: Wegen der tieferen Mietzinsen, aber auch wegen der Wohnform. Viele Genossenschaften haben architektonisch sehr schöne Siedlungen. Zwar müssen sie auch verdichten und höher bauen, aber bei Erneuerungsbauten verzichten sie auf einen Teil der Ausnützung und planen dafür mehr Luft und Grünraum ein. Zudem ist gemeinschaftliches Wohnen sehr attraktiv.
Herr Sollberger, was bringen Genossenschaften auf dem Land?
Sollberger: Auch auf dem Land gibt es das Bedürfnis nach gemeinnützigem Wohnungsbau, vor allem weil es eine Nachfrage nach gemeinschaftlichem Wohnen gibt. Und das ist förderungswürdig, weil es auch Zusammenhalt in der Gesellschaft gibt. In Langnau kommt jetzt ein Projekt zustande, ein Mehrgenerationenhaus. Das ist mit den heutigen Instrumenten gerade so machbar, auch dank der Unterstützung der Gemeinde, die das Land dafür gesichert hat. Aber die 20 Leute hätten sich den Marktpreis für den Boden nicht leisten können. Es geht um gemeinsame Selbsthilfe und darum, neue Wohnformen zu ermöglichen.
Herr Kurath, warum entstehen so wenig Räume für neue Wohnformen?
Mehrgenerationen-Wohnen oder Wohnen mit geteilter Kinderbetreuung?
Kurath: Man hört viel von Genossenschaften, die solche neuen Wege gehen. Aber letztlich ist es nur ein ganz kleiner Teil, der solche Experimente wagt. Der grosse Rest der Genossenschaften ist konventionell bis ziemlich konservativ.
Wieso?
Kurath: Genossenschaften wollen vor allem Wohnraum zur Kostenmiete anbieten. Und zwar nicht unbedingt aus sozialen Gründen, sondern eher aus Eigennutz für die Genossenschafter. Entsprechend wohnen dort Durchschnittsmenschen, die in der Regel auch durchschnittlich wohnen wollen.
Sollen Reiche in Genossenschaften wohnen dürfen?
Kurath: Das ist bis zu einem gewissen Grad sogar gut aus Sicht der Durchmischung. Genossenschaften sollen keine Ghettos sein. Zudem ist es in der Regel auch nicht ganz günstig, sich in eine Genossenschaft einzukaufen.
Das hat auch etwas Exklusives.
Kurath: Ich wohne selber in einer Genossenschaft, und ich habe einfach keine Lust, pro Zimmer noch ein paar hundert Franken Rendite oben draufzulegen, damit ein anderer sich ein schönes Leben machen kann.
Herr Egloff, sollen Gutverdienende in Genossenschaftswohnungen wohnen dürfen?
Egloff: Wir müssen dafür sorgen, dass nur Leute in Genossenschaftswohnungen sind, bei denen ein Bedürfnis ausgewiesen ist. Heute gehören 25 Prozent der Leute in den Genossenschaftswohnungen zu den 40 Prozent der einkommensstärksten Haushalte in der Schweiz.
Herr Sollberger, profitieren die Falschen von günstigem Wohnraum?
Sollberger: Die Zahl stimmt vielleicht über alle Genossenschaften gesehen, bei den Gemeinnützigen ist es aber nicht so. Dort wohnen die Richtigen.
Egloff: Kann jemand günstiger Bauland kaufen oder erhält reduzierte Baurechtszinsen oder ein vergünstigtes Darlehen, dann zahlt das immer der Steuerzahler. Ein solcher Anbieter sollte verpflichtet sein, dafür zu sorgen, dass nicht – plakativ gesagt – Reiche in diesen Wohnungen wohnen.
Sollberger: Bei gemeinnützigen Wohnungen gibt es klare Belegungsvorschriften. Aber auch eine Gymilehrerin ist eine durchaus willkommene Genossenschafterin. Denn es geht auch um vielfältiges soziales Zusammenleben.
Egloff: Bei 27 Prozent Anteil Genossenschaften in der Stadt Zürich muss man doch auch die andere Sicht einnehmen. Da heisst es, nur noch die Reichen könnten in der Stadt wohnen, und jetzt nehmen die Genossenschaften auch Reiche auf? Entschuldigung, genau dafür sind sie eben nicht da!
Hans Egloff, 60, ist Rechtsanwalt sowie Präsident des Hauseigentümerverbands der Schweiz und des Kantons Zürich. Er ist Mitglied der SVP, für die er von 1995 bis 2011 im Zürcher Kantonsrat sass, von 2011 bis 2019 im Nationalrat. Hans Egloff wohnt in Aesch ZH im ehemaligen Einfamilienhaus seiner Eltern, das heute ihm gehört. Es stammt aus den Siebzigerjahren, die Bausubstanz sei «lausig», sagt Egloff, man müsse es bald energietechnisch sanieren.
Herr Kurath, wie wichtig ist Durchmischung?
Kurath: Den negativen Effekt hat man bei den Wohnbauprogrammen aus der Nachkriegszeit erlebt. Unter anderem wegen der Landflucht musste man damals viel Massenwohnraum erstellen, meistens günstig. So entsteht eine Segregation innerhalb der Stadt, im Extremfall eine Ghettobildung.
Wenn es aus städteplanerischer Sicht Allgemeinwissen ist, dass Durchmischung wichtig ist, wieso wird sie dann so wenig gewichtet?
Kurath: Weil der Markt leider mehr Wirkung hat als das Wissen der Stadtplaner.
Gegner der Initiative sagen, wer keinen bezahlbaren Wohnraum findet, muss halt an einen weniger beliebten Ort ziehen.
Kurath: Dass das zu einer Segregation führen würde, ist nur ein Aspekt. Es ist auch ein volkswirtschaftlicher und ökologischer Blödsinn, weil sich dadurch die Pendeldistanzen vergrössern. Das führt zu mehr Mobilität, mehr Infrastruktur muss gebaut werden, was wiederum mehr Kosten für die Allgemeinheit bedeutet. Rechnet man zusätzlich die Zeit fürs Pendeln und die Kosten fürs Zugbillett oder das Auto mit ein, ist der tiefere Mietzins wieder aufgehoben. Diese Perspektive ist also sehr kurzfristig. Und dazu unsozial und egoistisch.
Herr Egloff, ist Durchmischung nicht wichtig?
Egloff: Doch. Aber innerhalb der Städte, nicht der Genossenschaften. Dort soll es strenge und klare Belegungsvorschriften geben. Und bei jenen, die in gemeinnützigen Wohnungen leben, sollen die auch durchgesetzt werden.
Sollberger: Da sind wir uns einig. Bei Neu- und Wiedervermietungen öffentlich geförderter Wohnungen soll es Belegungsvorschriften geben.
Herr Kurath, sollen Genossenschaften stärker gefördert werden?
Kurath: Die Förderung der Genossenschaften ist ein Weg, wie man zu kostengünstigen Wohnungen kommt, aber nicht der einzige. Genossenschaften sind nicht die Lösung aller Probleme.