«Wenn die CVP jetzt an der alten Zauber­formel festhält, wird sie ihre Bundes­rätin verlieren»

Fraktionschef Balthasar Glättli fordert einen Bundesratssitz für die Grünen. Aber warum eigentlich, die Gesetze werden doch im Parlament gemacht? Ein Gespräch über Gestaltungs­willen, die Berner Zweiklassen­gesellschaft und eine faire Zauber­formel.

Von Carlos Hanimann und Daniel Ryser, 28.11.2019

«Die Einbindung der Grünen in den Bundesrat drängt sich definitiv auf»: Balthasar Glättli. Goran Basic

Es gibt Momente, da hilft nur noch Bier. Samstag­mittag ist so ein Moment. Zumindest für Balthasar Glättli, Fraktionschef der Grünen. Vor ein paar Minuten hat CVP-Präsident Gerhard Pfister in der «Samstagsrundschau» des Schweizer Radios bekannt gegeben, dass die CVP eine Bundesrats­kandidatur der Grünen-Präsidentin Regula Rytz mehr­heitlich nicht unterstützen würde – knapp zwölf Stunden nachdem Glättli und Rytz im Bundeshaus im Zimmer 106 gemeinsam vor die Presse getreten waren und der Fraktions­chef erklärt hatte, dass die Fraktion Rytz «per Akklamation» zur Bundesrats­kandidatin ernannt habe.

Glättli ist gerade unterwegs zum Treffen mit den Republik-Reportern, als er Pfisters Botschaft hört. Ein guter Moment für die Journalisten, ein schlechter Moment für Glättli. Die ersten Sätze auf die Frage, ob das Rennen schon gelaufen sei, liest der etwas über­rumpelte Glättli vorsichtig vom Smart­phone ab. Man arbeitet bei den Grünen in diesen Minuten offenbar noch an einer offiziellen Sprach­regelung.

Aber dann bestellen wir eine Runde Ittinger Klosterbräu, und Glättli entspannt sich.

Herr Glättli, ist das Rennen für die Grünen schon gelaufen?
Wenn es um Bundesrats­wahlen geht, kann ich Ihnen versichern: Nichts ist verbindlich. Es gehört zu den Dynamiken, dass sich ständig alles ändert. Klar hätten wir von der CVP-Fraktion gerne eine andere Antwort gehört. Aber letztlich sind solche Aussagen so verbindlich wie die eines Alkoholikers, der nach einem grossen Absturz sagt: «Nie wieder!»

Die CVP will Regula Rytz nicht einmal zu einem Hearing einladen.
Natürlich hat diese Entscheidung die Erfolgs­chancen nicht gerade potenziert. Die Frage ist: Hat die CVP Angst vor der Macht? Hat sie Angst vor mehr Einfluss? Ich glaube, diese Frage müssen sich ein paar Leute in der Partei erst noch stellen.

Wie meinen Sie das?
Wenn die CVP dafür sorgt, dass auch die Grünen im Bundesrat vertreten sind, wären die Christ­demokraten in beiden Kammern und im Bundesrat die entscheidende Kraft. Diesen Gestaltungs­willen lässt Gerhard Pfister regelmässig durchblicken. Er sieht die CVP nicht nur als Mehrheits­beschafferin, die mal den Rechten zum Sieg verhilft, mal den Linken. Sondern als eine Mittepartei, die eigene Konzepte entwickelt und dort Mehrheiten sucht, wo sie sich anbieten. Leider spürt man von diesem Gestaltungs­willen bei der Fraktion im Moment ziemlich wenig. Letztlich gibt es zwei Optionen.

Die wären?
Entweder: Die CVP hilft mit, dass der Bundesrat wieder einen grösseren Teil der Bevölkerung repräsentiert. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Seit der Erfindung der Zauber­formel 1959 war nie ein höherer Anteil der Stimm­berechtigten über­haupt nicht im Bundesrat vertreten wie heute. Mit Ausnahme des SVP-Timeouts nach der Blocher-Abwahl. Wir wollen, dass die drei gleich grossen Parteien FDP, CVP und Grüne mit je einem Sitz gleichmässig vertreten sind. Für ihre Hilfe bekommt die CVP Gestaltungs­einfluss im Parlament und im Bundesrat.

Und wenn die CVP nicht hilft?
Das ist dann die zweite Option. Wenn wir Grünen aus dem Bundesrat raus­betoniert werden, wenn man uns fern­hält, rechne ich in vier Jahren mit einem weiteren Zuwachs. Dann muss sich die CVP bewusst sein, dass wir in vier Jahren wieder vor ihr stehen und sie daran erinnern werden, dass sie es war, die nicht bereit war, die alte Zauber­formel zu erneuern. Sie wird auf die Strahl­kraft ihrer starken Bundes­rätin Viola Amherd hoffen müssen. Denn es wird kein anderes Argument mehr geben, warum die CVP weiterhin im Bundesrat vertreten sein soll. Wenn die alte Zauber­formel, auf die jetzt alle pochen, in vier Jahren noch gelten soll, müsste die FDP Hand bieten, die CVP aus dem Bundesrat zu werfen. Dann wird die CVP ihre Bundesrätin verlieren.

Zusammengefasst: Wenn die anderen die Grünen ausschliessen …
… und darauf pochen, dass die alte Zauberformel nicht verhandelbar ist …

… dann prophezeit Balthasar Glättli das baldige Ende der CVP im Bundesrat?
Ich kann nicht in die Zukunft schauen. Aber als Co-Wahlkampf­leiter der Grünen in diesem Wahl­kampf kann ich Ihnen sagen: Das werden wir nicht einfach so abhaken. Über 13 Prozent der Wählerinnen und Wähler in diesem Land haben uns die Stimme gegeben, weil sie uns in der Verantwortung wollen. Deshalb würde ich unseren nächsten Wahlkampf darauf ausrichten: Wenn ihr wollt, dass die Grünen auch in der Regierung mehr Einfluss haben, müsst ihr Grün wählen. Das wäre ein Novum. Wir Grünen haben noch nie mit der Bundesrats­frage argumentiert. Ich bin tief überzeugt, dass das bis jetzt richtig war. Man hat uns in erster Linie wegen des zentralen Anliegens der Klima­gerechtigkeit gewählt. Wenn die Leute jetzt merken, dass ein derartiger Erdrutsch­sieg, dieser Wille nach einer neuen inhaltlichen Gewichtung bloss dazu führt, dass sich das alte System hinter Beton­mauern zurück­zieht, sollten wir in vier Jahren sagen: Helft uns, dieses System aufzubrechen.

Sie sprachen vom mangelnden Gestaltungs­willen der CVP. Der Vorwurf mangelnden Willens traf dieser Tage aber auch Ihre Partei: Ist man nach den Wahlen vom 20. Oktober zu zögerlich aufgetreten, was die Bundesrats­ambitionen angeht?
Wir haben schon im Wahl­kampf die Bundesrats­frage nicht in den Vorder­grund gespielt. Das gilt auch weiterhin. Wir kämpfen in dieser Frage ja auch als David, nicht als Goliath. Wir treten gegen ein Macht­kartell an. Für die anderen ist es einfach: Wenn sich niemand bewegt, bleibt alles beim Alten. Vorerst.

Bereit für den Kampf um den Bundesratssitz: Grünen-Präsidentin Regula Rytz, für einmal nur aus Pappe. Goran Basic

Wenn Regula Rytz jetzt gewählt würde und es in vier Jahren wieder merkliche Verschiebungen gäbe – würde das bedeuten, dass wir in Zukunft alle vier Jahre eine neue Regierung bekämen?
Das Argument der politischen Stabilität ist nicht zu unter­schätzen. Das sage ich nicht nur als Mitglied der Staats­politischen Kommission. Das ist auch meine persönliche Meinung. Ich bin dagegen, dass alle vier Jahre abgerechnet wird. Aber ich habe das Argument der Stabilität geprüft. Wenn wir die Regierung schon früher nach der von uns geforderten neuen Zauberformel bestellt hätten – je zwei Sitze für die beiden grössten, je einen Sitz für die drei nachfolgenden Parteien –, dann hätten sich seit zwanzig Jahren keine Parteien-Rochaden ergeben. Denn wir sind seit 1987 die stärkste Oppositions­partei, die SVP seit zwanzig Jahren die stärkste Partei. Fakt ist: Hätte man die Grünen schon länger so im Bundesrat eingebunden, hätten sich in den letzten Legislaturen keine Änderungen ergeben. Die Regierung wäre stabil geblieben. Heute drängt sich die Einbindung der Grünen definitiv auf.

Ist die Einbindung in die Regierung denn so wichtig für eine Partei wie die Grünen? Steht die Verschiebung nach links im Parlament nicht im Vordergrund?
Die Stärkung von Links-Grün im Parlament ist sehr wichtig. Aber wer das Bundeshaus von innen kennt, weiss: Es gibt in Bern eine Zweiklassen­gesellschaft. Es ist entscheidend, ob man eine Bundesrats­partei ist oder nicht. Man wirft uns Grünen immer wieder vor, wir hätten uns gewehrt gegen einen zweiten SVP-Sitz im Bundesrat. Das stimmt. Und der Vorwurf hat etwas für sich. Ich sass zwar damals nicht im Parlament. Aber ich kann nicht bestreiten: Ich hätte Blocher nie gewählt. Trotzdem kann man die Geschichte so nicht vergleichen. Denn es ist eben ein riesiger Unterschied, ob man einen oder zwei Sitze hat – oder ob man eben einen oder gar keinen hat.

Können Sie das ausführen?
Nur ein kleines Beispiel: Vor den Sitzungen des Bundes­rates erhalten alle akkreditierten Journalistinnen und Journalisten am Vortag eine Mail, worüber der Bundesrat diskutieren und informieren wird. Wir als Nicht-Bundesrats­partei kriegen diese Mail nicht. Die Journalisten in diesem Land werden besser behandelt als die zukünftig viert­stärkste Partei. Das illustriert das System der Macht. Wissen über Prozesse und Abläufe ist extrem wichtig. Politik bedeutet Debatte und Diskussion. Und das hängt extrem stark mit der Frage zusammen: Who sets the stage? – wer setzt die Agenda? Wer weiss wann worüber Bescheid, um entsprechend handeln zu können?

Von Ihnen selbst stammt das Zitat, dass die Bundesrats­wahl zwar wichtig sei. Aber viel wichtiger sei die Arbeit im Parlament, die Themen der kommenden Legislatur.
Die Gesetze macht in diesem Land das Parlament. Nicht die Regierung. Natürlich kann die Regierung Gesetze vorschlagen. Das ist eine Gestaltungs­macht, an der wir als viertstärkste Partei beteiligt sein wollen. Aber abgerechnet wird im National- und Ständerat. Ob wir also eine bessere Klima­politik bekommen – das Kernthema unseres Wahlkampfs –, entscheidet sich etwa in Bezug auf das CO2-Gesetz tatsächlich in der Zusammen­setzung des Parlaments, nicht in der Zusammen­setzung des Bundesrats. Aber welche zusätzlichen Vorschläge er dann bringt, welche Antwort er etwa auf die Gletscher­initiative gibt, dieser Ball liegt beim Bundesrat.

Was steht für die deutlich gestärkte Grünen-Fraktion jetzt auf der Prioritätenliste?
Wir müssen das CO2-Gesetz unter Dach und Fach bringen. Und wir werden natürlich Anträge zur Verschärfung des Gesetzes liefern, denn es ist ungenügend. Mit den neuen Mehrheiten im Parlament kann man zudem davon ausgehen, dass zum Beispiel die Fantasie, das Rentenalter zu erhöhen, nicht erst durch ein Referendum beerdigt wird, sondern bereits im Parlament. Auch in der Gesundheits­politik könnten die Karten neu gemischt werden. Es hat einen erheblichen Einfluss, denke ich, dass gewisse Super­lobbyisten der Kranken­kassen, wie Heinz Brand, abgewählt wurden.

Im Vorfeld der Wahlen erhoffte sich die Linke einen Linksrutsch. Die Euphorie wurde durch die unerwarteten Verluste der SP stark gedämpft. Würden Sie trotzdem von einem Linksrutsch sprechen?
Ja. Die Verschiebungen sind das eine, ihre Wahrnehmung das andere. Wenn man das einstige Wachstum der SVP betrachtet: Sie hat bei ihrem Aufstieg den rechten Rand aufgefressen, die Schweizer Demokraten, die EDU. Es war also nur zu einem gewissen Teil ein organischer Zuwachs. Der Rest war ein grosses Aufsaugen. Deshalb spreche ich von einem Linksrutsch. Zwar wurde nach dem 20. Oktober viel über die Verluste der SP geschrieben. Die stehen aber in keinem Verhältnis zu unserem Zuwachs. Der Grössere hat ein wenig verloren, aber der Kleinere hat sehr viel gewonnen. Es war für SP-Präsident Christian Levrat womöglich eine angenehme Art, die eigenen Verluste zu relativieren, aber er hatte faktisch recht, als er sagte: Die Wahlen waren nicht einfach eine Sitz­verschiebung innerhalb der Linken, hier 4 Sitze mehr, dort 4 Sitze weniger. Die Linke hat diesen Herbst 14 Sitze dazugewonnen, während FDP, SVP und Rechtsaussen im Nationalrat 17 Sitze verloren haben.

Seit ihrer Gründung waren die Grünen immer eine Art Juniorpartnerin der SP …
… die kleine Schwester …

… das ist nun vorbei. Was bedeutet das für die Schweizer Linke?
Ich hoffe, dass diese Veränderung Fragen stärker ins Zentrum rückt, die im Kampf für mehr Klima­gerechtigkeit essenziell sind: Was hat Wohlstand mit Wachstum zu tun? Was ist eine Sozialpolitik, die nicht nur auf Wachstum und Verteilung der Produktions­gewinne abgestützt ist? Es geht auch um eine egalitärere Sozialpolitik. Die Grünen sind die einzige Partei, die das garantierte Grund­einkommen unterstützt hat. Diese Thematik war für mich seit meinen politischen Anfängen prägend. Als ich 1990 gefragt wurde, ob ich auf eine Grüne Liste kommen will, las ich im Partei­programm der Grünen erstmals von dieser Idee des garantierten Existenz­minimums. So war das damals noch aufgeführt.

Und die Umweltfrage?
Die war für mich schon wichtig, gab aber nicht den Ausschlag. Das Partei­programm führte mir erstmals eine andere Konzeption von Sozial­politik vor Augen. Eine Konzeption, die ich für eine grüne Linke als zentral empfinde. Wir reden erstens nicht mehr nur davon, wie wir die Produktivitäts­gewinne zwischen Kapital und Arbeit­nehmer verteilen. Sondern wir reden auch über Fragen von Zeit­autonomie, von Zeit­wohlstand. Davon, dass der Kampf um eine bessere soziale Grund­sicherung nicht einfach aufgehoben werden kann, indem man sagt: Wir haben ja unbegrenztes Wachstum. Denn das dürfen wir nicht haben. Zweitens reden wir darüber, was denn die Aufgabe von Sozial­politik überhaupt ist. Geht es einfach darum, einen Standard zu sichern? Oder geht es darum, ein Leben in Würde für alle zu sichern? Und zwar eines, bei dem der Begriff Würde wirklich ernst gemeint ist.