Ungleichheit ist kein Naturgesetz
Der französische Starökonom Thomas Piketty legt ein monumentales neues Werk vor. Es behandelt die Geschichte der Ungleichheit – und könnte selbst Geschichte schreiben.
Von Daniel Binswanger, 12.10.2019
Welche Gesellschaftsordnung ist erstrebenswert? Welche Machtstrukturen sind legitim? Was ist gerecht? Es gibt keine menschliche Gemeinschaft, die nicht darauf gründen würde, dass sie auf diese Fragen eine Antwort gibt – wie auch immer diese aussieht, wie implizit und unausgesprochen, wie unideologisch und pragmatisch auch immer das Selbstverständnis dieser Gemeinschaft sein mag. Zumindest muss sie über ihre Gerechtigkeit eine Geschichte erzählen können, sei es nun als kühles Nutzenkalkül, als religiöser Mythos, als strahlende Vision des Fortschritts.
Im Zentrum steht dabei immer, wie Ungleichheit begründet wird. Wie kann man es rechtfertigen, wenn überbordender Reichtum zusammengeht mit bitterer Not? Oder wenn Menschen andere Menschen gar als Sklaven zum Besitz haben? Wie ist es handkehrum zu verteidigen, wenn ein egalitäres Gesellschaftsmodell die Bürger in Uniformität und Vermassung zwingt?
Die Geschichte der menschlichen Zivilisation hält ein scheinbar unerschöpfliches Arsenal an Antworten bereit. Ungleichheit begründen, Ungleichheit verdammen: Das war schon immer die Hauptfunktion von politischen Ideologien. Was können wir lernen, wenn wir nicht nur auf die Geschichte der real existierenden Ungleichheit zurückblicken, sondern auf ihre stetig wechselnden Begründungen? Was lernen wir daraus über unsere Zukunftsperspektiven? Über unsere politischen Gestaltungsräume?
Gigantischer Datensatz, globale Analyse
Das sind die Leitfragen von «Capital et idéologie», dem neuen Monumentalwerk von Thomas Piketty. Man kann die Bedeutung dieses Buches wohl gar nicht hoch genug schätzen: nicht nur deshalb, weil Piketty im letzten Kapitel ebenso ikonoklastische wie sorgfältig vorbereitete Vorschläge zur Transformation der Wirtschaftsordnung und der Steuersysteme macht. Die Vorschläge haben es in sich, wir werden darauf zurückkommen.
Genauso wichtig ist jedoch der methodische Ansatz: dass Piketty seine Thesen entfaltet aus der Tiefe der historischen Entwicklung und aus der Breite der teils so unterschiedlichen, teils so ähnlichen Erfahrungen, die verschiedene Nationen und Kulturkreise über die Jahrhunderte machten.
Der heute 48-jährige Franzose promovierte mit 22 in Wirtschaftswissenschaften und wurde mit 26 Professor am Massachusetts Institute of Technology. Er ist Gründungsdirektor der Paris School of Economics, die sich nur schon mit ihrem Namen als Konkurrentin der London School of Economics positioniert. Rund dreihundert Forscher, hauptsächlich Ökonomen, aber auch Soziologen und Mathematiker, arbeiten hier. Piketty lancierte zudem die World Inequality Database, in deren Rahmen über hundert Wissenschaftler in über achtzig Ländern historische Daten über die Einkommens- und Vermögensverteilung zusammentragen. Diese bilden unter anderem die Grundlage seiner Analysen. Mit der englischen Ausgabe seines Buchs «Das Kapital im 21. Jahrhundert» sorgte er 2014 international für Aufsehen.
«Um analytische Fortschritte zu erzielen», sagt Piketty in der Einleitung, «ist es nützlich, die Dynamiken über lange Zeiträume und in verschiedenen Kontexten zu beobachten, insbesondere in Europa und in Indien, aber ganz allgemein in einer vergleichenden und transnationalen Perspektive.» Auch China, Japan, der Iran, Brasilien werden ausführlich beleuchtet. In seinem letzten Grossopus «Das Kapital im 21. Jahrhundert» hatte der französische Ökonom noch eine vornehmlich eurozentrische Argumentationsbasis.
Sein neues Werk entwickelt einen wirklich globalen Ansatz.
Piketty ist ein singulärer Glücksfall eines Meisterdenkers – ganz einfach deshalb, weil er in gewisser Weise als das exakte Gegenteil eines Meisterdenkers gelten kann. Zuallererst ist er ein empirischer Wirtschaftsforscher, der auf der Basis von extensiven Daten und mit wissenschaftlicher Vorsicht argumentiert. «Dieses Buch wird sehr faktenreich sein», bemerkt er trocken in der Einleitung. Ermöglicht wird die erschlagende Datenkompilation, auf der seine Forschungen beruhen, unter anderem von der World Inequality Database, die historische Daten über die Einkommens- und Vermögensverteilung aufbereitet.
Nicht nur hat es bis anhin noch nie eine auch nur annähernd so umfassende Datenbasis zur Erforschung von Verteilungsfragen gegeben. Das Forschungsprojekt ist auch insofern bahnbrechend, als es die Situation in Ländern erschliesst – zum Beispiel Russland oder die Staaten der Golfregion –, über die bisher praktisch keine zuverlässigen Statistiken vorlagen.
«Ungleichheit ist ideologisch und politisch»
Natürlich ist «Capital et idéologie» ein (nicht ganz einfach zu verdauendes) historisches Monumentalwerk, aber es ist das Gegenteil einer Geschichtsphilosophie. Hier werden keine abstrakten Annahmen getroffen – über das Wesen des Menschen, die Funktionsweise von Machtsystemen, die Natur ökonomischer Zwänge –, aus denen Weltgeschichte sich gleichsam extrapolieren liesse. Hier werden Erklärungsmodelle auf die Probe der Statistik gestellt, und es wird nachgezeichnet, wie sich die Erklärungsmodelle, die verschiedene Gesellschaftssysteme für ihre Verteilungsstrukturen entwickelten, über die Zeit verändert haben.
Der intellektuelle Habitus von Piketty ist undoktrinär und offen – was man von den Abwehrreaktionen, die er bei seinen Gegnern auszulösen pflegt, nicht unbedingt behaupten kann. In gewisser Weise mutet «Capital et idéologie» weniger an wie eine politökonomische Universaltheorie als wie der mitreissende Beschrieb eines gigantischen Forschungsprojekts. Insbesondere seine Herleitungen ideengeschichtlicher Zusammenhänge erscheinen immer wieder ausbaufähig, und von vornherein steht fest, dass die Fachwissenschaften an vielen Stellen dieses Buches, das eine schwindelerregende Anzahl von Forschungsfeldern abdeckt, so einiges zu mäkeln finden werden. Trotzdem oder genau deshalb darf man wetten, dass es eine ganze Forschergeneration inspirieren wird.
Weshalb mutet Piketty, dem es im Kern um eine umfassende Gegenwartsdiagnose und um die Entwicklung von politischen Zukunftsszenarien geht, dem Leser eine solche Masse an historischen Rückblenden zu? Weil nur historische Aufklärung das Bewusstsein schaffen kann, dass ökonomische Verhältnisse nicht von Naturgesetzen diktiert werden: «Die Ungleichheit ist nicht ökonomisch und technologisch bedingt. Sie ist ideologisch und politisch. Das ist der offensichtlichste Schluss, den man aus der hier vorgestellten historischen Untersuchung ziehen muss. Der Markt und der Wettbewerb, der Profit und die Löhne, das Kapital und die Schulden, hoch und niedrig qualifizierte Arbeitskräfte, Staatsbürger und Ausländer, die Steuerparadiese und die Konkurrenzfähigkeit – nichts von alledem ist naturgegeben. Es handelt sich um soziale und sich historisch wandelnde Konstrukte, die vollständig vom Rechts-, Steuer-, Bildungs- und Politiksystem abhängen, das zu errichten man sich entschieden hat, und von den Kategorisierungen, auf welche die Gesellschaft sich abstützt.»
Die entscheidenden Fragen
Jenseits aller historischen Tiefenschürfungen und kulturanthropologischen Exkursionen tut Piketty in seinem neuen Buch vor allem eins: Er stellt die relevanten Fragen. Die Fragen, die so grundlegend und simpel sind, dass sie im Grunde den Horizont jeder Stammtischdiskussion bestimmen.
Warum ist in den meisten Teilen der westlichen Welt der Sozialstaat heute auf dem Rückzug und die Ungleichheit am Wachsen? Liegt das an der Globalisierung, der Wirtschaftsentwicklung? Ist es eine Notwendigkeit, oder liegt es an der Politik? War das, was Piketty als die «sozialdemokratische Periode» bezeichnet, das heisst die Zeit von 1950 bis 1980, während der die Industriestaaten einen starken sozialen Ausgleich mit einem dynamischen Wirtschaftswachstum verbinden konnten, eine historische Ausnahmesituation, von der wir uns verabschieden müssen? Oder sollte sie weiterhin als gesellschaftliches Ideal gelten?
Warum sind rund um den Globus die klassischen sozialdemokratischen Parteien tendenziell auf dem Rückzug und die rechtspopulistischen Kräfte im Hoch? Liegt es daran, dass rechte Themen wie die Migration oder der clash of civilizations dominanter werden, oder haben sich die Linksparteien verändert? Gibt es unter den aktuellen Bedingungen der Globalisierung überhaupt einen plausiblen Gesellschaftsentwurf von linker Seite, oder wird die Sozialdemokratie auf lange Sicht in der Defensive bleiben?
Das sind die Dinge, die Piketty zu klären versucht. John Maynard Keynes hat einmal gesagt: «Nüchterne Männer, die sich selber als immun gegen jede intellektuelle Beeinflussung betrachten, sind in der Regel nichts als die geistigen Sklaven eines schon lange verstorbenen Ökonomen.» Pikettys Buch ist wie die monumentale Beweisführung zu diesem Bonmot: Ideen, die sich zu ideologischen Systemen organisieren, haben eine gewaltige Macht. Die soziale Wirklichkeit wird nicht von objektiven Gesetzen bestimmt, sondern zu guten Teilen dadurch, wie wir sie interpretieren – und aufgrund dieser Interpretation gestalten wollen. Nichts kann deshalb wichtiger sein, als die Herkunft dieser Ideen zu verstehen.
Vom Feudalismus zur Neo-Eigentumsgesellschaft
«Capital et idéologie» gliedert seine Analysen in vier historische Hauptetappen: Ein primärer Fokus liegt auf dem 19. Jahrhundert, der Periode der Herausbildung der bürgerlichen Welt und des modernen Rechtsstaates, aber auch des Kolonialismus, der blutig umkämpften Abschaffung der Sklaverei, der extremen Ungleichheit. Piketty nennt es die Periode der «Eigentümergesellschaft» (société propriétariste). Es ist die historische Phase, in der die moderne Konzeption von Privateigentum und die Trennung der privaten und der politischen Sphäre zum Angelpunkt der sozialen Ordnung wurden. Noch heute ruhen unsere Vorstellungen von Demokratie, von Staatlichkeit und von Recht auf der Weltanschauung, die sich im Rahmen der Eigentümergesellschaft herausgebildet hat.
Um die Ideologie des 19. Jahrhunderts zu verstehen, schaltet Piketty jedoch eine zusätzliche Etappe vor. Analysen der ökonomischen und sozialen Struktur der feudalen Standesgesellschaft, die der bürgerlichen Eigentumsgesellschaft voranging, liefern einen Vergleichspunkt, der nachvollziehbar macht, was sich mit der Emanzipation des Bürgertums gegenüber dem Feudalsystem verändert hat – und was sich nicht verändert hat. Nach Piketty hat die Emanzipation des Bürgertums sehr viel bescheidenere Fortschritte gebracht, als der Epochenbruch der Französischen Revolution erwarten liess.
Doch auch die Blütezeit der Eigentümergesellschaft kommt 1914 an ein Ende. Die Schocks zweier Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise liquidieren dieses Regime schliesslich – und führen über in die Epoche der Nachkriegszeit, in den kalten Krieg der sozialistisch-kapitalistischen Systemkonkurrenz, in die Dekolonisierung und in einen gewissen «sozialdemokratischen» Grundkonsens, der für alle westlichen Industriegesellschaften bestimmend wurde. Die Ungleichheit verringerte sich plötzlich auf eine historisch einmalige, erklärungsbedürftige Weise: Was war die Basis für den neuen gesellschaftlichen Grundkonsens, der nicht nur von der Linken, sondern vom gesamten demokratischen Parteienspektrum mitgetragen wurde und sich auch dort durchsetzte, wo die Linke nicht an der Macht war? Wie wurde er implementiert? Und weshalb ist auch die «sozialdemokratische Ära» an ein relativ abruptes Ende gekommen?
Denn um 1980 kommt es erneut zu einem Epochenbruch, und mit dem Untergang der Sowjetunion, der beschleunigten Globalisierung, der steigenden Mobilität des Kapitals, der sinkenden Steuermacht der Nationalstaaten und nicht zuletzt der sich in vielen Teilen der Welt wieder verstärkenden Ungleichheit beginnt eine neue, bis heute noch nicht abgeschlossene Periode. Piketty nennt sie die «Neo-Eigentümergesellschaft» (société néopropriétariste), eine Art Belle Époque auf Steroiden. Ob auch sie ihr Ende finden wird, in einem weltumspannenden «dreissigjährigen» Krieg? Piketty ist überzeugt, dass es andere Optionen gibt. Aus seinen historischen Analysen destilliert er Vorschläge, die sich historisch bereits bewährt haben und die er für die Zukunft fruchtbar machen will. Was also sind die geschichtlichen Lektionen?
Was ist feudal?
Zunächst hält Piketty fest: Ganz so weit über die Feudalgesellschaft sind wir trotz aller bürgerlichen Errungenschaften nicht hinausgekommen. Das hat zunächst damit zu tun, dass die soziale Mobilität in Feudalgesellschaften zwar sehr reduziert, aber nicht gar so gering ist, wie das Prinzip des Geburtsadels es glauben machen könnte. Auch im alten Europa mussten sich die gesellschaftlichen Eliten ständig erneuern, weshalb es laufend zu neuen Nobilitierungen kam. Zeitweilig war der Anteil von Geistlichen und Adeligen in verschiedenen europäischen Ländern bemerkenswert hoch. Der Feudalismus war nicht die Herrschaft des einen über die 99 Prozent, eher schon der 10 über die 90 Prozent. Die Elitenbildung war in einiger Hinsicht nicht viel «aristokratischer», als es auch im 19. Jahrhundert üblich blieb.
Zweitens lebte das feudale Standesdenken von der Vorstellung einer organischen Harmonie zwischen den Geistlichen (dem Kopf), den Feudalherren (dem bewaffneten Arm) und der herstellenden und handelnden Bevölkerung (dem Magen). Der dritte Stand hatte zwar nicht die Privilegien des Klerus und des Adels, aber er wurde nicht eigentlich als subaltern betrachtet. Seine Emanzipation kann wie die natürliche Fortentwicklung der feudalistischen Gesellschaftslehre aufgefasst werden – auch wenn sein Sieg den Feudalismus hinwegfegen sollte.
Drittens zeigt Piketty mit detaillierten Rekonstruktionen, dass die Französische Revolution in einer Hinsicht weitgehend versagte: bei der materiellen Umverteilung. Die Ungleichheit wurde durch die bürgerliche Emanzipation kaum angetastet.
Die Sakralisierung des Eigentums
Abgeschafft wurden mit der Emanzipation des dritten Standes natürlich die Adelsprivilegien. Den Frondienst etwa, den die unfreien Bauern dem Lehensherren schuldeten, betrachteten die Revolutionäre als nicht mehr statthaft: Verfügungsgewalt über die Arbeitskraft von Untertanen war ein klassisches aristokratisches Privileg, das in einem modernen Staat nichts zu suchen hatte. Aber der Frondienst wurde nicht ersatzlos gestrichen. Er wurde stattdessen umgewandelt in eine Mietzahlung. Schliesslich galt im alten Lehenssystem der Frondienst als eine Art Pacht für die Bewirtschaftung von Land. Er hatte einen konkreten Geldwert, der auf einem Besitzanspruch des Adels über sein Territorium beruhte. So sehr die Revolutionäre die Adelsprivilegien abschaffen wollten: Dieses Pachtverhältnis haben sie respektiert – sonst wäre nicht ein politisches Privileg, sondern ein Eigentumsrecht angetastet worden.
Piketty zeichnet die Abwägung zwischen abzuschaffendem Adelsprivileg und zu schützendem Privateigentum in verschiedenen rechtlichen Kontexten nach und kommt zu einem vernichtenden Verdikt über die bürgerliche Überwindung der feudalen Standesgesellschaft. Der Preis, den die aufklärerischen Kräfte für die Säkularisierung des politischen Systems bezahlt haben, war nach Piketty die Sakralisierung des Privateigentums: «Vom Augenblick an, wo man das Schema der Dreiständegesellschaft aufgibt, das ja weitgehend auf einem transzendenten, religiösen Fundament ruht, muss man neue Antworten finden, um gesellschaftliche Stabilität zu garantieren. Die Sakralisierung des Eigentums ist in gewisser Weise eine Reaktion auf das Ende von Religion als expliziter politischer Ideologie.»
In dieser Sakralisierung des Eigentums erblickt Piketty den Kern der das 19. Jahrhundert beherrschenden liberalen Geisteshaltung. Und sie treibt Blüten, die noch viel absurder sind als die Unfähigkeit der Französischen Revolution, nebst den Adelsprivilegien auch nur die allerexzessivsten Formen der Ungleichheit zu überwinden. Insbesondere schafft sie die grössten Schwierigkeiten für die Abschaffung der Sklaverei.
In verschiedenen Ländern führte die Frage der Sklaverei im 19. Jahrhundert zu erbitterten Auseinandersetzungen, in den USA gar zum Bürgerkrieg. Was weniger bekannt ist: Auch in anderen Ländern wurde die Sklavenemanzipation von verblüffenden Verwerfungen begleitet. Grossbritannien zum Beispiel ging seiner Zeit voraus und erliess 1833 ein Gesetz, das die Sklaverei verbot und den ehemaligen Sklaven die vollen Bürgerrechte verlieh. Doch es wurde noch etwas Weiteres mit dem Gesetz beschlossen: Die vormaligen Sklavenbesitzer wurden vom Staat in vollem Umfang entschädigt, in Höhe des Marktwertes der Freigelassenen. Rund viertausend Sklavenbesitzer erhielten 20 Millionen Pfund Entschädigung für etwa 800’000 Sklaven – eine gigantische Summe, die damals 5 Prozent des britischen BIP ausmachte. Um das in Relation zu setzen: Die öffentlichen Ausgaben Grossbritanniens für das gesamte Bildungswesen betrugen damals 0,5 Prozent des BIP.
Auch hier sollte das heilige Tabu gelten, dass Eigentumsrechte unbedingt respektiert werden mussten. Sklavenhalter durften nicht enteignet werden, «nur» weil sie ihr Kapital in Sklaven statt in Ländereien oder Aktien investiert hatten. Zwar herrschte Konsens darüber, dass Sklaverei mit den Menschenrechten nicht vereinbar sei und eine unzulässige Form der Ausbeutung darstelle. Über finanzielle Wiedergutmachung für die Betroffenen wurde jedoch gar nicht erst geredet. Sie hatten ihrem eigenen Leben gegenüber keinen Eigentumsanspruch, dem man eine Abgeltung zuweisen konnte.
Ein nicht minder wahnwitziges Kapitel der Kollision von Eigentumsprinzip und Sklavenemanzipation, das Piketty im Detail analysiert, ist die Geschichte von Haiti – nicht zuletzt deshalb, weil es sich bis ins 20. Jahrhundert hineinzieht. 1794, auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution, wurde im ganzen französischen Kolonialreich die Sklaverei abgeschafft. Bereits 1802 restaurierte Napoleon allerdings die Eigentumsrechte der Plantagenbesitzer, und die Emanzipation wurde wieder rückgängig gemacht. Einzige Ausnahme war Haiti, die bisherige französische Kolonie Saint-Domingue: Die befreiten Inselbewohner besiegten Napoleons Expeditionsarmee, und Haiti erklärte sich 1804 für unabhängig.
Doch auch die souverän gewordene Ex-Kolonie musste sich freikaufen. Durch eine Seeblockade und ständige Invasionsdrohungen brachte Frankreich Haiti 1824 dazu, für die Befreiung seiner Bevölkerung «Reparationszahlungen» zu garantieren, und zwar in Höhe von sagenhaften 300 Prozent des damaligen BIP des Inselstaats. Die Zahlungen wurden auch geleistet – bis ins Jahr 1951. Alles im Namen des Eigentumsprinzips.
Piketty vollzieht seine ideologische Dekonstruktion der Eigentümergesellschaft in den verschiedensten Themenfeldern der Geschichte des 19. Jahrhunderts: der Amerikanische Bürgerkrieg, die britische Kolonisierung des indischen Subkontinents, die Entwicklung des Wahlrechts in verschiedenen europäischen Ländern. Die fundamentale Basis seines Arguments ist jedoch die Ungleichheitsentwicklung, die er mit besonderer Sorgfalt in Frankreich, aber auch in Schweden und in Grossbritannien aufzeigt. Auf der Ebene des materiellen Ausgleichs ist die Bilanz der Eigentümergesellschaft des 19. Jahrhunderts sehr simpel: Die französische Revolution blieb schlicht und einfach folgenlos. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war die Ungleichheit noch stärker als in der letzten Phase des Ancien Régime. Es war unausweichlich, dass die Eigentumsgesellschaft an eine Grenze stossen würde. Sie wurde erreicht mit dem Ersten Weltkrieg.
Das goldene Zeitalter der Mittelstandsgesellschaft
Der wirkliche Fortschritt mit Bezug auf die Verteilungsgerechtigkeit – es sei denn, man betrachtet das Ancien Régime als vorbildlich – kam mit den Turbulenzen der Weltkriegsjahrzehnte, die den Boden für die «sozialdemokratische Phase» bereiteten. Der in der Zeit von 1914 bis 1945 stattfindende Rückgang der Einkommens- und Vermögensdisparitäten war spektakulär, in diesen Dimensionen noch nie da gewesen.
Pikettys Analyse dieser Phase konzentriert sich hauptsächlich auf zwei Aspekte:
Wie muss die Einebnung erklärt werden? Ist es die Vermögenszerstörung durch die Weltkriege, sind es andere Faktoren?
Wie ist es gelungen, die Einkommens- und Vermögensverteilung in den Friedenszeiten nach dem Zweiten Weltkrieg über dreissig Jahre relativ stabil zu halten?
Die Antwort auf die erste Frage ist eindeutig: Nein, es waren nicht die Kriege. Es waren nicht die Flächenbombardemente und die Verwüstungen, jedenfalls nicht primär. Ihr Beitrag zur Vermögensvernichtung, die sich in den Weltkriegsjahrzehnten vollzog, beziffert Piketty für Deutschland und Frankreich auf 25 bis 30, für England lediglich auf ein paar Prozent.
Einen viel substanzielleren Beitrag leisteten die sich häufenden Staatspleiten, die im 19. Jahrhundert fast gar nicht vorkamen, weil sie stets um jeden Preis vermieden wurden; die starke Inflation, welche zur Entwertung von Schulden und Schuldtiteln führt; die Enteignungen und Verstaatlichungen; politische Preiskontrollmassnahmen wie Mietpreisbindungen, welche den Immobilienbesitz entwerteten – und schliesslich der explosionsartige Anstieg der Steuern. Es waren nicht die physischen Zerstörungen der Kriege, sondern politische Entscheidungen, die in die «sozialdemokratische Phase» führten. Viele dieser Entscheidungen wurden aus der Not geboren und konnten nur in einer Krisensituation so gefällt werden. Aber sie waren nicht alternativlos. Eine andere Geld-, Steuer- und Schuldenpolitik wäre denkbar geblieben.
Genau dasselbe gilt für die Erklärung, weshalb die nach den globalen Krisenjahren herrschende Einkommens- und Vermögensverteilung, die 1950 so ausgeglichen war, wie es zuvor noch nie in der modernen Geschichte der Fall gewesen ist, über dreissig Jahre stabil blieb, trotz eines extrem dynamischen Wirtschaftswachstums. Für diese verblüffende Tatsache gibt es eigentlich nur einen, inzwischen jedoch weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängten Grund: Steuern, Steuern und nochmals Steuern.
Die «sozialdemokratische Phase» war in ihrem Kern die Phase der stark progressiven Einkommens- und Erbschaftssteuern. Im goldenen Zeitalter der Mittelstandsgesellschaft wurden die Reichstumseliten massiv zur Kasse gebeten und die Unterschichten nur sehr mässig besteuert. Am ausgeprägtesten war das erstaunlicherweise in den USA und Grossbritannien der Fall, zwei Ländern, die heute als paradigmatisch für die ausgeprägte Kultur der Ungleichheit im angelsächsischen Raum gelten. Zwischen 1932 und 1980 lag der höchste Grenzsatz für die Einkommenssteuer in den USA im Durchschnitt bei 81 Prozent, in Grossbritannien bei 89 Prozent. Bei der Erbschaftssteuer lag der oberste Grenzsteuersatz für dieselbe Periode in den USA im Durchschnitt bei 75 Prozent, in Grossbritannien bei 72 Prozent.
Ein weiteres bemerkenswertes Faktum, auf dem Piketty insistiert: Nicht nur die theoretischen, auch die faktischen Steuersätze lagen sehr hoch. Aufgrund der viel weniger offenen Kapitalmärkte war Steuervermeidung damals wesentlich schwieriger als heute. Es ist sogar so, dass die Wissenschaft über die Vermögensverteilung in den Dreissiger- oder den Fünfzigerjahren viel präzisere Daten hat als über die heutigen Verteilungsstrukturen, für deren Bestimmung ständig Rekurs genommen werden muss auf prekäre Schätzungen des nicht deklarierten Kapitals.
Erst Anfang der Achtzigerjahre hat steuerpolitisch die grosse Trendwende eingesetzt: Die unteren Einkommensschichten werden seither deutlich höher, die Reichtumseliten hingegen dramatisch niedriger besteuert.
Die «Steuerschere» hat sich zu schliessen begonnen. Die Einkommensschere geht immer weiter auf.
Das Neo-Eigentumsprinzip
Was ist passiert? Wie konnte die westliche Welt allmählich wieder in einer Neo-Eigentumsgesellschaft landen? Ein entscheidender Faktor ist der Untergang der Sowjetunion. Eindrückliche Kapitel schreibt Piketty über die postkommunistischen Länder als Laboratorien des Hyperkapitalismus. Seine ausführlichsten Analysen gelten jedoch den Transformationen innerhalb der Wählerschaft der westlichen Industrieländer.
Zwei massive Veränderungen lassen sich überall feststellen:
Die Wahlbeteiligung sinkt, und zwar in asymmetrischer Form. In den oberen Schichten bleibt die politische Teilnahme relativ konstant, bei den unteren Schichten schwindet sie. Offenbar wird den Unterschichten kein politisches Angebot mehr gemacht, das sie weiterhin auf breiter Basis mobilisieren kann.
In der Wählerschaft haben sich spektakuläre soziologische Verschiebungen vollzogen. Piketty nennt sie «die Umdrehung der Bildungsspaltung».
Bis Anfang der Achtzigerjahre waren linke Parteien die Parteien der Niedrigqualifizierten. Je geringer der Bildungsgrad der Wähler, desto stärker war ihre Neigung, links zu wählen. Hoch qualifizierte Akademiker dagegen wählten mit sehr deutlicher Mehrheit konservativ. Über die letzten dreissig, vierzig Jahre hat sich diese Spaltung jedoch in ihr Gegenteil umgedreht, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Grossbritannien und in den USA. Auch für die Schweiz gibt es Studien, die diesen Trend belegen und die Piketty am Rand berührt. Die Niedrigqualifizierten wählen heute mehrheitlich rechts, die Linke erzielt die höchste Zustimmung bei den akademischen Eliten. Linke Parteien haben die Unterschichten zu guten Teilen verloren und sind nun die Vertreter der akademischen Mittelschicht und der Bildungseliten.
Piketty prägt für dieses Phänomen den Begriff der «Brahmanen-Linken». De facto gründet ihr heutiger Erfolg auf der Kaste der Bildungselite. Begründet sieht Piketty diese Entwicklung hauptsächlich in der abnehmenden sozialen Mobilität, insbesondere mit Bezug auf Bildungschancen.
In der Nachkriegszeit konnten die schlecht qualifizierten Unterschichten darauf setzen, dass ihre Kinder vom starken Ausbau der sekundären und tertiären Bildung profitieren würden. Die hohe Priorität, die Linksparteien dem staatlichen Bildungsauftrag immer eingeräumt haben, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ihnen zugutekommen. Heute erscheint das Bildungssystem sehr viel stärker wie ein Reproduktionsmechanismus für die bestehenden akademischen Eliten. Die Kinder der Bildungsverlierer unterliegen einem hohen Risiko, ihrerseits über den Stand der Niedrigqualifiziertheit nicht hinauszukommen.
Das ist eine fundamentale Verschiebung, umso mehr, als der Staat in junge Bürger, die einen tertiären Abschluss machen, viel mehr Geld investiert als in solche, die nur eine niedrige Qualifikationsstufe erreichen. Diese Bildungsungerechtigkeit – die Tatsache, dass in die künftigen Eliten massiv mehr investiert wird als in weniger erfolgreiche Auszubildende – betrachtet Piketty als einen der zentralen Gründe für die «Scheidung zwischen der Linken und der Unterschicht». Er plädiert deshalb für eine sozial ausgeglichenere Streuung von Bildungsausgaben. Auch in Jugendliche mit niedrigerem Qualifikationsniveau kann sinnvoll investiert werden, damit sie in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft erfolgreicher werden.
In zwei Konfliktlinien denken
Am eindringlichsten warnt Piketty jedoch davor, die soziologischen Verschiebungen innerhalb der Wählerschaft zu eindimensional zu betrachten. Häufig stehen sich in den heutigen Debatten zwei grundsätzlich verschiedene Analyseraster gegenüber: Klassenkampf oder Identität. Es wird entweder davon ausgegangen, dass immer noch die Klassenfrage entscheidend ist. Dann werden die politischen Konflikte als vom ökonomischen Gefälle bestimmt betrachtet, von der Frage, ob man die Interessen der oberen oder der unteren Einkommenskategorien vertritt. Oder aber es wird die Prämisse gesetzt, dass die entscheidenden Differenzen heute gesellschaftspolitischer Natur seien, dass der Gegensatz von progressiv und konservativ, offen und geschlossen, der Unterschied zwischen Bejahung und Ablehnung der Migration, zwischen Internationalismus und Nationalismus die politischen Lager strukturiere.
Piketty kommt jedoch zum Schluss, dass weder die Klassenfrage noch die Offenheitsfrage eine vorrangige politische Konfliktlinie definiere. Womit wir es zu tun haben, sind zwei gleichberechtigte Gegensatzpaare, deren Kombination zu vier relativ ausgeglichen starken Blöcken führt: soziale Internationalisten, soziale Nationalisten, elitäre Internationalisten, elitäre Nationalisten.
Am Beispiel der letzten französischen Präsidentschaftswahlen erläutert Piketty im Detail, welche konkreten politischen Strömungen man diesen Lagern zuordnen kann:
Den sozialen Internationalismus sieht er bei Mélenchon und dem Parti socialiste verortet, die sich zwar für Europa, aber dezidiert nur für ein soziales Europa starkgemacht haben (im Fall Mélenchons inklusive der Drohung, aus der EU auszutreten, falls Deutschland keine sozialen Reformen akzeptiere).
Den sozialen Nationalismus schreibt er Marine Le Pen zu, die massiv auf Ausländerfeindlichkeit, aber ebenso stark auf Umverteilung – höhere Renten, höhere Sozialleistungen, höhere Löhne – an die französische Unterschicht setzt (so, wie es Trump in seiner Rhetorik – und nur in seiner Rhetorik – ebenfalls tut).
Der elitäre Internationalismus wird von Macron vertreten, der einerseits mit seinem starken proeuropäischen Engagement, andererseits mit Steuersenkungen für die französische Oberschicht hervorgetreten ist.
Der elitäre Nationalismus schliesslich findet sich bei François Fillon wieder, der als klassischer konservativer Rechtspolitiker auftrat, migrationspolitisch hart, gemässigt EU-skeptisch und besonders beliebt bei Frankreichs ökonomischen Eliten.
Die vier Blöcke können je etwa ein Viertel des Elektorats an sich binden und nicht allein, sondern nur in wechselnden Allianzen regieren. Das ist aus Pikettys Sicht der Grund, weshalb in Frankreich wie in vielen anderen Ländern das Parteiensystem so unstabil geworden ist. Es fehlt der dominierende Grundkonflikt. Es gibt jetzt deren zwei.
Als hoch problematisch erscheint aus dieser Perspektive der Versuch, den Klassenkonflikt, das heisst die politische Konfrontation zwischen unteren und oberen Einkommensschichten, für überwunden und irrelevant zu erklären – so, wie dies politische Bewegungen tun, die behaupten, es gebe nur noch progressiv und konservativ als fundamentales Gegensatzpaar. «Die binäre Auffassung des politischen Konfliktes, die jenen zugutekommt, die auf diese Weise ihre eigene Rolle ins Zentrum rücken, ist zugleich falsch und gefährlich», sagt Piketty. Sie stärkt zum einen die Position der Progressiven selbst, die ihre Gegner insgesamt als Rechtspopulisten denunzieren. Sie ist aber in exakt symmetrischer Weise im Interesse der sozialen Nationalisten, die daraus das Argument ableiten können, alle ihre Gegner seien elitäre Globalisten.
Das ist nicht nur deshalb falsch, weil es in allen westlichen Demokratien ein Elektorat gibt, das sich sowohl dem Internationalismus als auch der Gleichheit verpflichtet fühlt. «Die Rhetorik (der binären Auffassung) zielt natürlich darauf ab, die Progressiven für alle Ewigkeit an der Macht zu halten», sagt Piketty. «In Wirklichkeit riskiert sie aber, die Popularität der Nationalisten zu verstärken, besonders wenn es diesen gelingt, eine Form des sozialen Nationalismus zu entwickeln, das heisst eine Ideologie, die soziale und egalitäre Ziele verfolgt für die ‹im Land Geborenen› und den ‹nicht im Land Geborenen› mit harter Diskriminierung entgegentritt.» Eine progressive Politik, welche die Klassenfrage für überwunden erklärt und den Rechtspopulismus zu ihrem exklusiven Gegner macht, läuft demnach Gefahr, ihm zum Sieg zu verhelfen. Auch in der Schweiz würden die progressiven Kräfte wohl gut daran tun, sich über Pikettys Analyse zu beugen.
Doch gibt es überhaupt eine Zukunftsperspektive für einen nicht nationalistischen Egalitarismus?
Der Weg des partizipativen Sozialismus
Nicht zuletzt ist «Capital et idéologie» der Versuch des Entwurfs einer solchen linken Programmatik. Piketty hat sogar einen neuen Namen: partizipativer Sozialismus (den Terminus Sozialdemokratie hält er nach den Irrungen der 1990er-Jahre für zu beschädigt, als dass er ihn benutzen wollte). Sein Konzept ruht neben den dargelegten Vorschlägen zur Bildungspolitik auf drei Säulen:
betriebliche Mitbestimmung,
Verstaatlichung,
Steuerprogression.
Alle drei Rezepte sind im 20. Jahrhundert bereits extensiv erprobt worden. Worauf es ankommt, ist, sie in der richtigen Dosis einzusetzen.
Am wenigstens weit geht Piketty bei der Verstaatlichung. Zwar plädiert er für einen starken öffentlichen Sektor, aber nur in den klassischen Bereichen (Bildung, Gesundheit, Infrastruktur). Er insistiert vielmehr darauf, dass es die französischen und englischen Sozialisten stark behindert habe, ihr Heil über Jahrzehnte in der Verstaatlichung der Wirtschaft zu suchen und alle anderen Formen der partizipativen Organisation von wirtschaftlicher Macht zu vernachlässigen. Der traditionelle Sozialismus ist unter anderem daran gescheitert, dass er auf Verstaatlichung gesetzt hat.
Stattdessen möchte Piketty Formen der betrieblichen Mitbestimmung in den Fokus rücken und die in Deutschland und Skandinavien schon heute existierenden Mitbestimmungsmodelle weiterentwickeln. Für Betriebe bis zu einer bestimmten Grösse sollen die betrieblichen Stimmrechte wie heute bei den Investoren liegen, für grosse Firmen will Piketty jedoch den maximal möglichen Stimmrechtsanteil von Einzelaktionären limitieren. Es würde dazu führen, dass Konzerne sehr viel weniger oligarchisch geführt würden. Die in Nordeuropa gesammelten Erfahrungen deuten darauf hin, dass betriebliche Mitbestimmung sehr weit gehen kann, ohne die Effizienz der Unternehmensführung zu gefährden. «Es besteht nicht der geringste Grund», sagt Piketty, «die Macht in Grossbetrieben für alle Ewigkeit in die Hände einer einzigen Person zu legen und sich der Vorteile einer kollektiven Deliberation zu berauben.»
Das Kernstück von Pikettys Erneuerungsprogramm bildet jedoch das klassischste Umverteilungsprogramm der Welt: Steuern. Er hält sowohl Einkommens- als auch Vermögenssteuern, die stark progressiv sind, für unabdingbar, um die Mittelstandsgesellschaft der «sozialdemokratischen Ära» zu restaurieren. Ohne massive steuerliche Eingriffe werden die Vermögens- und Einkommensdisparitäten unerbittlich weiter zunehmen.
Das Szenario der heilsamen Progression
Bei den Einkommen soll der oberste Satz 90 Prozent betragen, eine Massnahme, die aus heutiger Sicht wahnwitzig radikal erscheint, die aber in den Nachkriegsjahren in angelsächsischen Ländern dem normalen Standard entsprach und die erst bei extrem hohen, um den Faktor 10’000 über dem mittleren Einkommen liegenden Einkünften greifen würde. In der Schweiz entspräche das einem Jahreseinkommen von gegen einer Milliarde Franken.
Neuartig hingegen wären die Vermögenssteuern, deren Sätze so gestaltet wären, dass sie die Reichtumseliten massiv zur Kasse bitten und die Vermögensdisparitäten stark reduzieren würden. Auch diese Steuer wäre gar nicht so innovativ: Sie träte an die Stelle der Erbschaftssteuer, die in vielen Ländern in der Nachkriegszeit ebenfalls sehr hoch gewesen ist. Piketty hält fest, dass es eigentlich nur darauf ankomme, die Steuersätze höher zu legen als die durchschnittliche Wachstumsrate von sehr grossen Vermögen (sie liegt deutlich höher als jene von bescheidenen Vermögen). Da Milliardäre heute, wie Piketty schon in «Das Kapital im 21. Jahrhundert» darlegte, einen durchschnittlichen jährlichen Vermögenszuwachs von 4 bis 8 Prozent erzielen, sollten Vermögenssteuern mindestens bei 5 bis 10 Prozent liegen. Andernfalls wird die Vermögenskonzentration an der Spitze der Reichtumspyramide konstant bleiben beziehungsweise immer weiter zunehmen.
Was Piketty vorschwebt, ist nicht eine Steuerhölle in noch nie dagewesenen Dimensionen: Die Gesamtabgaben-Quote würde in seinem Modell bei 50 Prozent liegen, also dort, wo sie sich in einigen skandinavischen Ländern und in Frankreich schon heute befindet. Neu wäre lediglich, dass das Steuersystem wieder wirklich progressiv gestaltet sein soll – und dass die Einnahmen der Vermögenssteuer (in Höhe von 5 Prozent des BIP) für ein «bedingungsloses Grundkapital» verwendet würden, also für einen Kapitalbetrag in Höhe von 60 Prozent des Durchschnittsvermögens, der jedem Bürger an seinem 25. Geburtstag ausbezahlt würde. Damit könnte erreicht werden, woran auch die «sozialdemokratische Ära» gescheitert ist: die Demokratisierung nicht nur der Einkommen, sondern der Vermögen.
Denn die Vermögensverteilung ist immer viel ungleicher gewesen als die Einkommensverteilung, auch in der Nachkriegszeit. Insbesondere verfügen die unteren 50 Prozent in allen Demokratien über einen verschwindend geringen Anteil am Gesamtvermögen. Die Hälfte der Bevölkerung hat in der Regel praktisch gar kein Kapital – und damit auch nicht die Lebenschancen, Entwicklungsmöglichkeiten und wirtschaftlichen Perspektiven, die ein minimales Startkapital eröffnet.
Piketty ist himmelweit entfernt von der Vorstellung einer Überwindung des Privateigentums. Im Gegenteil: An den Segnungen des Privateigentums soll auch die grosse Masse partizipieren können. Weder zweifelt er an seinen tugendhaften Effekten (Verantwortung), noch stellt er die Grundprinzipien der Marktwirtschaft infrage. Wogegen er sich stellt, sind die zerstörerischen Effekte von ausschliessender Überkonzentration.
Eigentum und Grenzen
Funktionieren können diese Vorschläge natürlich nur, wenn die offiziellen Steuerraten nicht allzu weit weg liegen von den effektiv bezahlten Sätzen. Im Bereich der Vermögenssteuer hiesse dies, dass so etwas wie ein globaler Kataster für Finanzvermögen angelegt werden müsste. Diese Forderung ist schon deshalb sinnfällig, weil bereits unter heutigen Bedingungen riesige Finanzvermögen offshore angelegt werden und der Besteuerung auf legale oder illegale Weise entzogen sind.
Piketty legt dar, wie einfach es technisch wäre, dem ein Ende zu setzen. Über die Eigentümer von Finanzvermögen wird schliesslich immer penibel Buch geführt, nur schon zur Sicherung der Besitzansprüche. Das Problem ist lediglich, dass diese Buchführung nicht von staatlichen (wie bei den Grundbucheinträgen, welche die Eigentümerverhältnisse auf dem Immobilienmarkt regeln), sondern von privaten Institutionen (Depositarbanken, Dienstleister im internationalen Zahlungsverkehr) besorgt wird, die gegenüber Steuerbehörden häufig nicht auskunftspflichtig sind. Für Piketty ein offensichtlicher Fall für Verstaatlichung.
Ein globaler Finanzvermögenskataster erscheint utopisch? Wer die heutige Welt betrachtet, wird das nicht ganz von der Hand weisen können. Allerdings ist es nicht nur aus pragmatischen Gründen einleuchtend, dass Piketty – der schon seit Jahren gemeinsam mit seinem Schüler Gabriel Zucman einen Kreuzzug für Steuergerechtigkeit und gegen die Infrastruktur der Steuervermeidung führt – auf der internationalen Dimension des Problems insistiert.
Denn neben der Eigentumsideologie ist das Problem der Grenze der Schlüssel zu den politischen Auseinandersetzungen unserer Epoche. Die Grenzziehungen sind die fundamentale Gegebenheit, die unsere Gestaltungsräume definiert. Sie entscheiden über Ausländer- und Inländerstatus, über Migration, über die Steuerkraft der Staaten, über die Ausdehnung der Solidargemeinschaften. Stark integrierte supranationale Strukturen – zum Beispiel eine EU, die über Steuerhoheit und ein substanzielles Budget verfügt – sind nach Piketty unumgänglich in einer Welt, in der Kapitalströme weitgehend ungehindert fliessen. «Die einzige zufriedenstellende Antwort», sagt Piketty, «besteht darin, eine transnationale Theorie der Demokratie zu entwickeln, die auf einem sozialen, demokratischen Föderalismus und der Ausbildung sozioökonomischer Gerechtigkeitsnormen auf regionaler und globaler Ebene beruht. Das ist alles andere als eine einfache Aufgabe, aber es gibt dazu eigentlich keine Alternative.» Einen entsprechenden Versuch hat Piketty als europapolitischer Berater von Benoît Hamon gemacht, dem sozialistischen Kandidaten bei den letzten französischen Präsidentschaftswahlen. Allerdings ohne Erfolg.
Die Furcht vor der «Büchse der Pandora»
Es gibt in Pikettys voluminösem Opus zwei sprachliche Ausdrücke, die auffällig oft wiederkehren. Der eine ist «Abzweigung» (bifurcation), der andere ist «Büchse der Pandora». Pikettys Werthaltung wird bestimmt von der Überzeugung, dass die Geschichte nicht von ehernen Gesetzen diktiert wird: Wir nehmen immer wieder Abzweigungen, manchmal die richtigen, manchmal die falschen. Im Kontingenzraum der politischen Auseinandersetzung hätte vieles auch ganz anders kommen können.
Dafür, dass es immer mal wieder falsch läuft, ist nach Piketty häufig das «Pandora-Argument» verantwortlich. Die Heftigkeit ideologischer Regimewechsel wird nicht selten dadurch ausgelöst, dass die Akteure einer Wehret-den-Anfängen-Logik unterworfen sind, dass sie die «Büchse der Pandora» nicht öffnen, einen Mittelweg nicht gehen wollen.
Piketty tut das Gegenteil: Er will das Privateigentum nicht abschaffen, ganz und gar nicht, aber er will es auch nicht sakralisieren. Vielmehr soll es gezielt so eingeschränkt werden und so fluid bleiben, dass seine Hyperkonzentration das wirtschaftliche und das gesellschaftliche System nicht beschädigt. Ebenso müssen Privatinitiative und Innovationskraft zwar geschützt werden, aber das bedeutet nicht, dass hohe, progressive Steuern aus Prinzip des Teufels sind. Die historische Erfahrung – so man sie denn ernst nehmen will – lehrt etwas völlig anderes.
Was in Pikettys Grossopus vollkommen fehlt, ist eine Reflexion darüber, mit welchen politischen Methoden und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen seine Reformkonzepte umgesetzt werden können. Es liegt ihm fern, eine Machtstrategie zu entwickeln. Mit beinahe naivem Aufklärungsglauben vertraut er ganz einfach auf die Macht des kritischen Diskurses. Seine frühen Arbeiten hatten einen enormen Einfluss auf Occupy Wall Street, und seine Mitstreiter Emmanuel Saez und der bereits erwähnte Gabriel Zucman haben einen wesentlichen Anteil an der Ausarbeitung der Steuerreformvorschläge von Elizabeth Warren. Wenn es Forschungsprojekte gibt, die etwas auslösen, dann diejenigen von Piketty.
Ob Warren tatsächlich eine Chance hat, die nächste US-Präsidentin zu werden? Ob sie, falls dem so wäre, tatsächlich eine hohe Vermögenssteuer durchbringen würde? Wir wissen es nicht. Eines aber ist gewiss: Die nächste Abzweigung wird kommen.
Thomas Piketty: «Capital et idéologie». Verlag Seuil, 2019. 1197 Seiten, ca. 46 Franken. Die deutsche Ausgabe erscheint voraussichtlich im März 2020 beim Verlag C. H. Beck.