«Ich hatte die Rücktritts­rede schon vorbereitet»: Gerhard Pfister im Bundesratszimmer.

«Regula Rytz ist die richtige Kandidatin»

CVP-Präsident Gerhard Pfister gerät im Hinblick auf die Bundesrats­wahlen unter Beschuss von links und rechts und sogar aus der eigenen Partei. Ein Gespräch über den Sitzanspruch der Grünen, Rücktritts­gedanken und das komplizierte Verhältnis zur eigenen Fraktion.

Von Carlos Hanimann, Daniel Ryser (Text) und Goran Basic (Bilder), 05.12.2019

Das Handy ständig am Ohr, eilt Gerhard Pfister an einem kalten Montag im Dezember durch die Gänge im Bundes­haus. Die meisten anderen Parlamentarier stürzen sich nach dem ersten Sessions­tag am frühen Abend gierig auf das Wein­buffet, aber der CVP-Präsident hat jetzt keine Zeit, sich zu betrinken. Erst am letzten Freitag hat ihn NZZ-Chefredaktor Eric Gujer mit Blick auf die kommenden Bundesrats­wahlen in einem Kommentar als «nützlichen Idioten» der Linken bezeichnet, während SP-Präsident Christian Levrat gegenüber «Le Temps» wiederholte, was Grünen-Fraktionschef Balthasar Glättli zwei Tage zuvor in der Republik geäussert hatte: dass die CVP helfen müsse, Regula Rytz in den Bundesrat zu wählen und den amtierenden FDP-Mann Ignazio Cassis abzuwählen. Ansonsten werde sich das für die CVP in vier Jahren bitter rächen.

Ein Zangenangriff von links und rechts auf die seit Jahren immer wieder totgeschriebene Christ­demokratie: Gerhard Pfister trägt Schwarz an diesem Montag, das passt gut, denn wir sind gekommen, um mit ihm die CVP zu Grabe zu tragen. Oder vielleicht auch nicht. Zumindest nicht sofort. Eigentlich hatte sich Pfister nach den Wahlen zuerst fast als heimlicher Sieger gefühlt. Aber dann scheint ihm die Sache wegen der grünen Bundesrats­ambitionen entglitten zu sein. Deshalb wollen wir vom Zuger Nationalrat wissen, ob er seine Fraktion sehenden Auges in den Untergang steuere: von der Königs­macherin zur Königin ohne Land.

Herr Pfister, haben die Grünen Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat?
Egal wie man rechnet, man kommt zum Schluss, dass die Grünen die Kriterien numerisch erfüllen, um einen Bundesrats­sitz zu beanspruchen. Und tatsächlich ist der Anspruch von rechts auf vier Sitze im Bundesrat – oder konkreter: der Anspruch der FDP auf zwei Sitze – rechnerisch am schlechtesten abgestützt.

Ist Regula Rytz die richtige Kandidatin?
Ja. Es ist letztlich die Entscheidung der Grünen-Fraktion, die aus ihrer Sicht geeignetste Person vorzuschlagen. Wird nach einer seriösen Sicherheits­überprüfung jemand aufgestellt, dann ist diese Person meiner Meinung nach auch wählbar. Wir respektieren den Personal­entscheid der Grünen.

Sie sagen also: Die Grünen haben Anspruch auf einen Sitz. Und sie haben mit Regula Rytz die richtige Kandidatin.
Ja.

Dann wird die CVP Frau Rytz also doch wählen?
Nein.

Warum?
Ich habe schon befürchtet, dass dieses Gespräch für Sie mit einer Enttäuschung enden wird.

Nein, nein … Wir sind auch konservativ. Wir sind auf Ihrer Seite!
Hören Sie doch auf. Sie beide sind doch Vorzeige­linke. Waren Sie nicht beide bei der WOZ?

(senken verlegen den Kopf) Ja …
Eben.

«Wer sagt denn, dass der Freisinn in vier Jahren den Grünen hilft, ihren Sitz­anspruch gegen die CVP einzusetzen?»

Das heisst also: Die Grünen haben Anspruch auf einen Sitz, sie haben die richtige Kandidatin, aber die CVP wird sie trotzdem nicht wählen.
So ist es. Bei Bundesrats­wahlen gibt es eben noch eine andere Seite. Wir waren 2003 selber betroffen von der Abwahl einer Bundes­rätin. Wir finden das nicht richtig. Und der regionale Anspruch des Tessins muss ebenfalls berücksichtigt werden.

Und was ist mit dem Wählerwillen?
Zuerst müssen wir uns darüber verständigen, ob die anderen Parteien das mit der Konkordanz gleich sehen. Heisst Konkordanz, dass man die massgebenden Kräfte integriert? Vielleicht gibt es auch Parteien, die sagen, wir setzen bei dieser Zersplitterung in Zukunft auf ein anderes Modell mit Regierung und Opposition. Ziel der alten Zauber­formel ist es, 80 Prozent der parlamentarischen Kräfte im Bundesrat zu repräsentieren. Jetzt, nach dem Wahlerfolg der Grünen, erfüllt man dieses Ziel in der Tat nicht mehr. Genauso wie man 1999 den Anspruch der SVP nicht erfüllt hat. Aber auch 1999 war es keine grundsätzliche Absage.

Die Folgen von 1999 waren, dass die CVP vier Jahre später mit der Abwahl von Ruth Metzler einen Sitz im Bundesrat verloren hat. Wiederholt sich die Geschichte?
So schnell schiessen die Preussen nicht. Der am geringsten ausgewiesene Sitz­anspruch ist jener der FDP auf zwei Sitze. Und wenn man in der Lager­logik von Christian Levrat rechnet, hat die linke Seite mathematisch weniger Anspruch auf drei Sitze als die Mitte auf zwei. Diese von Levrat vorgetragene Lager­logik kann sich schnell auch mal gegen die Sozial­demokraten wenden. Levrat macht einen Denkfehler: Natürlich ist das rechte Lager mit den vier Sitzen übervertreten. Aber genauso wäre das linke Lager mit drei Sitzen übervertreten. Und wer sagt denn, dass der Freisinn in vier Jahren den Grünen hilft, ihren Sitzanspruch gegen die CVP einzusetzen? Diese Garantie hat Levrat nicht. Ich schlafe ruhig.

Das Rennen ist also für Regula Rytz gelaufen?
Ja, es ist gelaufen. Und die Grünen sind daran nicht unschuldig. Ich habe das Regula Rytz schon unter vier Augen gesagt: Wenn Sie einer anderen Partei einen Bundesrats­sitz entreissen wollen, dann braucht das sehr viel Energie. Blicken wir zurück auf das Jahr 2003: Die Kandidatur Blocher wurde schon am Wahl­sonntag kommuniziert. Und das hätten die Grünen eben auch machen müssen. Spätestens am Montag oder am Dienstag nach den Wahlen hätte Regula Rytz sagen müssen: «Ich verzichte auf den zweiten Wahlgang für den Ständerats­sitz. Ich setze mit vollem Risiko auf Bundesrat.» Dann hätte sie womöglich ein Momentum geschaffen. Stattdessen hat sie ihre Kandidatur zum spätest­möglichen Zeitpunkt bekannt gegeben. So funktioniert das nicht.

Die Grünen waren zu zögerlich?
Sie haben kein Momentum geschaffen. Denn es geht hier ja nicht um das Besetzen einer freien Stelle, sondern um einen Angriff auf einen bestehenden Bundesrat. Die Absage hat nichts mit der Kandidatur Rytz zu tun. Ich halte sie für sehr kompetent.

Kompetent, aber harmlos?
Nein, Regula Rytz ist alles andere als harmlos. Sie ist die perfekte Verkörperung von hart in der Sache und gemässigt im Ton. Ich meine das sehr positiv: Sie ist zielstrebig, sie weiss, was sie will, sie hat klare Ecken und Kanten, sie ist klar links profiliert, sie hat Führungs­erfahrung. Es passt eigentlich alles. Sie hat nicht meine politische Ausrichtung, aber daraus besteht ja die Konkordanz: dass Sie nicht sieben CVP-Bundesräte haben, sondern sechs von anderen Parteien.

Sie sind voll des Lobes für Frau Rytz. Und nennen nicht einen plausiblen Grund, warum Sie sie nicht wählen.
Doch, das tue ich.

Sie meinen die Gefühle eines Kantons, die nach dem Rücktritt von Flavio Cotti zwanzig Jahre lang allen ziemlich egal waren?
Man respektiert den verfassungs­mässigen Anspruch des Tessins auf eine regionale Vertretung. Ausserdem hat die CVP mit der Abwahl von Bundes­räten bittere Erfahrungen gemacht.

Balthasar Glättli hat Ihnen im Gespräch mit der Republik unterstellt, dass Sie Angst haben vor der Macht. Stimmt das, Herr Pfister?
Blödsinn. Das ist eine Rhetorik, die Herr Glättli bedienen muss. Er positioniert sich als Oppositions­partei, da muss er so reden.

«Vor dem 20. Oktober hätte niemand darauf gewettet, dass die CVP als einzige Bundesrats­partei vergleichs­weise stabil bleibt.»

Sie können nicht abstreiten, dass Sie vor zwei Wochen in einer viel stärkeren Position waren. Balthasar Glättli droht mit Abwahl in vier Jahren, SP-Präsident Christian Levrat ebenfalls. Ähnliche Drohungen kommen jetzt auch von rechts, von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer.
Die Eigenheit von Bundesrats­wahlen besteht darin, dass Sie als Partei bestimmen, ob und welche Leute der anderen Parteien im Bundesrat sitzen sollen. Aber Sie können nie selbst bestimmen, ob und welche Leute Ihrer eigenen Partei im Bundesrat sitzen. Ihre eigenen Sitze hängen immer von den anderen Parteien ab. Wenn also die FDP in vier Jahren beschliesst, den Grünen einen Sitz im Bundesrat auf Kosten des einzigen Sitzes in der Mitte zu geben, dann können wir das bedauern, aber viel mehr können wir nicht tun. Das hat man nicht in den eigenen Händen. Also mache ich mir lieber Gedanken über Dinge, die ich selbst in der Hand habe.

Gibt es zwischen der Fraktion und Ihnen unter­schiedliche Auffassungen darüber, wie man mit den Grünen umgehen soll?
Nein.

Glauben wir Ihnen nicht.
Die Fraktion sagt klar, dass man den Sitz­anspruch der Grünen diskutieren muss, aber dass man ihn jetzt und so nicht erfüllen kann und will. Es ist mittlerweile ein offenes Geheimnis, dass ich die Kandidatin Rytz zu einer Anhörung eingeladen hätte, was die Fraktion dann nicht wollte. Ich dachte, das sei eine Formalität. Als Blocher 2003 den CVP-Sitz angegriffen hat, haben wir ihn ja auch eingeladen. Letztlich wollte die Fraktion, dass alle wissen, wo wir stehen. Man wollte ein klares Signal senden. Und das haben wir getan.

Wir interpretieren den Vorgang anders.
Wie?

Sie sind ein Stratege und Macht­politiker. Sie kennen die Abläufe in Bern sehr genau. Sie denken voraus. Das Problem ist: Ihre Schäfchen folgen Ihnen nicht.
Natürlich hat sich das Präsidium weiter­führende Gedanken gemacht und der Fraktion verschiedene Optionen vorgelegt. Unter anderem, dass der nächste Schritt der Grünen tatsächlich sein könnte, was Glättli inzwischen auch angekündigt hat: der Angriff auf den CVP-Sitz. Und wer garantiert uns, dass die FDP in vier Jahren, wenn es ihnen vielleicht an den Kragen geht, nicht plötzlich sagt, jetzt nehmen wir der Mitte den einzigen Bundesrats­sitz weg?

Sie haben vergessen, Ihre eigene Fraktion in Ihre Überlegungen einzubeziehen.
Wir haben die verschiedenen Optionen und die langfristige Strategie intensiv diskutiert. So hat mir die Mitte­fraktion auch den Auftrag gegeben, mit allen anderen Fraktionen die Weiter­entwicklung der Konkordanz anzugehen. Es ist wichtig, sich zu erinnern, dass vor dem 20. Oktober niemand darauf gewettet hätte, dass die CVP als einzige Bundesrats­partei vergleichs­weise stabil bleibt. Das ist nicht selbstverständlich. Wenn wir fünf Sitze verloren hätten, wäre ich noch am Wahl­sonntag zurückgetreten.

Sie dachten an Rücktritt?
Ich hatte die Rede schon vorbereitet. Aber es kam anders.

Jetzt sind Sie wegen der Abwahl von Filippo Lombardi vorübergehend Partei­präsident und Fraktions­chef. Sind Sie den eigenen Leuten zu mächtig geworden?
Es ist schon möglich, dass die Fraktion mit der Nicht­einladung von Rytz ein Zeichen setzen wollte: dass der Präsident nicht glaubt, er könne jetzt einfach alles machen. Gerade deshalb ist es mein Wunsch und die explizite Erwartung an die Mittefraktion, dass sie eine starke Persönlichkeit an ihre Spitze wählt. Tatsächlich habe ich mich sehr stark engagiert und exponiert für die Idee und die Realisierung der Mitte­fraktion. Auch gegen internen Widerstand. Damit hat die Mitte vermeintlich an Macht zugelegt und vorder­gründig auch ich als CVP-Präsident. Und diese Wahrnehmung ist tatsächlich etwas, was ich meiner Fraktion austreiben muss, damit es sich am Schluss nicht rächt. Nicht nur in Bezug auf Bundesrats­überlegungen: Wir haben die Wahlen nicht gewonnen. Wir sind nicht zurück an den Töpfen der Macht. Unser Einfluss in Bern ist nur deshalb etwas gestiegen, weil wir ein bisschen weniger verloren haben als die anderen Bundesratsparteien.