Die Zauderformel
Warum die Grünen bei der Bundesratswahl stolperten. Und warum das der Partei nicht schadet.
Eine Analyse von Carlos Hanimann (Text) und Goran Basic (Bilder), 11.12.2019
Um 10.11 Uhr überbringt Nationalratspräsidentin Isabelle Moret die schlechte Nachricht. «Est élu avec 145 voix: Ignazio Cassis.» Für Regula Rytz, die Präsidentin der Grünen, das Gesicht der Klimawahl, die Bundesratskandidatin des ökologischen Wandels, fällt die Nachricht noch schlechter aus als erwartet: Sie holt nur 82 Stimmen – nicht einmal alle der sozialdemokratischen und grünen Fraktionen.
Falls sich die Grünen und die Sozialdemokraten an ihre eigenen Ansagen gehalten haben, bedeutet das: Die Grünliberalen gaben Regula Rytz keine einzige Stimme.
Der Mittwochmorgen war der Vollzug eines angekündigten Debakels. Verloren gegangen war der Angriff der Grünen auf einen FDP-Sitz schon drei Wochen vorher, unmittelbar nachdem er am 21. November angekündigt worden war.
An jenem Donnerstag gab Regula Rytz ihre Kandidatur bekannt und wurde einen Tag später von ihrer Fraktion bestätigt. Doch schon am Samstag war die Kandidatur tot. Der Totengräber: Gerhard Pfister.
Die Grünen hatten sich bei ihrem Angriff auf den CVP-Präsidenten und sein Gespür für die Berner Machtmechanik verlassen: dass er bis zur letzten Sekunde schweigen und somit das Rennen offen lassen würde. Doch Pfisters Fraktion wollte Regula Rytz nicht einmal zu einem Hearing einladen – und wollte dies, anders als der Präsident, auch sofort kommunizieren. Die Bundesratsambitionen der Wahlsiegerin Grüne Partei waren somit nach nur 48 Stunden zerschlagen.
Statt Hoffnung: Enttäuschung. Statt Spannung: Langeweile. Statt ökologischen Fortschritts: Stillstand. Was war schiefgelaufen?
1. Die Grünen: Zu spät, zu unentschlossen
In den letzten Tagen und Wochen ist die Liste der vorgebrachten Gründe gegen einen grünen Sitz sehr lang geworden: Die Grünen seien übermütig! Zu zögerlich! Müssten sich gedulden! Den Wahlsieg in vier Jahren bestätigen. Hätten mehr als nur eine Kandidatin vorschlagen sollen. Und auf keinen Fall Regula Rytz. Zu grün! Zu links! Die Ankündigung ihrer eigenen Kandidatur: zu forsch! Unschweizerisch! Ohnehin müsse man die Konkordanz als Konzept insgesamt überdenken, den Bundesrat allenfalls um zwei Sitze erweitern, und ganz sicher wähle man keine amtierenden Bundesräte ab, auf keinen Fall, schon gar nicht, wenn sie aus dem Tessin stammten.
Das Parlament, ein vom grünen Wahlsieg aufgescheuchter, sich in jedem zweiten Satz widersprechender Hühnerhaufen.
Präsidentin Rytz und Fraktionschef Balthasar Glättli verteidigten sich in den vergangenen Tagen, indem sie sagten, in den Augen der Kritiker wäre jedes Timing falsch gewesen. Das mag sein. Nur spielt es letztlich keine Rolle. Entscheidend ist, welche Erzählung sich durchsetzt. Und die gaben die Grünen bereits am Wahlsonntag vor, als Regula Rytz in der abendlichen Elefantenrunde auf die Ambitionen nach einem Bundesratssitz nur zaghaft und im Konjunktiv antwortete.
Es war offensichtlich: Die Grünen waren vom eigenen Erfolg überrumpelt worden. Vor dem Wahlsonntag hatten sie sich nur am Rande über die Bundesratsfrage unterhalten. Würde man überhaupt entscheidend zulegen können? Oder würden die Grünliberalen abräumen? Dann die unmissverständliche Antwort: eine Verdoppelung der Anteile auf 13,2 Prozent. Die Grünliberalen hingegen: unter den Erwartungen. Alle Bundesratsparteien: Verluste.
Und nun, nach dieser «Klimawahl», die grosse Frage für die Grünen: Regierung oder Opposition? Sie traf sie fast unvorbereitet.
Man brauchte vier Wochen und die verlorene Ständeratswahl von Regula Rytz im Kanton Bern, bis man sich zu Klartext durchringen konnte. «Ich bin bereit», sagte Rytz vor versammelter Presse endlich. Doch jetzt wirkte ihre Kandidatur nicht mehr wie die logische Konsequenz einer Erfolgswelle, nicht mehr wie ein selbstbestimmter Angriff auf die Übervertretung der FDP im Bundesrat, sondern nur noch wie die verspätete Reaktion auf eine medienöffentliche Forderung.
Der Auftritt von Regula Rytz überraschte niemanden mehr. Bis auf die eigenen Fraktionsmitglieder. Sie waren erst kurz vor dem öffentlichen Auftritt per Mail informiert worden. Dabei hätten sie einen Tag später in ihrer Sitzung über mögliche Kandidaturen diskutieren wollen: Bernhard Pulver, Manuela Weichelt-Picard, Bastien Girod – sie wären valable Alternativen gewesen. Doch sie zauderten, zögerten oder zierten sich. Regula Rytz schuf Tatsachen.
Man sagt über sie, sie überlege lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Wer deshalb an ihrem Drang zur Macht gezweifelt hatte, wusste es nun besser. Rytz wagte den Alleingang und verhinderte damit die Konkurrenz – aus den Reihen der Grünliberalen, aber vor allem auch aus der eigenen Partei.
2. Die Verbündeten: Zu leise, zu zögerlich
Nur den engsten Kreis hatte Rytz vorgängig eingeweiht. Entsprechend wirkte der Auftritt: nicht abgesprochen, mit inhaltlichen Unschärfen, die schon am nächsten Tag öffentlich korrigiert werden mussten. Bezeichnendes Beispiel war die Frage, welchen Sitz die Grünen angreifen würden: nur jenen von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis? Oder auch jenen von dessen Parteikollegin Karin Keller-Sutter?
Rytz sagte das eine (Cassis), Glättli sagte 24 Stunden später das Gegenteil (Cassis und Keller-Sutter). Die Grünen wirkten im Moment des Aufbruchs nicht wild entschlossen, sondern nur wild und chaotisch. «Will sie wirklich?», «dilettantisch», «überfordert» – so urteilte die Presse. Die Grünen machten es allen leicht, die Kandidatur schlechtzureden.
Dabei war ihnen bei den Parlamentswahlen im Oktober Historisches gelungen: Verdoppelung des Wählerinnenanteils, Verdreifachung der Bundeshausfraktion. Auch in bürgerlichen Kreisen ist der grüne Anspruch auf Regierungsbeteiligung so gut wie unbestritten. Aber fast niemand in Bern hat ein echtes Interesse an einer grünen Bundesrätin – nicht einmal die vermeintlichen Verbündeten der Grünen: die Sozialdemokraten und, in der ökologischen Frage, die Grünliberalen.
Die Sozialdemokraten unterstützten Regula Rytz nur zögerlich. Erst als die CVP der Grünen-Präsidentin eine Absage erteilte und eine Wahl verunmöglichte, eilte SP-Präsident Christian Levrat zu Hilfe und gab sich in Interviews als lautstarker Wahlhelfer. Am Mittwoch wählten wohl nicht einmal alle SPler Rytz.
Die Grünliberalen waren – wie meistens – im Zweifel nicht grün, sondern bürgerlich: Sie hörten Rytz zwar an, liessen sich von Ignazio Cassis zu Kaffee und Gipfeli einladen und beschlossen dann – nichts. Unentschiedene Stimmfreigabe, wie schon beim Ständeratswahlkampf in Zürich. Fraktionschefin Tiana Moser gab sich gekränkt, dass die Grünen kandidiert hatten, ohne sich zuvor mit den Grünliberalen abzusprechen. Die brüchige Allianz zwischen den ökologischen Kräften wurde am Mittwoch nicht gefestigt. Im Gegenteil: Bei der Bundesratswahl erhielt Regula Rytz offenbar kaum Unterstützung von grünliberaler Seite.
3. Das Kartell: Die Macht der Gewohnheit
Mit einer grünen Bundesrätin von Gerhard Pfisters Gnaden hätte die CVP mit einem Schlag zur mächtigsten Partei in Bern werden können, zur Mehrheitsmacherin in Nationalrat, Ständerat und Bundesrat – und das trotz historisch schlechtem Wahlresultat. So versuchten die Grünen wenigstens die CVP-Parlamentarierinnen für sich zu gewinnen. Erfolglos.
Pfister versuchte derweil, den Druck auf die FDP hoch zu halten: um im Gespräch zu bleiben; um sich und seine Partei bis zum Wahltag umgarnen zu lassen; und um von FDP-Präsidentin Petra Gössi eine (am liebsten öffentliche) Zusicherung zu erhalten, dass der letzte CVP-Bundesratssitz nicht gefährdet wäre, würde man die FDP jetzt unterstützen. Erfolglos.
Die CVP-Fraktion verwehrte ihm derartige Machtspiele – weil sie sich auch nach über einem Jahrzehnt nicht mit ihrem Bedeutungsverlust abfinden kann, weil sie sich vor der konservativen Wählerschaft fürchtete, und vor allem auch, weil sie dem ohnehin schon sehr einflussreichen Parteipräsidenten einen Schuss vor den Bug geben wollte.
Nichts ist so bequem wie Stillstand. Und nichts so wirkmächtig. Alle wissen, dass die alte Zauberformel für den Bundesrat nicht mehr taugt. Trotzdem entscheidet sich das Parlament am Mittwoch für das Alte, für das Überholte, für die Gewohnheit. Das Ergebnis: ein Debakel für den Fortschritt.
Die Grünen bleiben vorerst in der Opposition. Die relevanten ökologischen Kräfte sind nicht in der Regierung vertreten. Aber ist das überhaupt so schlimm für die Partei?
Fast mantrahaft betonte die grüne Führung zuletzt die Bedeutung der Regierungsbeteiligung, dass man als Bundesratspartei einen grossen Informationsvorsprung besitze. Und sonst?
Wie viel Regula Rytz im Bundesrat in ökologischer Hinsicht hätte bewirken können, ist ungewiss. Ein Schlüsseldepartement wie das Umwelt- und Verkehrsdepartement hätte man der Grünen ohnehin nicht überlassen. Eher wäre Rytz im Aussendepartement gelandet, oder noch schlimmer: Man hätte das GSoA-Mitglied im Verteidigungsdepartement versenkt.
Parteiintern ist man jedenfalls auch ein wenig froh, dass die Bundesratswahl nun vorbei ist. Sie hat in den vergangenen Wochen viel Platz eingenommen und Kräfte beansprucht, die man anders hätte einsetzen können. Die grüne Bundeshausfraktion hat neu 35 Mitglieder, dreimal so viele wie in der letzten Legislatur. Einige Parlamentarier haben kaum politische Erfahrung, sie sind auf Unterstützung angewiesen. Ein Bundesratssitz hätte noch mehr Personal abgezogen.
Regula Rytz ist das Gesicht des grünen Wahlerfolgs, sie war die Kandidatin der Klimabewegung – die breite Unterstützung für Rytz und die Grünen wird nicht abklingen. Die Klimakrise wird sich in den kommenden Jahren verschärfen. Parteipolitisch ist die Opposition also ein guter Ort. Weil die Fraktion nun Zeit hat, sich zu konsolidieren. Und weil die Partei ihr Profil nun stärken und deutlicher von ihrer vermeintlichen Öko-Partnerin GLP differenzieren kann.
«Werden die Machtverhältnisse von gestern betoniert, oder werden die Weichen für die Zukunft gestellt?», fragte der grüne Fraktionschef Glättli am Mittwochmorgen vor der Wahl in eine Fernsehkamera.
Das Parlament hat sich für den Status quo entschieden. Für die Macht der Gewohnheit.