Die Macht der Toten
In der Schweiz werden jährlich 95 Milliarden Franken vererbt – Tendenz steigend. Wie verändert das eine Gesellschaft, die immer noch behauptet, Leistung lohne sich?
Von Elia Blülle (Text) und Adam Higton (Illustration), 24.01.2020
«Es gibt zwei Wege, wie man reich werden kann», schrieb der französische Starökonom Thomas Piketty: «Entweder durch eigene Leistung oder durch eine Erbschaft.» Damit leitete er vor neun Jahren seine wissenschaftliche Publikation zur langfristigen Entwicklung von Erbschaften in Frankreich ein. So banal der Einstieg war, so bahnbrechend waren seine Erkenntnisse.
Piketty hat mit seiner Studie bewiesen, dass vererbte Vermögen wieder massiv ansteigen, die volkswirtschaftliche Bedeutung des feudalen 19. Jahrhunderts erlangen und sich die Vermögensverteilung stark konzentrieren könnte. Dafür macht er mitverantwortlich: die Babyboomer.
Als sie in den 1950er- und 1960er-Jahren auf die Welt kamen, wurden überall in den industrialisierten Ländern Wohnblöcke hochgezogen, gebaut mit viel Beton, Asbest und wenig Charme – dafür bewohnt von Menschen, die sich daran gewöhnt hatten, dass die Welt Jahr für Jahr besser wurde. Betört von der Hoffnung dieser Zeit, stellten die Menschen aber nicht nur grauenhafte Architektur in die Welt, sondern auch so viele Kinder wie nie zuvor und seither nie wieder.
Heute sind die Babyboomer eine Macht: Sie kontrollieren mit ihrer Masse Privatwirtschaft und Politik und sind mit Abstand die reichste Alterskohorte, die je den Fuss auf unseren Planeten gesetzt hat.
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Wenn die durchschnittliche Lebenserwartung stagniert und die Pharmabranche nicht noch per Zufall ein Mittel entdeckt, das ewiges Leben bringt, haben sie konservativ gerechnet noch etwa 30 bis 40 Jahre zu leben, bevor sie sterben und Hunderte Milliarden von Schweizer Franken an ihre Kinder vermachen – und so unser Zusammenleben dramatisch verändern.
Die Babyboomer und ihre Geldflut
Das Schicksal einer Person wurde in der Vergangenheit an so gut wie allen Orten der Welt mit ihrer Geburt bestimmt. «Der Sohn eines Aristokraten wurde ein Aristokrat», bemerkte die Harvard-Historikerin Claudia Goldin, «und der Sohn eines armen Arbeiters wurde ein armer Arbeiter.»
Diese Gewissheit behielt bis tief ins 20. Jahrhundert ihre Gültigkeit. In Aristokratien und patriarchalen Systemen übertrugen Väter die Finanzen an ihre Söhne und reproduzierten so bestehende Gesellschaftsverhältnisse. Wer sozial aufsteigen wollte, musste nicht leisten, sondern heiraten – oder in die richtige Familie geboren werden: der einzige Weg zu Reichtum und Wohlstand.
Das änderte sich mit den Weltkriegen. Nichts zerschlägt Vermögenskonzentration so effizient wie Tod, Gewalt und Zerstörung, schreibt der österreichische Historiker Walter Scheidel von der Uni Stanford. Er zeichnet in seinem Buch «Nach dem Krieg sind alle gleich» nach, wie die Weltkriege das Kapital der Elite vernichteten und so die extrem ungleiche Belle-Époque-Gesellschaft überwunden werden konnte. Ohne die beiden Weltkriege, so Scheidel, hätten sich die Mittelstandsgesellschaften niemals so blühend entwickeln können.
Etwas anders argumentiert Thomas Piketty. Er behauptet, dass weniger die Gewalt für die gleichmässigere Vermögensverteilung verantwortlich war als vielmehr die politischen Entscheide dieser Zeit. Also die Schaffung von Preiskontrollen, Mietpreisbindungen und Sozialsystemen und vor allem die massiven Steuererhöhungen.
So oder so: Die Nachkriegsjahre waren ein Triumph der Meritokratie. Wer leistete (und ein Mann war), verdiente gut; harte Arbeit zahlte sich aus. Und in der Folge nahm auch die volkswirtschaftliche Bedeutung von Schenkungen und Erbschaften drastisch ab.
Der Familiennachlass spielte fortan im kriegsgebeutelten Frankreich und in Grossbritannien nur noch eine untergeordnete Rolle – und auch in der Schweiz waren ähnliche Entwicklungen zu beobachten, wenn auch weniger drastisch. Das zeigt eine aktuelle Studie des Lausanner Wirtschaftsprofessors Marius Brülhart. Seine Datenreihen beweisen, dass hierzulande die Erbschaften im Verhältnis zum Volkseinkommen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 bis in die 1970er-Jahre stets gesunken sind.
Doch wie bereits Piketty für Frankreich stellte Brülhart auch für die Schweiz fest, dass Erbschaften wieder ein erstaunliches Comeback feiern. Er schätzt, dass sich in den vergangenen 15 Jahren der Betrag vererbter Vermögen verdoppelt hat. Trugen Erbschaften und Schenkungen in den 1980er-Jahren nur 5 Prozent zum Volkseinkommen bei, waren es 2019 bereits 17 Prozent – Tendenz steigend. Pro Jahr werden heute in der Schweiz schätzungsweise rund 95 Milliarden Franken vererbt. So viel Geld, wie der Bund in der gleichen Zeit für die Finanzierung all seiner Sozialversicherungen eintreibt.
Und diese Entwicklung hat gerade erst begonnen: Die Babyboomer dürften die volkswirtschaftliche Bedeutung von Erbschaften mit ihrer demografischen Überlegenheit und ihrem Reichtum noch einmal deutlich verstärken; sie werden ihre Kinder mit Vermögen überfluten.
Was bedeutet das?
Okay, Boomer!
Der Duden schreibt, das Wort «emanzipieren» stamme vom lateinischen Verb emancipare, zu Deutsch: «einen erwachsenen Sohn oder einen Sklaven aus der väterlichen Gewalt in die Selbstständigkeit entlassen».
Heute ist die Sklaverei erfreulicherweise fast überall auf der Welt verboten. Aber anders als früher emanzipieren sich Kinder in reichen Ländern immer später von ihren Eltern. Der «Generationenbericht Schweiz» – ein gross angelegtes Forschungsprojekt des Nationalfonds – kam 2008 zum Schluss, dass sich der Ablösungsprozess des Nachwuchses verzögere: Viele Menschen mittleren Alters würden ihre Kinder auch nach dem Auszug weiterhin in substanzieller Weise finanziell unterstützen.
Im selben Bericht halten die Autoren fest, dass die sozioökonomische Bedeutung von Erbschaften und die Auswirkungen auf kommende Generationen vor allem damit zusammenhängen, wie viel Kapital die erbende Generation – also die Kinder – selber anhäufen konnte: Wenn viele Menschen aus eigener Kraft ein Vermögen aufbauen können, wirken sich grosse Erbschaften nur geringfügig auf die Volkswirtschaft aus.
Wie steht es also um die Finanzen der Post-Babyboomer?
Im Herbst 2019 ging ein Video viral, das einen weisshaarigen Amerikaner mit Poloshirt, Baseballcap und rotem Gesicht zeigt, der wutentbrannt über die mehrheitlich minderjährigen User herzieht, die sich auf der Social-Media-Plattform Tiktok tummeln. Die Millennials und Generation Z, wetterte er, hätten ein Peter-Pan-Syndrom: «Sie wollen einfach nicht erwachsen werden!»
Tausende Teenager schlugen in Kommentaren, Memes und ebensolchen TikTok-Videos mit einer bestechend simplen Antwort zurück, die über die letzten Monate in die Jugendsprache Eingang gefunden hat: «Okay, Boomer.»
Die Jury, die «Okay, Boomer» bei der Wahl zum «Deutschschweizer Wort des Jahres 2019» auf den zweiten Platz gesetzt hat, schrieb in der Mitteilung, «Okay, Boomer» sei die Antwort darauf, wenn sich eine Person aus der Babyboomer-Generation abwertend und herablassend über eine jüngere Person äussere.
So heisst es oft, die Millennials seien naive, spiessige Latte-macchiato-Hipster, die sich mit ihren utopischen Träumen die Zukunft verbauen.
Aber die Realität – sie ist komplizierter.
Vergangenheit schluckt Zukunft
In einer Studie von 2017 bemerkt der Internationale Währungsfonds, dass die Millennials – die nach 1980 Geborenen – in den entwickelten Industriestaaten ihr Berufsleben während der schlimmsten globalen Rezession seit der Grossen Depression begonnen hatten. Und dass sie dadurch heute mit einer ganzen Reihe von Risiken zu kämpfen haben: unsichere Einkommen, unsichere Jobs, unsichere Altersvorsorge, unsicheres Leben.
In ihrem Essay «How Millennials Became the Burnout Generation» zeichnet die junge amerikanische Journalistin Anne Helen Petersen das Bild einer Generation, die von ihrer Arbeit nicht mehr profitiert, sondern deren einziger Wert darin bestehe, auszubrennen. Petersen schliesst ihren Text mit dem Verweis auf das gängige Stereotyp, dass Millennials keine naiven Teenager mehr seien, «sondern verdammt noch mal erwachsen», und ihre Probleme seien nicht eine vorübergehende Phase, sondern systemisch.
Mit dem Ölschock von 1973 hat die politische und wirtschaftliche Unsicherheit wieder zugenommen; die Löhne steigen seither nicht mehr relativ zur Produktivität wie bisher, sondern stagnieren, während die Lebenskosten fortlaufend zunahmen.
Das traf vor allem die nach 1980 Geborenen hart – also die Millennials.
Die Lohnlücke zwischen Jung und Alt liegt heute auf einem historischen Hoch. Die Mieten sind vielerorts so rasch gestiegen, dass junge Menschen immer später ihr Elternhaus verlassen. Seit den Nachkriegsboom-Jahren steigen die Vermögen relativ zu den Lohneinkommen; die Konzentration nimmt zu: Die reichsten zehn Bevölkerungsprozente besitzen in der Schweiz drei Viertel des Gesamtvermögens, und im Durchschnitt haben Millennials in den entwickelten Industrienationen ein 40 Prozent geringeres Vermögen als die Babyboomer zu ihrer Zeit.
Und es droht eine weitere Zusatzbelastung: In den nächsten zehn Jahren werden gemäss einer Studie der Credit Suisse rund 1,1 Millionen Menschen in Rente gehen – also ungefähr ein Achtel der ständigen Wohnbevölkerung.
Die Masse von frisch pensionierten Babyboomern droht das Schweizer Vorsorgesystem in den Kollaps zu treiben. Damit dies nicht passiert, will die neuste Rentenreform künftig jährlich 7 bis 8 Milliarden Franken an Steuern und Lohnabzügen zusätzlich in die AHV pumpen – und später noch mehr.
Die Vorlage zeigt, dass die Babyboomer nicht nur über finanzielle, sondern auch über politische Macht verfügen. Im Nationalrat sind die 50- bis 59-Jährigen mit 74 von 200 Ratsmitgliedern die am besten repräsentierte Altersgruppe; sie würde von der Reform am stärksten profitieren.
«Meine Kinder werden es mal besser haben» – das Versprechen, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde, hat seit den 1980er-Jahren seine Gültigkeit zumindest in finanzieller Hinsicht endgültig verloren: Die Millennials gehören der ersten Generation an, die schlechter gestellt ist als die vorherige. Das gab es vorher noch nie.
Doch die Babyboomer leben nicht ewig. Was passiert, wenn sie sterben?
Reiche Tote vermachen ihr Geld an reiche alte Menschen
Ihr Erspartes wird dank der soliden Altersvorsorge bis zum Tod erhalten bleiben, und dank der zunehmenden Lebensdauer sind sie zum Zeitpunkt ihres Todes reicher als frühere Generationen. Da ihre Kinder bisher deutlich weniger Geld ansparen konnten und sich die Altersvorsorge aufzuhängen droht, dürften Erbschaften oder Schenkungen jüngeren Alterskohorten als willkommenes Sicherheitsnetz dienen – und eine ganze Generation auch nach der Volljährigkeit in die elterliche Abhängigkeit zwingen.
«Die Millennials», sagte der britische Sozialwissenschaftler Danny Dorling, «wachsen auf mit einem finanziellen Interesse am frühen Tod ihrer Eltern.»
Das bringt Kinder wie Eltern in eine unangenehme Lage. Vor allem deshalb, weil junge Familien aus eigener Kraft keine Hypothek aufnehmen können, sind sie auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen; in der Schweiz sind die Immobilienpreise explodiert. Die Statistiken zeigen, dass hierzulande die Immobilienbesitzer immer älter werden: Am meisten Häuser und Wohnungen gehören Menschen, die zwischen 66 und 75 Jahre alt sind.
Lediglich 10 Prozent der Mieterhaushalte verfügen über das nötige Eigenkapital, um sich die eigenen vier Wände zu leisten. Gegenüber der «NZZ am Sonntag» sagte die Leiterin für Immobilienanalyse der Zürcher Kantonalbank: «Wir stellen fest, dass die Elterngeneration immer öfter bei der Finanzierung mithilft.»
Das heisst, die Eltern-Kind-Beziehung bestimmt weit über das Kindesalter hinaus das Glück der Nachkommen. Kommt hinzu: Die wenigsten Menschen erben vor ihrem 50. Geburtstag – reiche Tote vermachen ihr Geld an reiche alte Menschen: Studien aus der Schweiz zeigen, dass Erbschaften hierzulande wie auch anderswo vor allem gut situierte Rentner begünstigen. Die Konsequenz: noch grössere Vermögensunterschiede zwischen Jung und Alt.
«Diese Umstände», schreibt der britische Philosoph Daniel Halliday in seinem jüngsten Buch «The Inheritance of Wealth», «geben den Eltern unverhältnismässig viel Macht über ihre Kinder.»
Sie entscheiden über das Schicksal ihrer Nachkommen: unterstützen ihre Kinder mit einer Schenkung beim Hausbau, bei der Weiterbildung oder der Familiengründung – oder eben auch nicht. Sie können, wenn sie denn wollen, die Erbschaft jederzeit an Bedingungen knüpfen und die Lebenswege ihrer Kinder über das Testament steuern. Das befördert paternalistische Bevormundung und zementiert den elterlichen Machtanspruch bis ins Erwachsenenalter.
Neben dem aufklärerischen Ideal eines selbstbestimmten Lebens bedroht die Macht der Erbschaften aber auch ein anderes Grundprinzip: die Chancengleichheit bei der Geburt.
Die Warnung der Superreichen
Die Ersten, die im neuen Jahrtausend lautstark vor den Konsequenzen der steigenden Erbschaftskonzentration warnten, waren nicht etwa Sozialisten, sondern Menschen, von denen man es am wenigsten erwartet hätte: die Superreichen.
Anfang der Nullerjahre platzierte eine Gruppe von 120 schwerreichen US-Amerikanern Inserate in Zeitungen, in denen sie sich gegen die drohende Abschaffung der Nachlasssteuer wehrten. Darunter auch Warren Buffett, einer der reichsten Menschen der Welt. Ein paar Jahre später polterte er an einem Kongress, er hasse es, wenn jemand aus purem Glück reich und mächtig werde. Und er prognostizierte: «Vermögensdynastien, die Feinde einer Meritokratie – sie sind im Kommen.»
Eine Annahme, die auch der Ökonom Thomas Piketty teilt. Er behauptet, dass Erbschaften die allgemeine Vermögenskonzentration befördern und die Chancengleichheit unterwandern. Seine These: Geld wird in der Familie so lange vermehrt und weitergegeben, bis ein externer Schock wie ein Krieg das Kapital zerschlägt und es wieder verteilt. Solange das nicht passiert, wird es für Nicht-Erbende immer schwieriger werden, mit denjenigen Menschen mitzuhalten, die aus vermögenden Erbdynastien stammen. Das Vermögen konzentriert sich bei den Reichen.
In der Frage, ob Erbschaften langfristig die relative Vermögensungleichheit tatsächlich stark anheizen, besteht kein breiter Konsens. (Schätzungen aus Dänemark, Schweden und dem Kanton Zürich weisen darauf hin, dass dem nicht so ist.)
Unabhängig davon würden aber die meisten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler der Warnung von Warren Buffett und Thomas Piketty weitgehend zustimmen: Die zunehmende Bedeutung von Erbschaften in Kombination mit einer steigenden Vermögensungleichheit unterwandert längerfristig die Meritokratie – also die Vorstellung einer Gesellschaft, in der Status und Rang von Leistung und Verdienst abhängen.
Sinkt der Anteil des selber erarbeiteten Vermögens stark, während immer mehr Reichtum vererbt und konzentriert wird, gehen nicht nur Leistungsanreize verloren, sondern für Kinder aus unteren Schichten sinken auch die Chancen auf einen sozialen Aufstieg dramatisch.
Und dann gilt wieder das alte feudale Prinzip: Geburt vor Leistung.
Steuern für den Kapitalismus
Ein Beispiel, wie Erbschaften Kinder aus reichen Familien unverhältnismässig stark begünstigen, ist Donald Trump. Eine Analyse zeigt, dass der amtierende amerikanische Präsident auch dann noch reich geworden wäre, wenn er sein Geld nicht unter hohem Risiko in Immobilien gesteckt hätte. Eine konservative Anlage der 40-Millionen-Dollar-Erbschaft seines Vaters hätte gereicht, und er wäre heute trotzdem Milliardär – ohne einen Finger zu rühren.
Würde sein Vorgänger Thomas Jefferson heute noch leben, hätte er an Trumps politischem Aufstieg, aber wohl auch an seinem Werdegang, keine Freude. Der Mitautor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung erbte zwar selber 11’000 Hektaren Land und 135 Sklaven von seinem Stiefvater, sprach sich aber bereits früh für die Zerschlagung von Erbdynastien aus.
Seine These war, dass die leistungsbereiten und fleissigen Arbeiter eine Nation zu Wohlstand führen, während die Erbaristokratien die Wirtschaft langsam strangulierten, da sie sich auf ihrem Vermögen ausruhten.
Um heute eine solche Entwicklung zu bremsen, fordern Ökonomen wie Thomas Piketty, Edward Wolff oder Anthony Atkinson eine stärkere Besteuerung von Erbschaften. Sie soll dafür sorgen, dass sich die Vermögen nicht zu stark konzentrieren – und so der Marktwirtschaft schaden.
In Europa geriet diese Idee bereits nach der Französischen Revolution im Jahr 1789 und dem Untergang der Feudalherrschaft in die politische Diskussion. Die Aufklärer plädierten dafür, dass Eigentumsrechte mit dem Tod erlöschen und das Eigentum daher an die Gemeinschaft zurückfallen sollte. In der Folge führten viele Nationen eine Erbschaftssteuer ein.
Auch in der Schweiz erheben die allermeisten Kantone – Ausnahmen: Schwyz und Obwalden – eine Abgabe auf Erbschaften und Schenkungen. Wenn auch nur eine sehr geringe: Laut dem Lausanner Wirtschaftsprofessor Marius Brülhart stehen der für 2020 geschätzten Erbmasse von 95 Milliarden Franken Steuerzahlungen von 1,3 Milliarden Franken gegenüber.
Seit 1990 haben viele Kantone ihre Erbschaftssteuern unter dem Vorwand gesenkt, dass sie reiche Bürger vertreiben würden. Ein Argument, das komplett überschätzt wird, wie die Auswertungen von Brülhart zeigen. Sein Fazit: Die Kantone könnten Erbschaften stärker belasten, ohne Furcht, im Steuerwettbewerb zurückzufallen.
In der Schweiz sind Erbschaften extrem ungleich verteilt. Laut einer Studie der Universität Bern erben 70 Prozent der Bernerinnen und Berner gerade einmal 13 Prozent des Erbvolumens, während ein Drittel des gesamten Geldes dem reichsten Prozent zugutekommt. Trotzdem fällt die Zustimmung zu einer Erbschaftssteuer äusserst gering aus. Eine Initiative mit dem Titel «Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV» scheiterte 2015 kolossal: 71 Prozent der Stimmbevölkerung lehnten sie ab. Die Initiative wollte Erbschaften über 2 Millionen Franken zu 20 Prozent besteuern.
In der Nachbefragung stellte sich heraus, dass der Stimmentscheid nicht durch persönliche Betroffenheitsmotive, sondern vor allem durch einen übergeordneten Links-rechts-Konflikt geprägt war. FDP, CVP und SVP bekämpften den Vorschlag vehement.
Eigentlich erstaunlich, denn im Gegensatz zur verbreiteten Meinung ist die Forderung nach einer Erbschaftssteuer kein linkes Projekt. Das beweist die Unterstützung von Multimilliardären wie Buffett – beileibe kein Sozialist.
Ebenfalls ein starker Verfechter der Erbschaftssteuer war der britische Ökonom und liberale Vordenker John Stuart Mill, in dessen Tradition sich auch der Schweizer Freisinn einst für eine Abgabe auf Erbschaften eingesetzt hat. Noch 1915 forderte die FDP eine nationale Erbschaftssteuer.
Ein anderer, der ebenfalls aus einer wirtschaftsliberalen Perspektive für die Erbschaftssteuer argumentiert, ist der australische Politikphilosoph Daniel Halliday. Kürzlich bemerkte er in einem «Zeit»-Gespräch, dass Erbschaften nicht marktwirtschaftlichen Regeln folgen und dem Kapitalismus schaden.
Es sei absurd, so Halliday, dass Einkommen – also Leistung – so hoch besteuert würden, vererbte Vermögen aber nicht. Da sie nicht an Leistung gekoppelt seien, würden sich Erbschaften nicht mit der kapitalistischen Idee des Wettbewerbs unter fairen Rahmenbedingungen vertragen: «Und wenn man den Kapitalismus verteidigt, heisst das nicht, dass man den Status quo verteidigt und die Welt so lassen will, wie sie ist. Im Gegenteil.»
Deshalb plädiert er in seinem Buch «The Inheritance of Wealth» für eine Steuer über die Zeit: Bei Erbschaften soll der Steuersatz auf das vererbte Vermögen mit jedem zusätzlichen Transfer von Generation zu Generation ansteigen. So können Erblasser eigenständig entscheiden, was mit ihrem selbst erarbeiteten Wohlstand passiert und wem er zukommen soll – ohne dass dadurch ihre unmittelbaren Eigentumsrechte beschnitten würden.
Gleichzeitig aber würde das Vermögen aus vorherigem Familienbesitz belastet. Spätestens die Urenkel erhielten dann nur noch einen Bruchteil des ursprünglichen Geldes. Der Kuchen würde mit jeder Erbschaft kleiner, und Familiendynastien würden verhindert.
Aus der Sicht von Halliday ist eine Erbschaftssteuer nicht nur aufgrund der Umverteilung erstrebenswert, sondern vor allem aus Gründen der Fairness: Alle sollen mitspielen können, und keinem soll ein uneinholbarer Startvorteil zukommen. Das sei ganz im Sinne der Marktwirtschaft.
Wie hoch eine Erbschaftssteuer sein müsste und ob die Erbschaftssteuer das richtige Instrument ist, um der Vermögenskonzentration entgegenzuwirken, ist unter Ökonomen genauso umstritten wie in der Politik. Bevor aber in dieser Debatte ein Konsens gefunden werden kann, muss die Gesellschaft zuerst eine ganz grundsätzliche Frage klären: Inwieweit soll ein Mensch über seinen Tod hinaus bestimmen, was mit seinem Besitz geschieht?
Eine Frage, die Thomas Jefferson für sich bereits vor 200 Jahren beantwortet hat. «Die Erde gehört den Lebenden», sagte er. «Den Toten kommt weder Macht noch Recht an ihr zu.»
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