Wie stark sind die Mieten gestiegen?
Es kommt darauf an, wie man misst – und wen man fragt.
Von Simon Schmid, 27.01.2020
Mieten wird immer teurer – bezahlbarer Wohnraum wird rar. So lautet eine der Klagen, die zur Initiative für bezahlbaren Wohnraum führen, über die am 9. Februar abgestimmt wird.
Ist die Klage berechtigt?
Um dies zu überprüfen, nehmen wir in diesem Beitrag einige einschlägige Datenreihen unter die Lupe. Und analysieren, worauf man achten muss, wenn man sich ein Urteil über die Mietpreisentwicklung bilden will.
Die Ausgangsgrafik
Wir starten mit einer Quelle, die in den Medien, aber auch in der Fachwelt sehr oft verwendet wird: dem Angebotspreisindex von Wüest Partner.
Dieser Index bildet den Verlauf der Mietpreise über die Zeit ab – und zwar von Wohnungen, die sich gerade auf dem Markt befinden, also zur Miete ausgeschrieben sind. Setzt man den Index-Startwert fürs Jahr 2000 auf den Wert 100, so ergibt sich für die darauffolgenden 19 Jahre das folgende Bild:
Die Linie verläuft zunächst steil nach oben. 2015 kommt es dann zur Trendwende – die Mieten beginnen wieder zu sinken. Aktuell steht der Index bei 145 Punkten, also 45 Prozent über dem Ausgangsniveau.
Trotz leichter Korrektur beobachten wir insgesamt eine bedeutende Zunahme. Da die Indizes von Wüest Partner eine verlässliche Quelle sind – sie beruhen auf über 500’000 erfassten Immobilienangeboten pro Jahr –, scheint die These somit bestätigt: Mieten ist massiv teurer geworden.
Bevor wir die Sache abhaken, stellen wir jedoch ein paar weitere Fragen.
1. Wurde die Teuerung herausgerechnet?
Mietpreisindizes werden, wie viele andere ökonomische Datenreihen auch, üblicherweise in nominalen Einheiten angegeben: Die Inflation ist darin nicht berücksichtigt. Gerade über längere Zeiträume, während deren das generelle Preisniveau schwankt, ergeben sich dadurch jedoch Verzerrungen.
Um wirklich zu erfahren, wie stark die Mieten gestiegen sind, sollten wir deshalb als Erstes die Teuerung aus den Zahlen herausrechnen – anhand des gängigsten Teuerungsmasses, des Landesindex der Konsumentenpreise.
Die Inflationsbereinigung drückt die Linie sukzessive nach unten. Am Ende ergibt sich eine Korrektur um rund ein Viertel: Statt bei einem Indexwert von 145 landen wir bei 133 Punkten, also bei einer Zunahme um 33 Prozent.
Auch das ist ein bedeutender Anstieg. Doch unsere Analyse ist damit noch nicht fertig. Es bleiben weitere Fragen – zum Beispiel zum Zeithorizont.
2. Seit wann betrachten wir die Daten?
Zeitreihen darzustellen, hat etwas Willkürliches. Man wählt ein Startdatum, weil die Daten entweder per Zufall bis dahin zurückreichen oder weil sich eine runde Zahl – wie zum Beispiel das Jahr 2000 – am besten anbietet.
Je nach Zeitabschnitt kann die Aussage einer Grafik jedoch stark variieren. Warum, das zeigt die folgende Darstellung. Auf ihr ist dieselbe Datenreihe wie oben abgebildet – allerdings weiter zurückgehend: bis ins Jahr 1970.
Unser vorheriger Startpunkt – das Jahr 2000 – entpuppt sich auf dieser Grafik als ein ziemlich ungünstiges Datum. Genau zur Jahrtausendwende hatten die Mieten ihren Tiefpunkt erreicht: Während einer längeren Phase zuvor – der Immobilienblase der 1980er- und 1990er-Jahre – waren Mietwohnungen in der Schweiz noch zu bedeutend höheren Preisen ausgeschrieben worden.
Um den Mietpreisanstieg der vergangenen Jahre einzuordnen, erscheint es deshalb als wenig sinnvoll, ausgerechnet das Jahr 2000 als Basis zu wählen. Besser wäre, die Zeitreihe anhand des langjährigen Index-Durchschnitts zu eichen.
Tut man dies, so rutscht die ganze Kurve ein Stück nach unten. Und es zeigt sich, dass der neue Gleichgewichtswert von 100 Punkten nicht im Jahr 2000 erreicht wurde – sondern zwischen den Jahren 2008 und 2009. Gemessen an diesem Stichdatum liegen die Mietpreise momentan bei 111 Indexpunkten.
Die Angebotsmieten liegen zurzeit also 11 Prozent über dem langjährigen Schnitt. Damit relativiert sich das Bild vom überhitzten Mietmarkt weiter.
Doch auch mit dieser neuen Aussage ist die Sache nicht erledigt. Denn um ein realistisches Bild zu zeichnen, müssen wir zusätzlich differenzieren.
3. Um welche Mieten geht es überhaupt?
In der Immobilienbranche unterscheidet man zwischen zwei Typen von Mietpreisen. Einerseits gibt es die Angebotspreise. Das sind die Preise, die wir bis jetzt betrachtet haben: jene in den Inseraten für Wohnungen. Praktisch identisch damit sind die sogenannten Transaktionspreise. Sie stehen in den Mietverträgen, die in einem bestimmten Zeitraum (zum Beispiel dem zweiten Halbjahr 2019) neu geschlossen werden.
Andererseits gibt es die Bestandesmieten. Das sind die Preise sämtlicher Wohnungen, die zu diesem Zeitpunkt vermietet waren. Nicht nur die neuen, sondern auch die langjährigen Mietverhältnisse sind darin berücksichtigt.
Die Bestandesmieten sind in aller Regel tiefer als die Angebotsmieten. Denn bei einem Mieterwechsel oder einer Renovation liegt der Mietzins oft höher als zuvor. Die Differenz liegt je nach Region zwischen 10 und 80 Prozent.
Um zu untersuchen, was dies insgesamt ausmacht, kehren wir zu unserer Grafik ab der Jahrtausendwende zurück. Und zeichnen darauf nebst den Angebotsmieten von Wüest Partner eine zweite Datenreihe zu den Bestandesmieten ein: den Mietpreisindex des Bundesamts für Statistik.
Die beiden Datenreihen erzählen zwei unterschiedliche Geschichten. Wir erkennen einerseits, wie die Angebotsmieten, die in Inseraten oder auf Webportalen erscheinen, eine Zeit lang überbordet sind. Und wir sehen andererseits, wie die Bestandesmieten nach und nach mitzogen: bis auf das Indexniveau von knapp 118 Punkten, das vor drei Jahren erreicht wurde.
So weit, so gut. Ist plus 18 Prozent also unsere definitive Zahl? Nicht ganz.
4. Wie gut ist die Datenqualität?
Mit dem BFS-Mietpreisindex gibt es ein Problem: Er basiert auf einer Stichprobe von nur 10’000 Wohnungen. Davon wird ein Achtel vierteljährlich erneuert, was methodische Schwierigkeiten mit sich bringt.
Die Statistikerinnen müssen aufpassen, dass sie Äpfel nicht mit Birnen gleichsetzen, sprich, dass sie nebst der Preisänderung auch die Qualität vergleichen. Ein modernes Appartement im Zentrum ist nicht dasselbe wie eines im Altbau am Ortsrand, auch wenn beide Wohnungen drei Zimmer haben. Zudem steigt der Ausbaustandard: Neuere Wohnungen sind meist besser gedämmt, haben bessere Fenster oder hochwertigere Küchen.
Der BFS-Index tendiert deshalb dazu, die Preisentwicklung zu überschätzen. Möglicherweise sogar deutlich, wie ein Vergleich mit einer anderen Quelle zeigt: dem sogenannten Netto Rent Index des Immobiliendienstleisters IAZI, der anhand von mehreren hunderttausend Mietverträgen geschätzt wird.
Gemäss dem IAZI-Index sind die Bestandesmieten von 2000 bis 2019 nicht um 18 Prozent gestiegen, so wie es die BFS-Zahlen besagen, sondern nur um 10 Prozent (Stand 2018). Und bei genauem Hinsehen offenbart sich noch ein weiterer Unterschied: Die IAZI-Zahlen schwanken einen Tick stärker.
Das weist auf ein weiteres Phänomen hin, das wir berücksichtigen müssen.
5. Nochmals: Um welche Mieten geht es?
Und zwar auf das hiesige Mietrecht. Dieses erlaubt im Allgemeinen nicht, dass Vermieter den Mietzins erhöhen – es sei denn, es steigt der sogenannte Referenzzinssatz, eine aus Hypotheken abgeleitete Richtgrösse. Umgekehrt können Mieter bei sinkendem Referenzzins eine Mietzinssenkung verlangen. 2008 lag der Referenzzins noch bei 3,5 Prozent; aktuell beträgt er 1,5 Prozent.
Das Mietrecht führt so zu ruckartigen Veränderungen: Immer dann, wenn der Referenzzins um einen Viertelprozentpunkt sinkt – wie zuletzt etwa im März 2017 –, setzen viele Mieter auf einmal eine Mietzinssenkung durch.
Wer lange in einer Wohnung bleibt, kann viele dieser Senkungen beantragen. Und profitiert mit der Zeit immer stärker davon. Wie stark, zeigt die folgende Grafik. Auf ihr ist eine zweite IAZI-Datenreihe namens Rent Fidelity Index abgebildet. Anders als die vorherige Reihe werden darin nur bestehende Mietverhältnisse fortgeschrieben. Neue Verhältnisse bleiben aussen vor.
Der Altbestand-Index lag Ende 2018 bei 84 Zählern. Das bedeutet, dass Mieter, die seit dem Jahr 2000 ohne Unterbruch in derselben Wohnung lebten, im Schnitt eine reale Mietzinsreduktion von 14 Prozent erfuhren.
Die Schweiz und ihre Mietpreis-Hotspots
Wo die Mieten explodiert sind und sich vom Rest des Landes abgekoppelt haben, zeigt unsere interaktive Schweizer Karte.
Die Gesamtschau
Wie stark sind die Mieten gestiegen? Wie bezahlbar ist Wohnraum?
Je nachdem, wie man es misst – und vor allem: welche Gruppe von Mietern man betrachtet –, kommt man also zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
Betrachtet man nur die neuen Mietverhältnisse, so offenbart sich eine krasse Steigerung. Betrachtet man nur die bestehenden Verhältnisse, zeigt sich eine Senkung, die – wenn man die reale Lohnentwicklung seit dem Jahr 2000 mit einem Plus von 13 Prozent als Massstab nimmt – sogar noch krasser ausfällt.
Dass Mieter über 19 Jahre hinweg ohne jegliche Anpassung in derselben Wohnung leben, kommt in der Praxis natürlich selten vor. Noch seltener ist, dass Leute dauernd die Wohnung wechseln – jedes Jahr, während 19 Jahren.
Die Wahrheit liegt somit irgendwo in der Mitte. Ja: Die Mieten sind für die meisten Menschen gestiegen. Doch die Steigerung liegt bestenfalls leicht über dem Anstieg, den gleichzeitig die Löhne erfuhren – jedenfalls seit 2000.
Über den Nutzen der Volksinitiative ist damit noch nichts gesagt.
Achten Sie bitte bloss darauf, dass Sie in Diskussionen darüber die richtigen Zahlen im richtigen Kontext nennen.
Der Mietpreisindex wird vom BFS berechnet. Die Angaben beziehen sich auf den monatlichen Netto-Mietzins (ohne Heiz- und Nebenkosten). Die Werte für die Jahre 1990 bis 2000 beruhen auf den Resultaten der Volkszählungen dieser Jahre. 2003 wurde zusätzlich eine separate Mietpreisstrukturerhebung durchgeführt, seither werden die Daten vierteljährlich mit einer Stichprobe fortgeschrieben. Der Mietpreisindex beinhaltet Mieten aus langjährigen Verträgen sowie Neumieten.
Das Beratungsbüro Wüest Partner verfügt über eine Datengrundlage, die bis 1970 zurückgeht. Sie entstand aus einem Auftrag der SNB und umfasst inzwischen über 500’000 Immobilienangebote, wobei ein Teil davon für die Miete und ein Teil zum Kauf ist. Für die Indexbildung werden die Preise von Wohnungen anhand von verschiedenen Eigenschaften (Grösse, Standort, Zustand etc.) verglichen.
Die Bestandesmietmodelle von IAZI basieren auf mehreren hunderttausend bestehenden Mietverträgen von grossen Schweizer Immobilienportfolios. Neben den Mieten werden weiter Eigenschaften der Wohnungen erfasst, etwa die Dauer der Vermietung, die Flächen der Objekte etc. Die diversen Daten werden mit einem ähnlichen Verfahren wie bei Wüest Partner und auch beim Bundesamt für Statistik zu einem sogenannten hedonischen Modell zusammengefügt.
Die Zeitreihen wurden von den Büros auf Anfrage zur Verfügung gestellt. Die Inflationskorrektur erfolgte anhand des Landesindex der Konsumentenpreise. Ergänzend kam der Lohnindex des Bundesamts für Statistik zum Einsatz.